Das große JA! Vier Schritte zu starkem Sinn-Erleben

BLOG: Positive Psychologie und Motivation

Kognitives, affektives und psychosoziales Aufblühen in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung
Positive Psychologie und Motivation

 

Michaela Brohm

Ist das was wir tun persönlich relevant, bereichernd und plausibel? Viele erleben ihr Tun anscheinend eher als sinnlos. Rund 20 % der Gesamtbevölkerung leiden, so der Begründer der Logotherapie Viktor Frankl bereits in den späten vierziger Jahren, an einer noogenen Neurose – also einer aus dem Geist entstehenden, mit Sinnverlust einher gehenden, nicht auf psychische oder physische Ursachen basierende Neurose. Eine Sinnlosigkeitsneurose sozusagen…

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Annähernd gleich hohe Werte fand auch seine Schülerin, Elisabeth Lukas, anhand einer österreichischen Stichprobe von 1969. Aktuellere Replikationsstudien kommen zu ähnlichen Befunden.

Dabei ist der Mensch ein genuin sinnsuchendes Wesen; ein Wesen auf der Suche nach Sinn, um es frei mit Viktor Frankl zu sagen. Sinndefizite sind demnach zentrale seelische Konflikte. Unerfüllter Sinn, oder auch falsch erfüllter Sinn führt zu „existenziellen Frustrationen“. Und „existenzielle Frustration“ – um in der Sprache Frankls zu bleiben – will abgewehrt werden – löst also die Abwehrmechanismen aus. Und mindestens genauso spannend: Heute wissen wir, dass Sinn zu empfinden ein wichtiger Baustein des Wohlbefindens, der Lebensfreude und Leistungsfähigkeit ist. Daher auch die verstärkte Beforschung im Rahmen der Positiven Psychologie.

Warum also verlieren Menschen dieses wichtige Sinnerleben? In Anlehnung an Alfried Längle zeigt die Psychologin Lieselotte Tutsch (2000) auf, dass der Sinnverlust begründet liegt in vier nicht vollzogenen Einwilligungen – in einem vierfachen verweigerten „JA!“:

  1. In die „Bedingungen und Möglichkeiten menschlicher Existenz (zu den inneren und äußeren Gegebenheiten, in denen der Mensch sich vorfindet), es fehlt ihm ein Ja zu (sic!) Welt, als Annahme des Vorgefundenen. Damit entzieht sich der Mensch die Basis der Wahrnehmung von Sinnmöglichkeiten. […]
  2. In das mit dem Leben verbundene Lebendigsein (als emotionales Berührtsein, welches sich nicht nur in positiven Gefühlen, sondern auch im Leid manifestiert), es fehlt das Ja zum Leben. Damit entzieht sich der Mensch die Basis für sein Erleben, für das gefühlsmäßige Angesprochensein von Sinnmöglichkeiten. […]
  3. In der Individualität und Abgegrenztheit der Person (zu sich in seinem Sosein), es fehlt ihm ein Ja zu sich. Damit entzieht sich der Mensch die Basis für die Wahl der eigenen Sinnverwirklichung. […]
  4. In die Herausforderungen und Angebote der jeweiligen Situation, in denen der Mensch steht (als Offenheit für das ihm zur Verfügung Stehende), es fehlt ihm sein Ja zum Sinn. Dadurch entzieht sich der Mensch die Basis für die Auswahl des Sinns aus der Vielzahl der Möglichkeiten“ (Tutsch/Drexler et al. 2000 S. 5).

Vier Schritte also: Das „Ja“ zur Welt, das „Ja“ zum Leben, das „Ja“ zu sich selbst, das „Ja“ zum Sinn. Das ist es, was das Sinnerleben erst ermöglicht. Ohne das – kein Sinn. Tutsch gibt auch einige spannende Hinweise, wie die Bejahungen wachsen könnten, nämlich auf dem Nährboden von

  • „Halt, Raum und Schutz“ als Basis des Sein-Könnens,
  • „Zuwendung, Nähe und Berührung, um das Leben in seiner Qualität als ‚Grundwert’ zu erleben“. Die Lebendigkeit des Leben-Mögens fühlen,
  • „Achtung, Wertschätzung und Anerkennung“ um sich selbst erkennen und selbst lassen zu dürfen – Selbstsein-Dürfen,
  • „Anziehung und existentielle Spannung, um das Wesentliche zu finden und zu verwirklichen – als Gewährleistung des wert- und sinnerfüllten Lebens (vgl. Tutsch/Drexler et al. 2000, S. 2).

