Wachstum und Widerstand (Teil I) – Lernen mit Blick auf die Abwehrmechanismen

BLOG: Positive Psychologie und Motivation

Kognitives, affektives und psychosoziales Aufblühen in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung
Positive Psychologie und Motivation

Michaela Brohm

Eins beschäftigt mich: Nehmen wir an, Menschen wollten wachsen. Wie Bäume. Und weiter angenommen, dieser Selbstentfaltungs-Wille sei gattungsspezifisch[1] – wir wären so eine Art „homo crescens“; auf der Suche nach Wachstum und Entwicklungsmöglichkeiten; Trüffelschweinen gleich. Dann macht Lernen Sinn. Lernen ist dann der Sinn selbst – der Stoff, aus dem Erkenntnis ist. Daher sind die Schüler/innen in ihre Arbeiten vertieft, suchen nach Lösungen, Erklärungen, helfen, lesen, rechnen, musizieren, kommen freudenreich in die Stunde und gehen zu spät in die Pause; sie gehen darin auf, weil sie sinnvoll finden, was sie tun: Was für eine Utopie.

Oft ist es eher so: Der eine ist dauernd dagegen, die andere wirft was vor, der in der dritten Reihe droht mit irgendwas und Hans-Franz blödelt ständig rum, kommt zu spät oder gar nicht. Dann gibt’s da noch die Schweigenden, Unruhigen, Bagatellisierenden …. Das ist anstrengend. Und so sind wir beim Warum. Warum sind einige Schüler/innen so dermaßen kontraproduktiv? Eben nicht wie Trüffelschweine? Und verspotten so das humanistische Menschenbild der aufgeklärten Gesellschaften, welches auf sich entfaltende und entfaltete (mündige, Mund auftun!) Menschen setzt. Diesen Fragen will ich in diesem und dem folgenden Blog nachgehen.

Fangen wir beim Lernen an. Lernen ist Verhaltensänderung – oder Veränderung des Verhaltenspotentials. Also ein Wandlungsprozess. Diese Wandlung kann sich auf Individualebene, also motorisch, physiologisch, kognitiv oder emotional abspielen – oder eben auch strukturell in der Organisation (z.B. Lernende Organisationen).

Heftig wurden Wandlungsprozesse in der Arbeits- und Organisationspsychologie beforscht und die Forscher kommen oft zu dem Schluss, dass mindestens die Hälfte aller Reorganisationsprozesse am Widerstand der Mitarbeiter scheitern (Watson 1975; Doppler/Lauterburg 2001). Und dieser Widerstand gegen Veränderung äußert sich in aktiven oder passiven Abwehrroutinen:

Aktiv:

  • Gegenargumentation
  • Vorwürfe
  • Drohungen
  • Polemik
  • sturer Formalismus
  • Unruhe
  • Streit
  • Intrigen
  • Gerüchte
  • Cliquenbildung

Passiv:

  • Schweigen
  • Bagatellisieren
  • Blödeln, ins Lächerliche ziehen
  • Unwichtiges tun
  • Unaufmerksamkeit
  • Müdigkeit
  • Fernbleiben
  • innere Emigration oder
  • Krankheit (vgl. Doppler/Lauterburg 1995, S. 296).

Was hier als „Abwehrroutinen“ beschrieben wird, bezieht sich auf die aus der Psychoanalyse bekannten und in der Forschung bis heute unbestrittenen Abwehrmechanismen. Ein tieferer Blick lohnt sich: Spannend sind sie. Erhellend zudem.

Freud erklärte ja das Verhalten als Konsequenz der Aktionen des „psychischen Apparats“ (Freud 1923) im Menschen, der darauf aus ist, Lust zu erstreben und Unlust zu vermeiden und dreigeteilt daher kommt: als Es, Ich und Über-Ich.

Die zwei Grundtriebe des Menschen finden sich im „Es“, so Freud, nämlich

  • „Eros“ (Libidotrieb) – also alle Hoffnungen auf sexuellen Lustgewinn oder verlagerte  Lustbefriedigung z.B. im Essen, Trinken oder andere Bedürfnisse und
  • „Destrudo“ (Zerstörungstrieb) – also z.B. die Aggression gegen Menschen, Dinge oder sich selbst.

Beide Triebe können existenziell (oder nur unbewusst angenommen) gefährlich werden, weshalb sie vom „Ich“ und dem „Über-Ich“ streng bewacht werden.

Das „Über-Ich“ enthält die moralischen Werte und verinnerlichten Normen, also viele Ge- und Verbote, die meist in der Kindheit erlernt wurden. Hier hockt also der Aufpasser, der je nach Erziehung locker, mittel reglementierend oder eben auch sehr streng sein kann. Das Über-Ich dient als Leitlinie des Handelns und macht sich oft durch Selbstgespräche bemerkbar – manchmal als „innere Stimme“ im Tonfall von Vater oder Mutter.

Das „Ich“ hat nun einen harten Job: Es muss regulieren zwischen den Ansprüchen des „Es“ („Lust, Lust! Essen! Spaß!) und den moralischen Einsprüchen des „Über-Ich“ („Unmöglich! Unvernünftig! Das darfst du nicht!“). Nur wenn ein lebbarer Ausgleich zwischen beidem gefunden wird, bleibt die Psyche im Gleichgewicht.

