Zivilreligion (USA) zum Schauen – Von Martin Luther King jr. zu Barack Hussein Obama

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Auch um politische Körperschaften (wie Nationen) entfaltet sich ein religiöser Rahmen mit eigenen Ritualen, Erzählungen, heiligen Orten, Zeiten und Hoffnungen – von Jean-Jacques Rousseau als religion civile eingefordert, vom Soziologen Robert N. Bellah als civil religion, Zivilreligion zur analytischen Kategorie der Beobachtung erhoben. Der dynamische, religiöse Markt der USA hat die auch die politische Kultur des Landes tief geprägt und eine lebendige Zivilreligion mit verschiedenen, teilweise widerstreitenden Strömungen hervorgebracht. Einen faszinierenden Strang zivilreligiöser Erzählung, der von Martin Luther King jr. bis zum neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten Barack Obama reicht, möchte ich Ihnen aufzeigen.

Martin Luther King jr. – I have a dream (1963)

1963 trat der Pastor und Bürgerrechtler Martin Luther King jr. in Washington vor die größte Demonstration, die das Land bis dahin erlebt hatte: Bürgerinnen und Bürger demonstrierten gegen die Rassendiskriminierung. Der Stil der vielleicht berühmtesten Rede der Neuzeit ist eine dynamische, zivilreligiöse Predigt: MLK nimmt Bezug auf den heiligen Ort "im Herzen der Nation", spricht "im Schatten" von Abraham Lincoln, zitiert aus der Verfassung im Stile einer heiligen Schrift und endet mit einem Heilsversprechen, all dies unter der mehrfachen Anrufung Gottes, der alle Ethnien und Religionen zu Geschwistern erhebt.

Bitte beachten Sie auch, wie der Kommentator am Schluss sowohl den politischen Erfolg wie auch die Wahrnehmung Kings als "Moses" hervorhebt. Im gleichen Jahr erhielt der Prediger und Bürgerrechtler den Friedensnobelpreis.

Martin Luther King jr. – Die letzte Rede (1968)

Am 7. April 1968 hielt MLK in Memphis seine letzte Rede: Zuerst kämpferisch, dann nachdenklich einem weißen Mädchen dankend, die ihm zum Überleben eines Attentats gratuliert hat, schließlich wiederum die Verfassung zitierend. Und dann wird seine Stimme plötzlich brüchig und er nimmt die biblische Moseserzählung (aus 5. Mose, 34) auf: Demnach hatte Gott Moses nur erlaubt, das verheißene Land vom Berg Nebo aus zu sehen, nicht aber, es auch selbst zu betreten. Er stirbt und dem Volk Israel steht eine noch 40jährige Wanderschaft bevor. MLK spricht in Memphis davon, er habe keine Angst mehr, denn er habe "den Berggipfel" erklommen und von dort aus "das gelobte Land" gesehen, das er womöglich nicht erreichen werde, aber "wir als ein Volk". Am Tag nach dieser Rede wird Martin Luther King jr. ermordet.

Ab 1986 wird in den USA der Martin Luther King Day zu seinen Ehren begannen, jeweils am dritten Montag des Januar.

Barack Hussein Obamas Wahl 2008

40 Jahre nach der Ermordung des "symbolischen Moses" Martin Luther King jr. steigt in den USA das politische Fieber, die Hoffnung vieler, schließlich die Wahlbeteiligung: Wider alle Prognosen nimmt der Kandidat Barack Hussein Obama eine Hürde nach der anderen. Obwohl er sich selbst dagegen wehrt, weisen christliche Prediger inner- und bald auch außerhalb der afroamerikanischen Kirchen bald darauf hin: Die 40 Jahre sind verstrichen. Und tatsächlich geschieht es: Barack Obama wird als erster Kandidat mit (auch) afrikanischen Vorfahren* zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. 

Ach, und: Der nächste Martin Luther Day findet turnusgemäß am 19.Januar 2009 statt. Der historische Zufall (der in zivilreligiöser Sicht natürlich keiner sein muss), bestimmte den Folgetag, den 20. Januar, zur Amtseinsetzung des neuen Präsidenten.

Die USA und die Welt sind um eine eindrucksvolle, zivilreligiöse Mythologie reicher.

* Hinweis: Evolutionsbiologisch gesehen ist das natürlich verkürzt – alle Menschen stammen von afrikanischen Vorfahren ab, die vor 70.000 bis 100.000 Jahren über den Kontinent hinausgriffen und innerhalb weniger Jahrzehntausende die Erde besiedelten. Die dann entwickelten, unterschiedlichen Hautfarben stellen Anpassungen an klimatische und kulturelle Einflussfaktoren dar. 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

6 Kommentare

  1. Menschen brauchen menschlichen Messias

    Hallo Herr Dr. Blume,

    mit Interesse beobachte ich, wie immer wieder menschliche Führer zum Messias erhoben werden. Nicht nur bei den von Ihnen gezeigten Beispielen. Auch beim Lesen der Feldbriefe meines Vaters. Der hat an einem ganz anderen Heilsbringer, selbst dessen Sendung “geglaubt”. Und allein dabei wird mir deutlich, wie zweifelhaft doch die zivilreligiöse Mytholgie ist.

