Wie gehen Sie eigentlich persönlich damit um? Digitalisierung und Emotionen an Beispielen

Die neue, digitale Medienwelt bietet viele Chancen, aber auch große Risiken. Und, nein, ich meine hier diesmal noch nicht einmal die Radikalisierung junger wie auch älterer Menschen in digitalen Blasen. Eher schon geht es um persönliche Erfahrungen im digitalen “Zeitalter der Falsifikation”, in dem alles und jede:r hinterfragt, aber auch attackiert werden kann.

Wie Medienrevoliutionen unser Miteinander und unsere Wahrheitsbegriffe verändern, erkunde ich gemeinsam mit Kolleg:innen und Studierenden am KIT Karlsruhe. Screenshot einer Vortragsfolie, Michael Blume

So wird heute Abend um 19:35 Uhr beim HR-Inforadio ein 25-Minuten-Podcast-Interview von Christoph Scheffer und mir ausgestrahlt. Digital ist es bereits abrufbar und wird auch eine ganze Weile online bleiben. Der vom Sender gewählte, nicht-gegenderte Titel: “Wir sollten Terroristen, Antisemiten und Rassisten nicht unsere Angst schenken.”

Und wenn Sie wollen, können Sie hören, wie der Journalist mich durch eine Vielzahl von Überraschungen und Wendungen führte – auch in Themen, mit denen ich zunächst nicht gerechnet hatte (die Verleihung des Friedensnobelpreises an Nadia Murad & die Gefühle dabei, zum Beispiel).

Das ist selbstverständlich völlig okay, ich fand das Interview insgesamt sehr gelungen – wenn man(n) mir manche Überraschung oder Emotion auch anhört. Aber ich möchte Sie bitten, sich einen Moment vorzustellen, was es bedeutet, wenn Sie wissen: Jeder Satz, den Sie vielleicht auch spontan sagen, wird nicht nur einmal ausgestrahlt (wie es im Radio war), sondern digital verfügbar und potentiell “ewig”. Wer es böse mit Ihnen meint, Ihnen schaden möchte, kann die ganze Aufnahme durchsuchen und eine vielleicht missglückte Aussage herausschneiden, vervielfältigen, skandalisieren. Der Grünen-Mitchef Robert Habeck hat eine solche Welle zu einer stotternden Minute um Julian Assange erst gerade erlebt – und sie kann ihm auch noch in Jahren vorgehalten werden. Das ist inzwischen Teil der digitalen und gelegentlich brutalen Realität geworden.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – es geht mir hier nicht um Mitleid. Sondern um das Verständnis des neuen Alltags. So habe ich mich sehr über eine Einladung von Pfarrer Ralf Sedlak zu einer Veranstaltung zu “Antisemitismus und Verschwörungsmythen” in seiner Kirchengemeinde im Aichtal gefreut. Doch wegen Covid19 galt auch hier: Kein Publikum, sondern Livestream. Jedes Wort und jede Regung in einer frühen “lokalen” Situation gehen heute in die digitale Halb-Ewigkeit.

Umso mehr habe ich mich über eine “klassische” Anfrage aus meiner eigenen Kirchengemeinde gefreut. Kirchengemeinderätin Katharina Schäfer und Pfarrer Andreas Streich baten mich, doch einmal als Christ für den örtlichen Gemeindebrief darüber zu schreiben, wie sich Christ:innen zu Verschwörungsglauben stellen sollten.

Das habe ich sehr gerne getan – den Gemeindebrief-Artikel zu “Verschwörungspsychologie und Seelsorge im Alltag” finden Sie als pdf hier. Denn in digitalen Zeiten bleibt nichts mehr lokal. Darin stecken große Chancen, aber auch neue Herausforderungen.

Wir können noch kaum erahnen, wie sich Licht und Schatten der Digitalisierung auf die gesellschaftliche, politische, auch religiöse und weltanschauliche Zukunft auswirken werden. Persönlich gehe ich offen damit um – hier jetzt auch auf diesem Blog – da ich glaube, dass wir diesen Prozessen ohnehin nicht ausweichen können, zumindest nicht als Personen des öffentlichen Lebens. Da erscheint es mir besser, darüber offen zu sprechen und zu reflektieren – als vorzuspielen, es wäre alles immer ganz leicht (bzw. chillig).

