Bleibt der Blick auf das Gehirn leer? – Kritische Neurowissenschaften untersuchen Grenzen der Kognitiven Neurowissenschaften

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Kognitive Fähigkeiten und Gehirnprozesse des Menschen
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In den letzten Jahren hat sich ein neuer geisteswissenschaftlicher Bereich entwickelt – die sogenannten „Kritischen Neurowissenschaften“. Diese untersuchen die Transformationen des Wissens, welche durch die modernen Neurowissenschaften ausgelöst werden, und deren Grenzen. Auch der MPI-Blog möchte zu diesen Diskussionen beitragen.

Ich selbst leite am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften die Gruppe „Kognitive Neuropsychiatrie“. Dieser Wissenschaftszweig beschäftigt sich mit den neuropsychologischen Grundlagen von klinischen Symptomen, wie sie in meiner Arbeit als Psychiater häufig auftreten – wie z. B. Veränderungen der Persönlichkeit, der sogenannten Kontrollfunktionen, die uns ein flexibles Reagieren in neuen Situationen ermöglichen, oder der sozialen Kognition.

Neben dem Erklären dieser Symptome aus einer „Dritte-Person-Perspektive“, wie es heute in den Naturwissenschaften üblich ist, ist der Zugang zum Erleben der Person, zu ihrer „Ich-“ „ oder „Erste-Person-Perspektive“ von eminenter Bedeutung. Erlauben die zeitgenössischen Neurowissenschaften einen Zugang zu dieser Ich-Perspektive bzw. phänomenalem Bewußtsein? Oder findet sich hier eine Grenze?

In den letzten Jahren habe ich mich mit diesen philosophischen Fragestellungen befaßt und die Ergebnisse dieser Überlegungen in einem Buch publiziert („Die Industrialisierung des Gehirns – Eine Fundamentalkritik der Kognitiven Neurowissenschaften“). In der Analyse stütze ich mich auf eine Denkfigur aus der antiken Philosophie – das Aristotelische Prinzip der Selbstbewegtheit als Charakteristikum von Lebewesen. Warum verwende ich nicht Argumente aus der aktuellen Philosophie, insbesondere der sprachanalytischen Philosophie oder der Philosophy of Mind? Wieso greife ich auf wesentlich ältere Konzepte zurück? Aus meiner Perspektive reicht ein sprachanalytisches Konzept nicht zur Beantwortung der oben genannten Fragestellungen aus.

Aristoteles hatte die Frage nach dem Unterschied zwischen natürlichen (Lebewesen) und künstlichen (hergestellten) Dingen gestellt und diese mit einer unterschiedlichen Organisationsstruktur beantwortet. Während natürliche Dinge zirkulär organisiert sind, selbst Grund ihrer Bewegung und Veränderung sind, tritt an die künstlichen Dinge von außen ein bewegendes Agens heran – in der Regel der Mensch, welches Bewegung bzw. Veränderung an diesen Dingen bewirkt. Diese Konzeption drückt sich auch in der Bezeichnung der natürlichen Dinge im Griechischen als „physis“, was wörtlich „Wachsen“ heißt, bzw. der künstlichen Dinge als Künste, „techne“ aus, was noch im heutigen Begriff der Technik überlebt hat.

Obwohl uns die obige Konzeption noch zur Unterscheidung von lebenden und toten Dingen in einer Art „Alltagsphilosophie“ nachvollziehbar zu sein scheint, haben wir in unseren (natur-)wissenschaftlichen Ansätzen dieses Konzept vollständig verlassen. Die heutigen bildgebenden kognitiven Neurowissenschaften haben die Aristotelische Unterscheidung zwischen Natur und Kunst aus dem Blick verloren – sie streben danach, einen mentalen bzw. kognitiven Zustand herzustellen, um ihn zu verstehen. Dieses Verfahren wurde wesentlich durch Francis Bacon begründet, für den das Erklären eines Zusammenhanges mit dem Herstellen desselben identisch war.

