Wie viele Türken in Deutschland wählten 2015 die AKP von Präsident Erdogan? – Eine Leserfrage zu “Islam in der Krise”

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Es freut mich sehr, dass “Islam in der Krise” so intensiv gelesen, diskutiert und interpretiert wird! Ein schönes Beispiel ist ein Blogpost von Adrian Gillmann “Zur Laizität im 21. Jahrhundert” auf “Säkulares Zeitalter”. Zwei Leserfragen sind aber auch zu Seite 45 eingegangen, in der ich zu den türkischen Parlamentswahlen 2015 schreibe, dass angesichts der gesamten “Gruppe der Menschen türkischer Herkunft in Deutschland von etwa dreieinhalb Millionen Menschen” der “AKP-Wähleranteil von etwa 10 Prozent nicht mehr wirklich eindrucksvoll” aussieht. Eine Leserin und ein Leser wollten dazu mehr zur Datenbasis wissen. Gerne – eine tolle Chance, die Vorzüge des Mediums Blog zu zeigen! 🙂

Also: Nach den offiziellen Angaben der türkischen Agentur Anadolu wählten bei der zweiten Parlamentswahl 2015 570.000 Türkinnen und Türken in deutschen Konsulaten, davon 59,7 Prozent die AKP. Dies wären 340.000 Wählerinnen und Wähler der AKP – wobei einige Tausend möglicherweise auch noch in der Türkei selbst gewählt haben könnten. So kommen wir also auf die etwa zehn Prozent der Menschen türkischer Herkunft in Deutschland, die tatsächlich AKP gewählt haben.

Wieso so wenig? Nun, eine Mehrheit der Menschen türkischer Herkunft in Deutschland hat bereits durch Einbürgerung oder Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft, meist unter Verlust der türkischen. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2015 noch rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik. Auch davon sind nur die Erwachsenen (ab 18 Jahren) wahlberechtigt – und diese mussten sich, wenn sie an der Wahl teilnehmen wollten, dann eben auch noch konsularisch registrieren lassen. Dies haben weniger als die Hälfte der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland getan. Und von diesen Verbleibenden wählten dann auch – trotz der nationalistischen und anti-kurdischen Eskalation des türkischen Präsidenten – weitere 40,3 Prozent Oppositionsparteien.

Wahrnehmungen wie “60 Prozent der Deutschtürken haben Erdogan gewählt” sind also völlig daneben. Das AKP-Regime kontrolliert die meisten türkischen Medien, organisiert laute Demonstrationen und übt auch großen, einschüchternden Druck auf türkischsprachige Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien aus. Schon deshalb kann sich leicht der mediale Eindruck einstellen, die deutschtürkische Kultur werde von fanatischen Erdoganisten dominiert. Doch in der Realität ist das eine schrumpfende und alternde Gruppe, dominiert auch hier der “stille Rückzug”: Selbst unter jenen Menschen türkischer Herkunft, die noch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, nimmt nur noch eine Minderheit überhaupt an türkischen Parlamentswahlen teil. Die Lauten bestimmen zwar die mediale Wahrnehmung, doch tatsächlich überwiegt auch unter den Menschen türkischer Herkunft in Deutschland die leise Abwanderung aus den geschlossenen, türkisch-nationalreligiösen Moscheen und Milieus. Auch in der Türkei selbst wächst gegen alle Verhaftungen und Unterdrückungsmaßnahmen die Unzufriedenheit mit dem AKP-Regime.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

7 Kommentare

  1. Die Aussagen, die ähnlich auch bei fast allen anderen Wahlereignissen auftauchen, es seien nur soundso viele absolute Wähler gewesen, hinken immer so ein wenig. Wahlbeteiligung, Unentschlossenheit, Mobilisierung usw. sind schon auch Indikatoren einer Gesamtstimmung.
    Das Ergebnis des Referendums hat vor allem deshalb soviel Entsetzen ausgelöst, weil die meisten Progressiven äußerst naive Vorstellungen von den deutschtürkischen Mitbürgern haben. Da herrscht die Mär vom durch und durch aufgeklärten, ja geradezu guten Migranten vor, der dann tiefe Enttäuschung auslöst, wenn er es wagt, nicht diesen (erpresserischen) Erwartungen zu entsprechen.
    In der deutschtürkischen Communitiy gibt es schon immer einen faschistoiden Anteil, der übrigens oft eher einem sehr europäischen Nationalismus entspringt, als einem religiösen Fundamentalismus.
    Außerdem gibt es einen erheblichen Anteil unpolitischer Leute, die keinerlei Respekt haben vor ihren liberalen Mitmenschen in den Großstädten, gleich welcher Herkunft diese sind.
    Wer das nicht aus eigener Erfahrung kennt, hätte in der Vergangenheit zuhören können. Wollten aber die meisten nicht, daher ist so ein Wahlschock mal ganz heilsam.
    Auch weil das Abwickeln von überzogenen Erwartungen wiederum hilft, die Dinge von der anderen Seite her gerade zu rücken.
    Es sind mitnichten alle Türken und Moslems, die auf der faschistoiden Seite zu finden sind, es ist nichtmal die Mehrheit derselben, wie es dann wieder von rechts gerne behauptet wird.