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

15 Kommentare

  1. Anregung :

    Micro Lessons (2-4 min. videos) wären aus diesseitiger Sicht OK, Dr. W hat stattdessen zuletzt auf “Blöcke”, sozusagen Giganten audiovisuellen Materials klicken dürfen, und ist hier recht schnell an gewisse Grenzen seiner Auffassungsbereitschaft gestoßen – diese “Micro Lessons” gerne nur ergänzend, neben den “Schwergewichten” Ihres Schaffens, Herr Dr. Blume, danke.

    • Ja, @Webbaer – lieben Dank! Als gegenseitige Ergänzungen sind die verschiedenen Formate gedacht. Sie haben je verschiedene Stärken und Schwächen und sind z.B. auch für Instagram oder Twitter unterschiedlich geeignet.

  2. Ergänzung zu Ihrer Folie: eine Medienrevolution haben Sie ausgelassen: den Übergang von der Schriftrolle zum Codex. Das machte die Bücher wesentlich haltbarer und fällt ganz auffällig mit dem Aufstieg und der Verbreitung des Christentums zeitlich zusammen. Das Christentum verwendete sehr früh den Codex, während das Judentum bei der Buchrolle blieb.
    Vielleicht gibt es hier einen Zusammenhang.

    • Das ist richtig, @j. Der Wechsel von der Rolle zum Codex war auch Thema im Antisemitismus-Buch. Auch z.B. die Einführung von Papier wäre erwähnenswert. Hat jemand eine Idee für eine umfassendere, grafische Darstellung? 💁‍♂️

  3. Hallo Herr Blume,

    Beim Buchdruck könnte noch erwähnt werden, dass die technische Revolution durch die beweglichen Bleilettern zu stande kam. Das Verbindene aller Sprünge ist aus meiner Sicht, dass man um Größenordungen nach oben skalieren konte).

    Zur Folie mit den Büchern von Luther etc. könnte man “Das Narrenschiff” erwähnen, dort wird ja das Problem schon zu dieser Zeit thematisiert. Medienkritik ist nichts Neues.

    Grüße

  4. @Michael Blume Vielleicht könnten Sie eine Darstellung wie Kondratieff für seine langen Zyklen verwenden oder die alternative Darstellung von Maslows Bedürfnissen , als überlappende Wellen.
    Noch ein technischer Hinweis: die Zahl der Kommentare, die auf der Eingangsseite angezeigt werden hinkt immer der Zahl der Kommentare, die freigeschaltetet sind, hinterher.

  5. Als junger Jugendlicher (80er Jahre) las ich gleich zwei Biografien über Adolf Hitler. Das Bedürfnis hierzu entstand erst recht einerseits durch die Tabuisierung und dass ich andererseits verstehen wollte, wie und durch was Hitler letztlich zu einem Extremisten werden konnte. Damals wurde uns eingetrichtert: Wenn Du ein Buch über eine bestimmtes Thema liest, lese auch ein zweites und vielleicht drittes.

    Im geschichtlichen Schulunterrricht widersprach ich einem Lehrer anhand konformen Aussagen in beiden Biografie und bin hierfür fast vom Gymnasium geflogen. Quintessenz war, dass ich seitdem den Ruf eines Jungnationalsozialisten hatte. Allerdings gab es auch zwei Lehrer (u. a. Deutsch) mit ausreichender Empathie, die mich in Schutz nahmen. Meine Eltern verteidigten mich damals ebenso unisono. Der Ruf haftete mir allerdings noch Jahre an. Zeitweise stürzten meine Noten sogar in den Keller. Zu Recht?

    Ich denke, in dieser Anekdote steckt viel Wahrheit, die auch heute noch gilt: lokal-konformistisches “borniertes” Denken, Unvermögen zu Empathie, Vorverurteilung selbst in gebildeten Kreisen und schließlich Brandmarkung (und Schadenfreude, siehe unten); aber auch, dass andere Menschen einem beistehen. Die Digitalisierung verändert an diesen menschlichen Verhaltensweisen rein gar nichts. Errare humanum est gilt auch heute noch. Für beide Seiten.

