Weltrechtsprinzip – Als Sachverständiger zum IS-Genozid am Ezidentum

Seitdem ich 2015/16 die Hitzemord-Folgen der Klimakrise im Irak direkt erlebte, versuche ich Menschen auch juristisch vor den menschenverachtenden Ideologien des Freund-Feind-Dualismus zu schützen, die gerade auch (aber nicht nur) vom sogenannten “Islamischen Staat” / Daesh vertreten werden.

Hier sprach ich beispielsweise mit dem orts- und kulturkundigen Journalisten Konstantin Flemig – dessen YouTube-Kanal ich sehr empfehlen möchte! – über die Erfahrungen in Kurdistan-Irak:

Ein Wort der Hoffnung, dass ich freilich ebenfalls in Kurdistan-Irak schätzen lernte, ist das Weltrechtsprinzip. In Staaten wie Deutschland, in denen dieses gilt, können bestimmte Straftaten wie Völkermord vor Gericht geahndet werden, wenn sich sowohl Opfer wie Täter von Verbrechen finden. So konnten auch Beteiligte am Genozid in Ruanda verurteilt werden.

Einige werden nun sicher fragen, ob das Weltrechtsprinzip etwa “kolonialistisch” sei, da es westliche Rechtsnormen auf andere Weltregionen anwende – und ob die bundesdeutsche Justiz nicht auch so schon genug zu tun habe.

Hier bekenne ich mich aber ganz klar als Vertreter eines dialogischen Monismus für die Menschenwürde aller Menschen: Wer dem Weltrechtsprinzip im Sinne des Relativismus vorwirft, “globalistisch” zu sein, argumentiert ja selbst mit einem globalen Vorwurf (wie “kolonialistisch”). Und wer das Weltrechtsprinzip im Sinne des Dualismus als Produkt einer “westlichen” bzw. jüdisch-christlichen Weltverschwörung denunziert, stellt sich auf die Seite von Terrormilizen wie dem sog. “Islamischen Staat” oder von Diktaturen wie China, Iran oder Russland.

Hinzu kommt, dass die Anwendung des Weltrechtsprinzips auch die Bundesrepublik schützt: Wenn Verbrecher wissen, dass sie in Deutschland vor Gericht gestellt werden können, werden sie seltener hierher kommen – oder gar vor ihren Taten die Folgen bedenken. Auch trägt die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Verbrechen dazu bei, dass die Gefahren des extremistischen Dualismus besser bekannt und manche Radikalisierungen gestoppt werden.

Deswegen entschieden mein Team und ich damals, bundesdeutschen Ermittlerinnen Zugang zu jenen Frauen und Kindern zu ermöglichen, die bereit waren, vor Gericht gegen die Täter auszusagen. Auch nahmen wir – in Absprache mit unseren kurdisch-irakischen Verbündeten – einen bundesdeutschen Staatsanwalt mit in den Shingal, wo er selbst die Verbrechensorte in Augenschein nehmen konnte.

Und ich stellte mich auch selbst als Gutachter und Sachverständiger zur dualistischen Ideologie des sogenannten “Islamischen Staates” zur Verfügung und habe bisher in drei Gerichtsverfahren – zuletzt in Frankfurt und Koblenz – ausgesagt. Zudem traf und unterstützte ich Rechtsanwältin Amal Clooney, die u.a. Nadia Murad gerichtlich vertrat. Und ich sage ehrlich: Leicht oder gar glamourös war und ist es nicht, sich wieder und wieder an Szenen, Tatorte und Aussagen von Opfern der extremistischen Gewalt zu erinnern.