  2. Als jemand der aus der türkischen Community stammt, kann ich nur davor warnen, den ohne Frage überbewältigen den Wahlerfolg der AKP unter den Deutschtürken kleinzureden.

    Auch wenn die Angaben alle richtig sind, stellt der Artikel in seiner Gesamtheit doch einen merkwürdigen Relativierungversuch dar, deren Motivation mir unerklärlich ist.

    Mit der gleichen Herangehensweise könnte man den Wahlsieg der Nazis (ich mag mich irren,11/1932, 29% bei einer Wahlbeteiligung von 80% darstellen. Ergebnis: Drei Viertel der Bevölkerung hat in der letzten freien Wahl des Deutschen Reichs nicht für die NSDAP gestimmt!
    Auch das ist richtig.
    Nicht wählen bedeutet eben Nicht, gegen das Wahlergebnis gewesen zu sein, sondern ausdrücklich das Ergebnis wie es kommt akzeptieren zu wollen.

    Ich weiß nicht ob Sie aus Angst, aus ideologischem Dogma oder Naivität vor der islamistischen Realität in Deutschland diesen Artikel geschrieben haben. Statt einer Anbiederung an türkische Islamisten, wünschte ich mir mehr Solidarität für die türkische Opposition unter den Islamisten leidet.

    • Lieber Herr Kaxa,

      oha, den AKP-NSDAP-Vergleich lasse ich jetzt mal unkommentiert; der inflationäre NS-Bezug ist ja auch so eine Erdogan-Spezialität…

      Die Motivation bei „Islam in der Krise“ ist ganz einfach: Ich will die empirische Realität hinter den medial notwendig verzerrten Islambildern zeigen. Ginge es nach diesen, dann würden fast alle Muslime 5 x täglich beten, Moscheebeiträge entrichten, Erdogan bejubeln und die Frauen allesamt Kopftuch tragen.

      Richtig ist aber das Gegenteil: Nur noch eine Minderheit der Menschen muslimischer Herkunft betet überhaupt noch regelmäßig, kaum 20% gehören einem Moscheeverband an und auch wenn sie sich überhaupt noch für türkische Politik interessieren, halten Sie vom türkischen Diktator oft ebensowenig wie von den buchstäblich überalterten Kemalisten. Gerade auch deshalb ist die große Mehrheit der erfolgreich Integrierten auch längst eingebürgert bzw. deutsch geboren.

      Und dass keine Relativierung der türkischen Opposition vorliegt, können Sie durch einen Klick auf den Link ganz am Ende des Blogposts überprüfen.

      So sehr ich Ihr Interesse an türkischer Politik emotional nachvollziehen kann, so kann ich Ihnen den wissenschaftlichen Befund doch nicht ersparen: Türkische Innenpolitik bewegt nur noch einen kleinen und weiter schrumpfenden Teil der Deutschen türkischer Herkunft. Die Türkei ist wichtig, aber nicht der Nabel der Welt. Erdogan pflegt hier ein ihm ergebenes, aber alterndes und schrumpfendes Milieu.

  3. Die türkischen Wahlergebnisse in Deutschland sagen ziemlich genau gar nichts aus über unsere Mitbürger mit türkischen Hintergrund.

    Zum einem, wie Sie richtig schreiben, die Hälfte darf gar nicht mehr wählen. Da kann man tendenziell von ausgehen, daß sie überwiegend ohnehin sehr viel weniger noch mit der Türkei im Allgemeinen, Erdogan im Besonderen am Hut haben als die andere Hälfte, denen das noch wichtig ist, eine türkische Identität zu behalten.

    Zum Anderem konnten sie ja nicht wie wir in der Grundschule am Straßenende wählen. Es gibt überhaupt nur 13 türkische Konsulate in Deutschland. Ein Wahlwilliger aus Wuppertal oder Solingen müßte sich also nach Köln oder Düsseldorf bemühen. Wer macht sich diesen Aufwand? Heißt, geringe Wahlbeteiligung nützt immer den Extremeren, so auch hier. Und dann hat da die AKP einfach auch viel gemacht mit Reisebuschartern u.ä. Klar kann man da mitfahren, mit den AKPlern einen heißen Tee und Gebäck genießen, und heimlich sein Kreuz dann doch nicht bei der AKP machen, aber will man das?

    Heißt, repräsentativ mögen vielleicht einzig die Berliner Wahl- und Referendumsergebnisse sein: Viele Türken vor Ort, wenige im weiteren Umland, die den Schnitt „versauen“ könnten. Und in Berlin gab es eine klare Mehrheit gegen das Reß es nicht.ferendum. Was man aber auch wieder nicht überbewerten darf; die Berliner Türken mögen auch schlicht urbaner, liberaler sein als die im Ruhrgebiet. Man weiß es nicht.

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