    Im einem konstruktiven Kontext sollte die Rechtfertigung lauten, dass man das Recht hat, sich durch Fehler, Falschinfomrationen oder unzureichendes Wissen weiter entwickeln zu dürfen. Erst recht im Zeitalter der Digitalisierung. In jedem Fall sollte man – und muss sogar – zu sich sowie seiner Überzeugung stehen und ggf. auch für andere eintreten.

    In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich seit einiger Zeit mit dem Ursprung der Schadenfreude, die wieder gross in Mode zu kommen scheint (vielleicht auch gerade aufgrund der Digitalisierung!), wie man sie in verschiedenen Epochen erlebte, wie man über sich dachte und was sich als empfehlenswertes Verhalten erbot und letztlich: Wie Schadenfreude
    im wissenschaftlichen Kontext gesehen wurde und heute behandelt wird.

    Während meinen Recherchen zu diesem Thema lernte ich Laura Dunham Kaplan kennen, eremitierte Rabbinerin der Or Shalom Synagoge (Vancouver, Kanada) und Direktorin f. Interreligiöse Studien an der Vancouver School of Theology. Durch sie (er-)lernte ich, in wie weit Schadenfreude in der jüdischen Wertvorstellung verankert ist. Ich möchte behaupten, dass kein Ereignis in den letzten Jahren derart erhellend war und mich positiv für die Zukunft stimmte, mich ein Stück näher an die jüdische und christliche Wertvorstellung brachte.

    Bei uns in der Familie gibt es ein Credo: Am Ende wird alles gut. Wenn nicht ist es nicht das Ende. Ich bin erst vor kurzem darauf gestoßen, dass diese Einstellung auf die jüdische Wertvorstellung zurück geht. Obwohl ich kein Jude bin (auch kein Christ, aber auch kein Atheist) stehe ich trotzdem zu 100% dazu und werde dies in entsprechender Weise vertreten.

    • Danke, @Martin Schmidt!

      Ich stimme Ihnen zu, dass sich die grundlegende Psychologie des Menschen nicht verändert hat. Genau darauf setzen jedoch digitale Medien auf: Beispielsweise kleine Belohnungseffekte, jederzeit erreichbar. Und umgekehrt kein Vergessen – würden Sie heute als „Jungnationalist“ bezeichnet, dann stünde es digital und buchstäblich weltweit.

      Als tragischen Fall dazu hatte ich Amanda Todd beschrieben, die auch durch Schulwechsel dem digitalen Mobbing nicht mehr entkommen konnte… 😔
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/das-selbst-und-der-selbstmord/

      Inzwischen hat YouTube ihr Abschiedsvideo entfernt…

      • Der Fall Amanda Todd verdeutlicht, warum der Umgang mit dem Internet oder der Digitalisierung erlernt werden muss. Genauso wie uns “damals” gesagt wurde, von Fremden nichts anzunehmen geschweigedenn zu Fremden ins Auto einzusteigen gilt es den möglichen Schaden, der durch unsachgemässen Umgang mit sozialen Medien entstehen kann, zu verdeutlichen. Viel wichtiger in der Erziehung oder Aufklärung ist jedoch, die Würde des Einzelnen zu betonen und das Recht auf (um nicht zu sagen die Pflicht zur) Selbstbestimmung zu fördern. Gerade weil es kein Menschenrecht auf Unbeschwertheit gibt, dies eine latente Bedrohung in der Umwelt impliziert, halte ich das im Fall Todd ausgesprochene Urteil (10 Jahre) für einen schlechten Witz. Es scheint als hätte man mit dem Urteil der Rechtmässigkeit des biologisch-vielfältigen Lebens Rechnung getragen, nicht jedoch der individuellen Gerechtigkeit genüge getan. Es sei denn, man sah eine Mitschuld bei der damals 16-Jährigen oder ihrem Umfeld.