In einer solchen Bacon’schen Konzeption fällt das wesentliche Kriterium von Lebewesen, ihre zirkuläre Organisation, aus dem Blick. Lebewesen und Maschine (aktuell am ehesten in der Metaphorik des Computers) werden in ihrer Organisationsstruktur ununterscheidbar. Wissenschaft in diesem Sinne muss, indem sie das Charakteristikum von Lebewesen verfehlt, auch deren spezifische Eigenschaften wie phänomenales Bewußtsein bzw. Erste-Person-Perspektive verfehlen.

Im Resultat muß die „positive Phrenologie“, welche viele kognitive Funktionen im Gehirn bereits verorten kann, von einer „negativen Phrenologie“, welche kognitionswissenschaftlich nicht zugängliche Phänomene umfaßt, flankiert werden. Der Blick auf das Gehirn bleibt für diese Phänomene leer – wenn nicht eine Transformation des Wissenschaftskonzeptes der kognitiven Neurowissenschaften gelingt.

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Matthias Schroeter studierte Medizin und Philosophie und promovierte in beiden Fächern. Er leitet am MPI die Forschungsgruppe "Kognitive Neuropsychiatrie" und arbeitet am Universitätsklinikum Leipzig als Oberarzt an der Tagesklinik für Kognitive Neurologie. Sein Hauptinteresse gilt dem Verständnis der Grundlagen von sozialer Kognition und exekutiven Funktionen insbesondere bei neuropsychiatrischen Erkrankungen. Ausserdem beschäftigt er sich mit den Grenzen heutiger neurowissenschaftlicher Ansätze ("Negative Phrenologie").

5 Kommentare

  1. Zeitform

    Manche Fragen könnten dadurch gelöst werden, wenn man sich Gedanken darüber macht, in welcher Zeitform unsere Erfahrungen erlebt, im Gedächtnis abgespeichert und wieder erinnert werden – daraus läßt sich ableiten wie das Gehirn arbeitet und Bewusstsein bzw. eine Ich-Identität entsteht.

  2. Leserschaft des Buches

    Das Buch richtet sich an alle an Neurowissenschaften interessierten Leser. Insbesondere die Passagen zur Entwicklung, den Paradigmen und Grenzen der kognitiven Neurowissenschaften sind allgemeinverständlich gehalten.

  3. Empirische Wissenschaft

    “Selbstbewegtheit” ist ein unwissenschaftliches Konzept. Allem Anschein nach funktioniert unsere Welt — Abgesehen von der Quantenphysik — kausal. Sowohl “hergestellte” Dinge, als auch Lebewesen folgen den selben Naturgesetzen.
    Wer den Menschen oder andere Tiere von dieser Kausalität ausnimmt, widerspricht naturalistischen Annahmen und öffnet die Tür für Metaphysik und damit Willkür. Anstelle eines “Selbst” als Beweger, kann man nämlich ebenso ein “Fliegendes Spaghettimonster” als Beweger postulieren, da diese Entitäten nicht beobachtbar sind.

    In der Folge entstehen Diskussionen über nicht-empirische Konstrukte, die mehr Verwirrung stiften, als dass sie beim Verstehen der Welt nützen. Stattdessen liegt der Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens von Lebewesen in Informationen über deren Phylo- und Onotgenese.

  4. @ Henrik H

    Allem Anschein nach funktioniert unsere Welt — Abgesehen von der Quantenphysik — kausal. Sowohl “hergestellte” Dinge, als auch Lebewesen folgen den selben Naturgesetzen.

    Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis. Wissenschaftliche Erkenntnis ist immer nur vorläufig und mit wissenschaftlicher Methodik lassen sich nicht alle Beobachtungen in ein Naturgesetz pressen. Oder kommt jemand auf die Idee Friedensforschung im Physiklabor zu betreiben?

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