Und auf der Grundlage können wir uns ernsthaft befragen:

  • Geben wir den Kindern und Jugendlichen in den Familien, Kindergärten und Schulen Halt, (physischen und psychischen) Raum und Schutz, damit sie Sein-Können?
  • Geben wir den Kindern und Jugendlichen genug Zuwendung, Nähe, also emotionale und körperliche Berührung, damit sie das Leben bejahen und Lebendigkeit spüren?
  • Geben wir ihnen Achtung, Wertschätzung und Anerkennung, damit sie sich selbst erkennen und annehmen?
  • Geben wir ihnen Anziehung und existentielle Spannung, um Werte und Sinn zu finden?

Also: Tun wir in den Familien, Kindergärten, Schulen was wir können, um Sinnerleben zu ermöglichen? Und was ist mit den Erwachsenen? Was ist mit deren Halt, Raum, Schutz, Nähe, Berührung, Achtung, Wertschätzung, Anerkennung, existentieller Spannung? Mehr von alledem auch im öffentlichen Raum wäre aus humanistischer Perspektive sicher wohltuend. Es würde Sinn stiften und „existenzielle Frustration“ im Sinne Frankls vermeiden helfen. Es wäre das große JA!

 

Literatur

Brohm, M./Endres, W. (2015): Positive Psychologie in der Schule. Weinheim/Basel. Beltz

Tutsch, L./Drexler, H./Wurst, E. (2000): Ist Sinn noch aktuell? In: Existenzanalyse 03/00. S. 1-13. http://www4.existential-analysis.org/fileadmin/4editors/dokumente/GLE-Int/Forschung/Ist_Sinn_noch_aktuell.pdf.

Website Brohm

Prof. Dr. Michaela Brohm-Badry ist Lernforscherin an der Universität Trier mit den Schwerpunkten Motivation und Positive Psychologie, Autorin und Keynote Speaker. Sie ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung (DGPPF).

12 Kommentare

  1. In GB hat man 2008 die Aktion ´The Five Ways to Wellbeing´ gestartet – mit 5 einfachen Regeln, um das Wohlbefinden zu steigern:

    Connect – with the people around you
    Be Active – exercising makes you feel good
    Take Notice – be aware of the world around you and what you are feeling
    Keep Learning – try something new
    Give – do something nice for a friend or a stranger

    Auch diese Tipps könnten vielen Menschen helfen, eine Sinnkrise zu vermeiden.

  2. Optimismus oder Zuversicht oder Weltbegeisterung ist leider nichts, das einen Schalter zum Einschalten hat – den ein Betroffener auch noch selbst bedienen könnte.

    O.k., das Umfeld ist ja angesprochen. Aber ich habe es ja erlebt:

    Meine Eltern waren dazu nicht in der Lage. Und für besonders einzigartig halte ich sie nicht.

    All die oben gelisteten nützlichen Eigenschaften haben eine Vorstufe:

    Hoffnung. Man muß sich aus dem subjektiv Gegebenen auch etwas erhoffen können. Sonst läuft nix.

  3. Ketzerisch, womöglich, gegengefragt:
    Wo ist der Kick beim ‘Sinnerleben’?`

    Ischt ja gar nicht so auf der Hand liegend, die mögliche Antwort; einige Gesellschaften kapseln den Sinn, recht erfolgreich, wie der Schreiber dieser Zeilen findet, im rein Theozentrischen, das die Vernunft zwar nicht ausschließt, aber als nachrangig erklärt, viele Primaten denken ja nicht gerne, möchten von Sinnfragen, die einem ‘Sinnerleben’ vorangehen müssten, verschont bleiben, oder?

    Insofern konkurriert der Sinn mit der individuelle empfindbaren Freude, die einfacher zu haben ist, zeitweise und temporär natürlich nur, konsumistisch sozusagen.
    Wo wäre ein allgemeiner (“gesellschaftlicher”) Nutzen von Sinnfragen, die ‘Sinnerleben’ erst ermöglichen?

    MFG + schönes WE,
    Dr. W (der natürlich hier nur eine Menge antizipiert, selbst auch “schon eher” Sinn sucht bis findet, gelegentlich natürlich nur – aber nicht die allgemeine Sinnsuche promovieren wird, jedenfalls die nächsten Jahre betreffend nicht)

      • Abär auch, wenn kein Sinn im Leben fehlt.
        Es ist vielleicht auch eher ein modernes Konzept, das entstanden ist, weil Sinn im Beruf gesucht wird.
        Wobei die eigentliche Frage ist:
        Was ist Sinn (sinnhafterweise)? [1]

        Es könnte auch alternativ sozusagen als Gute-Laune-Bär aufgetreten werden, sinnfrei.

        MFG
        Dr. W

        [1]
        ‘Sinndefizite sind demnach zentrale seelische Konflikte.’ stand im Artikel, was Sinn ist, nicht.
        OK, der Schreiber dieser Zeilen sollte hier vielleicht nicht allzu nagend werden…

        • Weiterbohren.

          Was ist der Sinn?

          Nach meinem Sinne…

          … sind die Dinge, wenn gut zu mir sind und wenns mir gut geht. So etwa das Mindeste an Sinnerfüllung im Leben.