    Keine Frage braucht das menschliche Herz ein Vorbild mit zwei Beinen. Martin Luther King war greifbar, seine Worte gingen rein. Bewusst oder unbewusst bedienen sich berufen fühlende charismatische Menschenführer religiöser Begrifflichkeiten. Doch zweifle ich, dass Obama & Co., selbst wenn sie guten Willens sind, das menschliche Verhalten verändern können (was auch das Vorbild meines Vaters von sich dachte) zum Modell taugen und die Menschen zur gemeinsamen, zukunftsorientierten (=schöpferischen) Vernunft bringen können, echte Friedensbringer sind.

    Ich vergleiche das immer mit der Zeitenwende, wo der römische Augustus als echter Friedensmessias gefeiert in Konkurrenz zum Logos stand: Einer sinnstifendenen Vernunft allen natürlichen Werdens, in der die jüdisch-griechische Glaubensaufklärer (Christen) den wahren universalen Messias sahen.

    Und wenn ich beobachte, wie wir noch heute unser Herz an menschliche Vorbilder hängen, dann wird mir erneut klar, warum diese universale Sinngebung/der abstrakte philosophisch erkannte Logos allen Lebensflusses eine konkrete menschliche Gestalt brauchte.

    Bringen uns zivilreligiöse Mythologie weiter? Oder verweisen sie in vielmehr auf einen grenzübergreifenden Sinn, der hinter zivilen, wie religiösen Mythen steht?

    Be-sinn-lich Tage

    Und wenn

  2. @ Mentzel: Deutsche ZivilreligionLieber Herr Mentzel,
    herzlichen Dank für Ihren interessanten Beitrag – der meines Erachtens einen zentralen Punkt sichtbar macht: Wir ALLE sind eben geprägt von unseren jeweiligen, zivilreligiösen Traditionen.
    Nur Deutsche, vor allem der ersten Nachkriegsgenerationen, tendieren beispielsweise aufgrund der spezifisch deutschen Erfahrungen und Erzählungen dazu, charismatische Politiker reflexartig mit Adolf Hitler zu vergleichen (natürlich nicht gleich-, aber in Beziehung zu setzen) – wie Sie es, über den expliziten Rekurs auf Ihren Vater (!), mit dem neu gewählten US-Präsidenten gemacht haben. Umso besser ein Politiker Menschen begeistern kann, umso skeptischer werden wir Deutsche – im Gegensatz zu fast allen anderen Nationen dieser Erde.
    Niemand von uns entkommt den mythologischen Vorprägungen seiner Umwelt völlig, wir alle bewegen uns in zivilreligiösen Kontexten, zu denen wir uns verhalten. Der Blick auf die Zivilreligionen anderer Völker kann uns helfen, unsere eigenen Mythologien zu erkennen und konstruktiv zu durchdenken, wo nötig zu bearbeiten.
    Mit herzlichen Grüßen
    Michael Blume

  3. “Die dann entwickelten, unterschiedlichen Hautfarben stellen Anpassungen an klimatische und kulturelle Einflussfaktoren dar.”

    Welche Funktion erfüllt denn die “weiße” Hautfarbe?

  4. @Yoav Sapir — zur Hautfarbe …

    Menschen mit stark pigmentierter Haut können bei geringer Sonneneinstrahlung, z.B. in höheren geographischen Breiten, im Allgemeinen nur wenig Vitamin D bilden. Bei Menschen mit schwach pigmentierter Haut führt starke Sonneneinstrahlung zur Zerstörung des Vitamins Folsäure. Schwangere Frauen / stillende Mütter benötigen “viel” Vitamin D und Folsäure um gesunde Kinder gebären / ernähren zu können.

    Siehe zum Beispiel “Die Evolution der Hautfarben” in Spektrum der Wissenschaft, 6 / 2003, Link: http://www.spektrumverlag.de/artikel/829886

  5. @ Andresen, Huhn: Danke…

    …das waren ja traumhaft schnelle und inhaltlich weiterführende Reaktionen auf eine gute Frage! Danke, danke! 🙂

    Persönlich finde ich die Evolution der Hautfarbe(n) auch im Hinblick auf biokulturelle Wechselwirkungen sehr spannend: So haben die in eisigen Gefilden lebenden Inuit den dunklen Teint ihrer Vorfahren behalten – da sie über ihre Nahrung (Fisch) sehr viel Vitamin D aufnehmen konnten. Ein anderes Beispiel für die Interaktion von Natur und Kultur ist ja die Laktosetoleranz…

    Aber, huch, von Zivilreligion hat sich die Debatte jetzt wohl ein wenig entfernt… 😉

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