Wie viele Muslime gibt es noch in Baden-Württemberg? Erkenntnisfortschritte…

Selbstverständlich neige auch ich – wie wohl fast jeder Wissenschaftler – zu der Klage, auf wissenschaftliche Erkenntnisse werde zu wenig gehört, Öffentlichkeit, Politik- und erst Recht Medienschaffende würden sich ja gar nicht ausreichend interessieren und informieren usw. Ob Menschen überhaupt noch lesen?

Hörbuchaufnahme von “Islam in der Krise” bei acoustic-media, Freiburg. Foto: Michael Blume

Und, klar, gezielt ignorante Bücher wie der neue Anti-Islam-Sarrazin könnten einen leicht in Klagen über die dumme und gefährliche Ignoranz weiter Kreise ausbrechen lassen. Und dennoch mache ich einfach auch zu viele positive Erfahrungen, um mich der üblichen Einschätzungen anzuschließen. Ich treffe auf interessierte Leserinnen und Leser, die “Islam in der Krise” gelesen und weitergedacht haben. Ich spreche mit Kolleginnen und Kollegen aus Landes- und Bundesbehörden sowie aus der Politik, die schon sehr viel weiter sind als der Stand der öffentlichen Debatten. Und ich habe Journalisten wie Michael Weißenborn (StN) am Telefon, die über Wochen hinweg recherchieren, lesen und erst dann schreiben, wenn sie das Thema durchdrungen haben. Letzterer stieg über die nur vermeintlich triviale Frage “Wie viele Muslime gibt es in Baden-Württemberg?” in eine Artikelserie ein, in der er auch die statistischen Fallstricke erstmals beleuchtete.

Und so kann ich nun glücklich vermelden, dass endlich – und hoffentlich stilbildend – in einem populären Zeitungsartikel die wesentlichen Unterschiede aufgespannt wurden.

1. Die Zahl der Menschen muslimischer Herkunft wird in Baden-Württemberg auf etwa 820.000 Menschen, bundesweit auf eta 4,5 Millionen geschätzt. Diese Menschen sind ebensowenig einfach allesamt “Muslime”, wie alle Sachsen aufgrund ihrer Herkunft und der Weihnachtsfeiertage einfach “Christen” wären. Auch wenn in Islam, Judentum und Hinduismus die Religionszugehörigkeit mit der Geburt vererbt wird und keine zusätzliche Taufe und Gemeindemitgliedschaft bedarf – wie es im Christentum der Fall geworden ist -, so verbergen sich unter den Menschen muslimischer Herkunft doch sehr viele, denen die islamische Religion nur noch wenig oder gar nichts mehr bedeutet, die zu einer anderen Religion oder zum Atheismus bzw. Agnostizismus gewechselt sind – aber bislang kaum statistisch erfasst und ernstgenommen werden.

2. Davon zu unterscheiden ist die Zahl der bekennenden Muslime, also von Menschen, die auf Nachfrage ihre Religionszugehörigkeit als “Islam” benennen. Anteilsmäßig dürften dies in Baden-Württemberg etwa 600.000 Personen sein. Auch hierbei ist noch völlig offen, ob das Bekenntnis religiös oder “nur” kulturell gemeint ist, ob die betreffende Person in den vergangenen Monaten jemals gebetet oder gar eine Moschee betreten hat. Die Umfragen des vergangenen Jahrzehnts – von der Deutschen Islamkonferenz (DIK) bis zum Bertelsmann Religionsmonitor – haben die Befunde ergeben, wonach sich durchaus viele Menschen muslimischer Herkunft zum Islam “bekennen”, ihn aber tatsächlich immer seltener praktizieren. Regelmäßige Gebete, Gottesdienstbesuche, Kenntnisse etwa der Rezitation des Korans oder auch das Tragen des Kopftuches gehen in der zweiten und dritten Generation von zugewanderten Musliminnen und Muslimen anteilsmäßig deutlich zurück. Mottofrage: “Sie sind Muslimin? Aber das sieht man ja gar nicht!”

3. Laut DIK-Daten aus 2009 waren damals noch rund 20% der bekennenden Muslime auch Mitglieder muslimischer Verbände wie der DITIB, dem VIKZ oder dem bosnischen Moscheeverband. In Baden-Württemberg wären dies also etwa 120.000 Menschen. Sinnigerweise legen wir diese “strengste” Kategorie als Grundannahme für die offiziellen Zahlen von Christen und Juden an. Auch wenn sich jemand “privat” als Christ versteht bzw. von einer jüdischen Mutter abstammt, so werden in deutschen Statistiken doch nur jene Menschen als Christen oder Juden erfasst, die einer Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören und eine Kirchen- oder Kultussteuer bezahlen. In Sachsen werden also noch knapp über 20% der Bevölkerung als “Christen” gezählt, aber fast alle Menschen muslimischer Herkunft als “Muslime”.