          Also irgendwie subjektiv. Der Nächste sieht in Ansicht solcher subjektiv gesegneter Personen dann wieder wenig Sinn. Ihr Sinn steht Gleich und damit jedem Anderem seinen Sinn Entgegen.

          Man kann also wohl nicht alle Gleichzeitig zur Sinnerfüllung Therapieren. Da knüpft sich dann des Spezies (H.) und mein Schicksal an. Wenn der eine dem Anderen des Sinnes wegen im Wege steht, muß einer Weichen. Tausende Jahre bedeutete das Mord. Das soll sich heute geändert haben? Auf keinen Fall, oder?

          • Ihre Ausführungen zum “Sinn” sind für mich geradewegs die Parodie dessen, was im Artikel steht. Eigentlich beschreiben sie den real existierenden “Unsinn” zwischen den Menschen. Es stimmt, so läuft es eben oft ab.

          • einfach mal bei Wikipedia [Sinn des Lebens] nachlesen!
            Dort gibt es ein paar Anregungen zum Thema

          • @ demolog :

            Sinn entsteht erst einmal, wenn eine Sprachlichkeit bereit steht und Wörtern notwendigerweise Sinn (“Bedeutung”) zuzuweisen ist.
            Hier müsste es thematisch um den sittlichen Sinn gehen, in concreto um den individuellen, der unter anderem auch das Empfinden von Freude und Genugtuung meint, auch sozial ist, denn Zufriedenheit entsteht immer auch im Vergleich.

            Wie dieser Sinn gelehrt werden kann, bleibt eine spannende Frage, es ist jedenfalls gut, wenn sich hier welche, auch wissenschaftlich, beschäftigen und verlautbaren.
            Allerdings müssten dann breit gesellschaftlich Sinnfragen bearbeitet werden und ‘Sinnerleben’ trainiert werden – was womöglich unsinnig ist.
            >:->

            Früher haben die Religionen einen Sinnrahmen garantiert, was sehr entlastend gewirkt haben könnte, heute müsste Sinn gesellschaftlich sozusagen neu erfunden werden, ischt schwierig, angefangen werden könnte damit öffentlich zu erläutern, dass die Systeme, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend gesellschaftlich implementieren konnten, für Wohlstand sorgen, über bestimmte Subsysteme Einzelne absichern, wenn sie nicht mehr können (oder gar: nicht mehr wollen), OK sind.

            Dass es also OK ist jetzt und heute zu leben, insbesondere wenn die Primatengeschichte berücksichtigt wird, dass Bildung zu Zeiten der neuen Medien (gemeint immer: das Web) breit bereitsteht und dass diejenigen, die trotzdem unglücklich sind, “rübermachen” können, bspw. in die verbliebenen kollektivistischen Systeme (auch der sogenannte Islamische Staat ist ein kollektivistisches System, ein theozentrisches) & dass das Hierbleiben alleine als Beweis genügt, dass es hier so schlecht nicht sein kann, wie oft von einigen bejammert, bejault und (auch: im neomarxistischen Sinne) beschworen wird.

            Individueller sittlicher Sinn könnte natürlich besser von persönlichem Erfolg unterschieden werden heutzutage, korrekt.

            MFG + schönen Sonntag noch,
            Dr. W

          • PS:
            ‘Mehr von alledem auch im öffentlichen Raum wäre aus humanistischer Perspektive sicher wohltuend. Es würde Sinn stiften und „existenzielle Frustration“ im Sinne Frankls vermeiden helfen. Es wäre das große JA!’ klingt als Schlusssatz OK, wenn auch womöglich ein wenig Odie-mäßig, wobei auch das zitierte Mehr noch erörtert werden könnte und Viktor Frankl für die gemeinten gesellschaftlichen Zwecke vielleicht ein wenig zu verständig ist oder war.

  4. Genaugenommen schreibt die Autorin ja vom “Sinnerleben” etc. Es geht nicht darum, zu klären was der “Sinn des Lebens” ist, sondern was nötig ist, damit Menschen diese Frage gar nicht erst aus existentieller Frustration stellen, weil sie mehr oder weniger mit ihrer Existenz zufrieden sind, gemeint ist ein Ja zu Welt, zum Leben, zum Ich, zum Sinn in den Angeboten und Herausforderungen der jeweiligen Situation.

    Der Philosoph mag natürlich gerne nagend werdend.

    Typische Ersatzbetätigungen für Sinnerfüllung sind u.a. eine übersteigerte Hinwendung zu Karriere und Konsum. Sprüche wie “Anschlussverwendung finden” sind genau das, von dem hier m.E. abgeraten wird.

    • Na da tut man ja… reichlich reden (und wohl auch handeln). Integration und so. Teilhabe an Gesellschaft. Freilich durch Arbeit nur.

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