Ist das „Ich“ übereifrig rigide, suchen sich die Bedürfnisse einen anderen Weg und können Neurosen und sonstige Störungen produzieren – wie Phobien, Angst- oder depressive Störungen, Zwangsstörungen, Belastungsstörungen, Antriebs-, Konzentrations- und Arbeitsstörungen, Sucht usw. …

Doch wie macht das Ich das, dass wir nicht jeder Lust sofort nachgehen? Warum springt der Schüler im Unterricht nicht auf (zumindest nicht immer), sagt „es ist mir hier echt zu langweilig, ich geh!“ und geht? Wegen der Abwehr.

Abwehr ist eine Methode des Ich, sich selbst und sein Bewusstsein vor Emotionen, Erinnerungen, Trieben, Wahrnehmungen, Traumata u.a. zu schützen – also „gefährliche“ innere und äußere Reize abzuwehren. „Die Abwehr setzt ein, wenn ein Reiz das innere Spannungsniveau im psychischen Apparat, das möglichst niedrig bzw. konstant sein soll, stört“ (Bayer, Lothar, 2014. Widerstand. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie). Die zentrale Aufgabe der Abwehrmechanismen sah Freud im „Schutz des ICHs gegen Triebansprüche“ (!) (Freud 1923).

Abwehr wird heute als meist unbewusste Form der Konfliktbewältigung durch das Ich gegenüber Es- und Über-Ich-Ansprüchen verstanden – also als Abwehr gegen zu viel Lust und Bedürfnisse („ich will gerne …“) oder zu viel verinnerlichte Moral oder Gewissen („du darfst aber nicht, du musst …“). Das Es strebt nach ungehemmter Bedürfnisbefriedigung, das Über-Ich hält mit seinem Gewissen und seinen Normen dagegen – und wenn die Spannung zur einen oder anderen Seite in der Psyche zu stark wird, kann es zur Abwehr der Bedürfnisse oder der starken Normen kommen: durch Idealisieren oder Abwerten, Intellektualisieren, Reaktanz zeigen – also z.B. das Gegenteil des Geforderten tun, Verdrängen, Regredieren (in frühere Entwicklungsphasen zurückfallen) Tagträumen und mehr.

Vieles davon findet sich in der Schule: Ja, angesichts der empirischen Befunde zu Disziplinproblemen könnte sich Unterricht als mustergültiger Abwehr-Ort entpuppen, an dem sich Lehrer/innen Tag für Tag abarbeiten. Doch dazu – und zum Licht am Ende des Schulflurs – im nächsten Blog.

 


[1] Hier ist nicht der von Heinrich Roth postulierte homo educandus – im Sinne des zu erziehenden Menschen – gemeint. Vielmehr stehen hier die selbstregulativen Prozesse im Fokus.

Prof. Dr. Michaela Brohm-Badry ist Lernforscherin an der Universität Trier mit den Schwerpunkten Motivation und Positive Psychologie, Autorin und Keynote Speaker. Sie ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung (DGPPF).

6 Kommentare

  1. Interessant , sieht aber nur den Einzelnen. Systemimmanente Gründe wie Normen , Repression oder Gruppendruck werden außen vor gelassen , sind aber essentiell wichtig , um obige Verhaltensmuster auch nur ansatzweise ausreichend erklären zu können.

  2. Ischt das denn richtig, was Freud postulierte? Hat der Mensch einen ‘Zerstörungstrieb’?
    Ist die binäre Unterscheidung zwischen ‘Ich’ und ‘Über-Ich’ angemessen?

    MFG
    Dr. W (der den Freudianismus für die Zwecke der Beschreibung, der Erklärung & der Prädiktion bisher nicht benötigte)

    • * Ist die tertiäre Unterscheidung zwischen ‘Es’, ‘Ich’ und ‘Über-Ich’ angemessen?

      MFG
      Dr. W (der nichts gegen eine Vorschau hätte)

    • “Ist die tertiäre Unterscheidung zwischen ‘Es’, ‘Ich’ und ‘Über-Ich’ angemessen?

      Das wäre auch meine Frage und ist denn überhaupt dieses Freudsche Modell in der Psychoplogie noch die vorherrschende Interpretation menschlichen Verhaltens?

      “Dr. W (der nichts gegen eine Vorschau hätte)

      ganz meinerseits, ….so kann man zwar anmerken, was einem fehlt, wie einige das tun, aber wozu, wenn das dann sowieso noch kommt…..

  3. Hier wird Widerstand von Schülern im Unterricht (um das geht es doch?) rein individualpsychologisch erklärt. Wir wissen doch aber alle, dass es beim Lernen in der Schule um eine höchst soziale Situation geht und dass Aufmüpfigkeit, Trotz und Widerstand in der Schule sehr viel mit dem Lehrer-Schülerverhältnis und der Rolle des Schülers im Klassenverband zu tun hat.
    Die oben genannten passiven Abwehrmechanismen Bagatellisieren,
    Blödeln, ins Lächerliche ziehen, Unwichtiges tun, Unaufmerksamkeit, Müdigkeit, Fernbleiben
    innere Emigration oder Krankheit
    machen beim Fernstudium via Internet kaum einen Sinn, sie sind nur als soziale Reaktionen und Interaktionen sinnvoll und erklärbar.
    Freuds upper class psychoanalysis kann sicher auch Aspekte des Schülerwiderstands und Lernwiderstands im allgemeinen erklären – Gruppenmechanismen und Autoritätskämpfe spielen aber wohl eine grössere Rolle.

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