Diese wissenschaftliche und statistische Schieflage ändert sich – langsam. Und so freute ich mich über die Ansage meines Kollegen, des Demografiebeauftragten Thaddäus Kunzmann (CDU): „Ich wünsche mir für die Zukunft verlässliche Zahlen.“ Nicht weniger klar war auch die Zusage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), es werde noch in dieser Legislaturperiode für die Deutsche Islamkonferenz „die Datenlage zu muslimischem Leben in Deutschland aktualisieren“.

Zwar schreiten eine öffentliche, ehrliche und wissenschaftlich begründete Kenntnis über den Islam und die Muslime nach meinem Geschmack noch immer zu langsam voran. Doch ich muss zugeben – sie schreiten voran.

 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

13 Kommentare

  1. Der Vergleich Christen-Muslime hinkt meiner Meinung nach gewaltig. Denn einmal gibt es keine muslimische Religionszugehörigkeit vergleichbar der christlichen Kirchenzugehörigkeit. Gäbe es diese bei den Christen nicht, und würde man erheben, wer denn tatsächlich den Glauben praktiziert mit Gebeten und Gotttesdienstbesuch, dann würden die Zahl der Christen in Deutschland aber sehr sehr klein werden. Also ist statistische Zahl der Christen durch die reine Kirchenzugehörigkeit stark überzeichnet. Würde man umgekehrt eine vergleichbare Zugehörigkeit zum Islam erheben, wären diese Zahlen sicherlich viel höher als die reine Zahl der praktizierenden Muslime, also 20%. Denn, obwohl nicht praktizierend, wird sich der Großteil als gläubig und sicherlich nicht konfessionslos bezeichnen.

    • @Martin Baur

      Verstehe ich Sie richtig? Sie würden im Religionsvergleich eine kostenpflichtige Mitgliedschaft niedriger gewichten als ein reines Lippenbekenntnis? 🤔

      Nach meiner Einschätzung können weder Staat noch Wissenschaft normativ entscheiden, ob z.B. ein bestimmtes Ritual oder Bekenntnis „religiös werthaltiger“ sei als eine regelmäßige Spende oder ein Mitgliedsbeitrag. Und wer wollte entscheiden, ob eine selten praktizierende Elternbeirätin „weniger christlich“ lebe als ein frömmelnder Mafiosi? Entsprechend sind m.E. verschiedene, religiös begründete Verhaltensdimensionen gerne vergleichend zu erheben und zu beschreiben.

      Gesellschaftlich und rechtlich relevant werden Glaubensüberzeugungen jedoch erst dann, wenn sie von Menschen in selbstorganisierten Gemeinschaften durchgeführt werden. Nur individuelle Glaubensüberzeugungen, von denen es auch in Deutschland sehr viele gibt, (Glaube an Gottheiten, UFOs, Einhörner, Geister etc.) wären m.E. von auf verbindlichen Lehren begründete Verbände und Religionsgemeinschaften zu unterscheiden.

  2. Ja, in weiten Teilen der Öffentlichkeit werden alle aus muslimischen Ländern Eingewanderten als Muslime und damit als Koran-Gläubige und im Islam Verwurzelte gesehen. Auch hier in den Diskussionen auf scilogs ist mir das schon aufgefallen, wenn selbst Gutmeinende davon sprachen, es gehe doch um die Religionsfreiheit und die müsse auch Muslimen zugestanden werden. Natürlich muss sie das, nur bedeutet das ja auch, dass auch aus muslimischen Ländern Eingewanderte das Recht haben ein Leben zu führen, dass sich nicht primär um den Islam dreht. Und genau das tun ja viele Eingewanderte muslimischer Herkunft, womit sie sich nicht von ansässigen oder eingewanderten Menschen christlicher Herkunft unterscheiden. So gesehen ist es auch ein Irrtum zu glauben, Deutschland unterstütze seine aus muslimischen Ländern Eingewanderte vor allem, wenn sie auf die Anliegen der muslimischen Verbände DITIB, VIKZ oder dem bosnischen Moscheeverband eingehe. Klar sollen diese Verbände eine Rolle spielen, doch sie repräsentieren lange nicht alle aus muslimischen Ländern Eingewanderte.
    Das Paradoxe ist ja, dass Muslime, die sich das Recht nehmen, anders zu leben und zu denken als von den muslimischen Verbänden vorgesehen oder die den Islam gar kritisieren auch hier im Westen Mühe haben bei den Menschen akzeptiert zu werden, die sich für Muslime einsetzen. Vorschnell werden sie in die rechte Ecke abgedrängt, einfach weil sie nicht mehr ins Raster passen.

  3. Ein Problem bei den Zahlen der Christen könnte noch das christliche Arbeitsrecht in Deutschland sein. Dadurch gibt es über eine Million Menschen in Deutschland (ich habe die Zahl 1,3 Millionen gefunden), denen es schwer fallen dürfte aus der Kirche auszutreten. Daneben hat dies ja auch Wirkung darüber hinaus, da Arbeitnehmer im sozialen Bereich nicht nicht wissen können, ob sie nicht in Zukunft einen kirchlichen Träger als Arbeitgeber haben könnten.
    Dadurch wird zum Teil auch formale Mitgliedschaft als religionswissenschaftliches Kriterium entwertet.