        Nicht umsonst gibt es das Recht des Vergessens im Netz, welches in Deutschland auch vom BGH anerkannt wird. Allerdings gibt es Fälle, in denen das Persönlichkeitsrecht nicht ausreicht, um eine Löschung zu rechtfertigen. In Ihrem Falle würde ich davon ausgehen, dass aufgrund Ihrer Funktion Ihr Persönlichkeitsrecht nicht das Interesse der Öffentlichkeit überwöge und somit das Recht auf Vergessens nicht geltend gemacht werden könnte. Aber – das @Michael Blume, wissen Sie wahrscheinlich alles selbst am besten.

        Die Kehrseite ist: Gerade auf Ihrem Blog äussern sich auch Personen, die weder Ihre Meinung teilen, noch für Sie offensichtlich verständlich sind und sich dem Augenschein nach unbelehrbar zeigen. Sie selbst stecken diese Personen – wie ich finde: manchmal übertrieben schnell – in ideologische Schubladen und hören nicht auf, alles auf deren einfältige politische Einstellung zurück zu führen. Zum Glück gibt es die Anonymität, die hier reichlich benutzt wird. Auch ein probates Mittel, um “geschützt” zu sein. Ich betone dies nicht als Kritik sondern um aufzuzeigen, wie einfach es ist, jemanden ohne Absicht zu brandmarken.

        • Ja, @Martin Schmidt – die Vielzahl negativer Erfahrungen über die Jahre haben sicher dazu geführt, dass ich inzwischen deutlicher, auch angriffslustiger blogge. Zu oft habe ich erlebt, dass hier Freundlichkeit als Schwäche ausgelegt und gezielt Zeit vergeudet wurde. Gleichwohl packe ich Menschen nicht in unveränderliche Schubladen – mit vielen, wie hier @Wenbaer, gab es auch nach zeitweisen Sperrungen doch immer wieder die Rückkehr in den Dialog. Ich glaube, dass sich Menschen entwickeln und dass z.B. auch Verschwörungsmythen überwunden werden können – wenn die Verschwörungsgläubigen selbst es wollen.

  6. Digitale Halbewigkeit,
    entweder wir gewöhnen uns die Sprache der Politiker an, die mit vielen Sätzen nur wenig zu sagen haben um nicht auf Aussagen festgelegt werden zu können. Diese Praxis hat sich in den Medien schon durchgesetzt. Oder wir müssen ein Gesetz erlassen, das Auszüge aus einem Thema verbietet.
    Die digitalen Medien werden unser Kommunikationsverhalten verändern.

  7. @Blume
    wenn wir unterscheiden zwischen Form und Inhalt einer Stellungnahme, dann kann man beides, höflich und doch bestimmt.

    Mir fällt bei den benachbarten Blogs auf, dass jeder Mitkommentator sich eine andere Strategie zurechtgelegt hat.
    Es gibt die kurzsilbigen Stellungnahmen ohne Bezug auf den Adressaten und ohne Stichwort, die Meinung wird in den Raum gesetzt und mit einem Smiley versehen.
    Mit einer Suchmaschine sind solche Stellungnahmen schwer zu klassifizieren, sie ergeben erst im Kontext einen Sinn.

    Eine andere Möglichkeit , nicht festgelegt werden zu können, das sind die Sprachkünstler. Die bauen Schachtelsätze, (mit dem Prädikat am Schluss) , im ersten Teil wird die eine Meinung formuliert, im Mittelteil wird alles eingeschränkt und relativiert um dann im Nachsatz die gegenteile Meinung zu vertreten. Um so einen Satz verstehen zu können, muss man 3x lesen und ist dann immer noch nicht sicher, ob das so oder gegenteilig gemeint war.
    Der Schreiber bleibt dabei immer höflich und garniert seine Aussagen mit dem richtigen Fremdwort.

    Die dritte Gruppen, das sind die Emotionalen, die Stellung beziehen positiv oder negativ, auf jeden Fall emotional.

    Die Sachlichen, die machen eigentlich alles richtig, aber die laufen Gefahr nicht gelesen zu werden.
    Es bleibt also ein Ritt auf der Rasierklinge, sachlich richtig, unterhaltsam und auch noch höflich.
    Das gelingt nicht allen, was ja die Anzahl der Mitkommentatoren belegen.

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