Keine leichten Wege: Als Sachverständiger in einer Verhandlungspause vor dem Oberlandesgericht Koblenz. Foto: privat

Um keinerlei Ermittlungen oder Aussagen zu gefährden, habe ich mich in all den Jahren ungerne zu diesem Beitrag gegenüber der deutschen Justiz geäußert. Aber nachdem der deutsche Bundestag im Januar den Genozid am Ezidentum anerkannte, entsprach ich der Bitte der engagierten Podcasterin Michi Voth vom Nachgefragt-Podcast, hier die neue Folge:

Nachgefragt-Podcast-Folge 61: “Die Jesiden zwischen Genozid und Sprung in die Moderne“. Screenshot mfG: Michael Blume

Die Interviewerin Michi fragte dabei nach dem Genozid und auch dem o.g. Weltrechtsprinzip, hatte aber auch sehr viele Fragen zur Entwicklung und Zukunft des Ezidentums, das ja gerade (und weiterhin!) brutal aus seinen jahrhundertealten Siedlungsgebieten gerissen wird.

Viele Fragen zur Justiz wie auch zur Zukunft des religiösen Ezidentums im Podcast. Screenshot mfG: Michael Blume

Neben angenehmen Themen – wie der monotheistischen Theologie des Ezidentums, das längst zu Deutschland und Europa gehört – sprachen wir aber auch schwierige Themen wie die noch häufige Gewalt in Familien, ja auch sogenannte “Ehrenmorde”, meist Femizide, an. So verstehe & respektiere ich beispielsweise das auf Kasten basierende, endogame Ehesystem in der Minderheitensituation der islamisch geprägten Region – sehe dafür jedoch keine Zukunft in christlich geprägten und rechtsstaatlichen Demokratien. Junge, durch Bildung aufstrebende Menschen – und gerade auch junge Frauen – werden sich das Recht auf die Wahl der eigenen Liebesbeziehungen nicht nehmen lassen, oder aber auf Heirat und Kinder immer häufiger verzichten.

Dass auch in mündlich und kastenförmig organisierten Religionen innerhalb weniger Jahrzehnte Reformen möglich sind, hat das mit dem Ezidentum eng verwandte Alevitentum gerade auch in Deutschland längst bewiesen. So erlebe ich immer mehr engagierte, alevitische und ezidische Menschen, die auch aus ihren jeweiligen, religiös-spirituellen Traditionen heraus zu Demokratie und Mitweltschutz in Europa aktiv beitragen wie beispielsweise Prof. Jan-Ilhan Kizilhan, Düzen Tekkal, Nadia Murad, Mirza Dinnayi, Farhad Alsilo, Ardawan Abdi, Farida Abbas, Gohdar Alkaidy, Dr. Irfan Ortac vom Zentralrat der Eziden in Deutschland u.v.m. Sie und Tausende Weitere bringen unsere gemeinsame, deutsch-europäische Gesellschaft schon heute mit voran.

Was die häufige Frage nach der “Rückkehr” von Ezidinnen und Eziden nach Syrien, in den Irak oder in die Türkei betrifft, bin ich gleichwohl sehr zurückhaltend. Denn die Klima- und Wasserkrise in der Region eskaliert jeden Sommer weiter, immer größere Gebiete des eurasischen Gürtels werden unbewohnbar. Und religiöse und ethnische Minderheiten sind von der eskalierenden Hitzemord-Gewalt immer wieder besonders bedroht.

Falls Sie sich also ernsthaft um die Zukunft der Menschheit und insbesondere auch der ethnischen und religiösen Minderheiten sorgen, so habe ich eine konkrete Bitte an Sie: Reduzieren Sie unsere eigene Wasser-, Getreide- und Energieverschwendung, die wir mit jedem Kilo Fleisch aus industrieller Massentierhaltung befeuern. Pflanzenkost ist insgesamt viel gesünder und schont das Über-Leben unserer Mitwelt – und auch unserer eigenen Nachkommen. Auch eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft für bedrohte Völker mit Engagierten wie Kamal Sido unterstützt die Arbeit für verfolgte Minderheiten weltweit.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

4 Kommentare

  1. Ganz genau, Bro :

    Hier bekenne ich mich aber ganz klar als Vertreter eines dialogischen Monismus für die Menschenwürde aller Menschen: Wer dem Weltrechtsprinzip im Sinne des Relativismus vorwirft, “globalistisch” zu sein, argumentiert ja selbst mit einem globalen Vorwurf (wie “kolonialistisch”).