    • @libertador

      Das Arbeitsrecht gilt selbstverständlich für alle religiösen und weltanschaulichen Organisationen, neben Religionsgemeinschaften auch humanistische Verbände (in BW KdÖR), Parteien, Gewerkschaften etc. Warum sollte dies also den Vergleich entwerten?

  4. Ihre Zahlen beziehen sich auf den Status quo, also auf die Gegenwart. Es ist sozusagen eine
    IST-Beschreibung. Zu einer wissenschaftlichen Analyse gehört für mich auch eine Trendbewertung
    (Ab wann und in welchem Zeitraum gibt es die muslimische Einwanderung bzw. wie wird sie sich in Zukunft entwickeln). Da diese Einwanderung weiterhin in ansehnlicher Höhe sein wird incl. den Geburtsstatistiken, sollte eine entsprechende Zahl auch für die Zukunft (2030/2050) hochgerechnet werden können.
    Solche Analysen vermisse ich im übrigen auch von der Bundesregierung.

  5. Zunächst einmal vielen Dank für die übersichtliche Darstellung der Zahlen, Herr Blume.
    Bezüglich der großen muslimischen Verbände erlebe ich in meinem Bekanntenkreis immer wieder, dass sich (nach eigenem Bekunden) gläubige Muslime bewusst von diesen distanzieren. Entweder sind ihnen die Verbände zu konservativ, zu politisiert, oder zu undurchsichtig, was die Finanzierung anbelangt. Auch etwaige Verbindungen zu ausländischen Staaten (Stichwort DiTiB) werden problematisiert und kritisiert.

    Bei einem Satz eines Bekannten bin ich besonders hellhörig geworden. Er meinte:
    ” Weißt Du, wann immer sich viele Muslime organisieren, kommt am Ende höchstwahrscheinlich was Schariakonformes heraus. Je mehr Mitglieder eine islamische Organisation hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine konservative Ausrichtung besitzt. Das steckt in uns drin, das kriegst Du nicht raus.”

    Für ihn ist klar, dass er seinen Glauben nur abseits der großen Verbände leben kann.

    Die muslimischen Verbände in der Statisktik komplett außen vor zu lassen, ist sicherlich falsch. Man sollte ihnen jedoch auch kein übermäßig großes Gewicht beimessen, oder sie gar mit kirchlichen Strukturen gleichsetzen – vergleichen darf und sollte man sie natürlich schon.

    • Volle Zustimmung, @UJ. Habe mehrere muslimische Bekannte, die ihre Kinder in keine Moschee mehr schicken, weil sie den Verbänden nicht (mehr) trauen.

      Und m.E. ist der Vergleich auch wichtig, um zu erfassen, welche verschiedenen Kategorien wir derzeit (noch) in einen statistischen Topf werfen. So sollte das m.E. nicht weitergehen.

  6. Natürlich wäre interessant, was DITIP dazu zu sagen hätte.
    Dort indes scheint man die Luken dichtgemacht zu haben.

  7. Ist denn an der Behauptung: je größer eine muslimische Organisation, desto konservativer ihre Ausrichung was dran, Ihrer Meinung nach?

    • @UJ

      Ein klares „Jein“. 😉 Einerseits sind konservative und fundamentalistische Gruppen tatsächlich – quer durch die Religionen – besser organisiert, durchschnittlich kinderreicher und auch einsatz- und spendenbereiter. Allerdings entwickeln sie sich auch: So gilt die indonesische NU als größte, zivilgesellschaftliche Organisation innerhalb des Islams, vertritt jedoch gemäßigte bis demokratische Positionen und fordert ein härteres Vorgehen gegen Extremisten.

  8. Hallo Herr Blume,

    diese Schwierigkeiten sind ja aus der Religionssoziologie wohlbekannt, Stichwort “religious affiliation”. In den USA haben Sie ein ähnliches Problem, da in der Wahrnehmung der Amerikaner jede Art von amtlicher Registrierung sowieso der erste Schritt zur Diktatur wäre und eine Kirchensteuer die USA in eine Theokratie verwandeln würde … Man verwendet dann zumeist den Kirchgang als ein wichtiges Kriterium. Und Ende der 1970er, wenn ich mich richtig erinnere, gab es dann einmal ein raffiniertes Forschungsdesign, wo man einerseits die Kirchganghäufigkeit über mehrere Wochen an verschiedenen Orten bei verschiedenen religiösen Gruppen erhob und gleichzeitig vor Ort nachzählte. Da gab’s teilweise ein enormes Over-reporting, speziell bei den Evangelikalen! Soviel zur sozialen Erwünschtheit.

    Ich halte es allerdings für etwas fragwürdig, die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus mit der in muslimischen Verbänden bzw. Vereinen gleichzusetzen. Das scheint mir doch von der Organisation und Bedeutung her etwas anders zu sein, man schaue sich nur das Vorhandensein bzw. die Bedeutung des Klerus an.

    Übrigens haben die Ahmadiyya-Gemeinden in Hessen (2013) und Hamburg (2014) als bisher einzige muslimische Gemeinschaften auch Körperschaftsstatus.

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