    Ansonsten ist nicht ganz klar, wie das Alevitentum dem Jesidentum nahe steht.

    Mit freundlichen Grüßen + einen schönen Tag des Herrn noch
    Dr. Webbaer

    • Danke, @Webbaer.

      Zum kurdischen Judentum & Ezidentum gab es ja bereits eine Podcast-Folge:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/verschwoerungsfrage-7-das-schicksal-des-kurdischen-judentums-ezidentums/

      Eine wunderbare Folge zur Entstehung des (auch stark kurdisch geprägten) Alevitentums bietet der o.g. Konstantin Flemig hier:

      https://youtu.be/e9ebAdk08es

      Falls es niemand anderes tut, werde ich über die Familienverwandtschaft von Alevitentum und Ezidentum selbst einmal schreiben. Danke für Ihr Interesse!

      • Vielen Dank für Ihre Reaktion, Herr Dr. Michael Blume, vielen Dank auch für die Texte, die einige sehr interessieren; der Schreiber dieser Zeilen hat jahrelange Kontakte zu Aleviten, ohne hier genauer zu verstehen, um was es da geht.
        Der “große Ajatollah” hat angeblich das Alevitentum der Schia zugeordnet, aber es gibt Besonderheiten, Dschihad und Scharia werden nicht gepflegt und auch ist das Verlangen von Aleviten sich im religiösen Sinne zu treffen, um ihre Gemeinschaft zu betonen, wohl eher weniger stark ausgeprägt.
        Explizit nette Kräfte gibt es ebenfalls, bspw. (ehemalige) Vorsteher der Alevitischen Gemeinde Deutschlands.

        Politischer Extremismus könnte in sozialer Sicht vorliegen, auch was die Stellung der Frau betrifft, abär viel genauer weiß es der Schreiber dieser Zeilen aus eigener Erfahrung nicht, außer dass nicht selten die “westliche” Gesellschaft abgelehnt wird, aber so tun auch andere Religionsgemeinschaften.
        Auch blieb ihm unklar, wie Alawiten mit Aleviten zusammenhängen, einige meinen ja, dass hier ein enger Zusammenhang besteht, was ja auch sein könnte, nicht fern zu liegen scheint.
        War Assad (der in Israel wegen seiner Velässlichkeit, was Verabredungen betrifft, geschätzt worden ist) und ist Assad junior vielleicht “in Ordnung” ?


        Dem ‘Weltrechtsprinzip’ hat der Schreiber dieser Zeilen nicht vorzuwerfen kolonialistisch, sondern vermessen zu sein.
        Insofern lehnt es auch der “Weltpolizist” (Geht dieser böse Begriff an dieser Stelle?) USA ab so teilzunehmen, Reziprozität ausschließend.
        Es macht so ja auch keinen Sinn durch Anklage und Urteil Feindschaften zu zementieren, wenn der andere doch übrig und letztlich auch Verhandlungspartner bleibt; einige Historiker merkten so auch an, dass Diktatoren und aus Sicht des “Weltrechtsprinzips” Verbrecher, ihre Herrschaft sozusagen bis zum Geht-Nicht-Mehr verteidigen müssen, um einer Anklage, einer Inhaftierung, dem Eingehen in einen internationalen “Rechtsvollzug” bestmöglich vorzubeugen, statt etwa problemlösend ins Asyl abdanken zu können.

        Ihnen noch einmal ein kleines lob, Webbaeren können auch loben, für Ihre auch hier erfolgte publizistische Arbeit!

        Mit freundlichen Grüßen
        Dr. Webbaer

        • PS :
          Dr. Webbaer versteht, wie Sie es meinen.
          Wird sicherlich nicht auf jedem Wort und jedem Satz herumreiten, sondern gegensätzlich auf einem sich (ihm) ergebenden netten und konstruktiven Gesamtbild nicht “herumreiten”.
          Sondern eben konstruktiv beizutragen helfen, in durchaus schwieriger Lage.

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