We remember 2025 – Meine Rede zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus in Stuttgart

Heute vor genau 80 Jahren wurde das KZ Auschwitz von Einheiten der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee befreit. Gemeinsam mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann und den Vorständen der Israelitischen Religionsgemeinschaften Baden und Württemberg beteiligte ich mich am Internet-Aufruf zur Erinnerung unter dem Hashtag #Weremember.
Gedenkpost auf Mastodon zu #Weremember am 27.01.2025. Screenshot: Michael Blume
Und in Vertretung des Ministerpräsidenten spreche ich heute Abend in Stuttgart zum Gedenken und entzünde mit einem Überlebenden des Holocaust eine gemeinsame Kerze.
Wie immer gilt das gesprochene Wort, doch stelle ich meine Rede hier als pdf-Dokument sowie als Blogtext online zur Verfügung.
Der Titel ist:
„Die digitale Ver-Wüst-ung & das Dennoch der Bibel“
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin Aras (Grüne),
liebe Muhterem,
sehr geehrter Herr Landesbischof Gohl,
lieber Ernst-Wilhelm,
sehr geehrte Bürgermeisterin Fezer,
liebe Isabel,
sehr geehrter Herr Abgeordneter Gehring (CDU),
lieber Christian,
sehr geehrter Herr Dr. Wiehe (erster L-Beamter LK Calw)
sehr geehrte Frau Waits und Herr Waits, (Ehrengäste aus Israel)
sehr geehrter Herr Pinsker und Familie, (Ehrengäste aus Israel)
sehr geehrter Herr Dr. Kahn, (Ehrengast aus Nagold)
lieber Thorsten Trautwein, lieber Frank Clesle,
liebe Barbara (Prof. Traub) und lieber Kantor Goldmann,
lieber Herr Rabbiner Puschkin und liebe Frau Puschkin,
liebe Maren (Steege), israelisches Generalkonsulat,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
als mich Ministerpräsident Winfried Kretschmann bat, ihn heute Abend hier zu vertreten und seine herzlichen Glückwünsche auszurichten, da musste ich tief atmen.
Und mein Herzklopfen nahm noch zu, als die Veranstalter von Zedakah mir die große Ehre antrugen, heute gemeinsam mit dem Überlebenden der Schoa, Arie Pinsker, die Kerze der Erinnerung hier in Stuttgart zu entzünden.
Denn ich gestehe, die Sorge drückt mich oft nieder und manchmal fällt es mir schwer, zuversichtlich zu bleiben.
Als ich 2015/16 im Irak an den frischen Massengräbern der Frauen, Kinder und Männer stand, die von der antisemitischen und islamistischen Terrororganisation IS / Daesh ermordet worden waren, da hatte ich einen Moment der Schwäche, in dem ich glaubte, dass wir als Menschheit dazu verdammt wären, dass sich Geschichte immer und immer wieder wiederholt.
Es war vor allem die langjährige Freundschaft mit Meinhard Tenné (1932 – 2015), die mich in diesem Moment wieder aufrichtete. Meinhard hatte Mutter und Schwester an die deutschen Nationalsozialisten verloren, war aber dennoch nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich auch als Vorstandssprecher der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) für unser Miteinander, für unsere Zukunft engagierte.
Bis heute gibt es mir Kraft, daran zu denken, dass wir – der Jude Meinhard, der Christ Michael und der Muslim Murat – im gemeinsamen Einsatz für den jüdisch-christlich-islamischen Trialog bald als „die drei M’s“ begrüßt wurden!
Ich dachte mir: Wenn Meinhard die Hoffnung für unser Land, für unsere gemeinsame Zukunft nie aufgegeben hat – welches Recht hätte dann ich dazu?
Und jetzt wissen Sie auch, warum ich direkt auf Barbara Traub zuging, als mich ein Verlag bat, ein Buch über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu schreiben. Im Irak sind im 20. Jahrhunderten seit den Farhud-Pogromen von 1941 durch einen mit Adolf Hitler verbündeten Großmufti alle jüdischen Gemeinden vernichtet worden. Wir aber haben das Glück und die Verantwortung, hier und heute gemeinsam gegen das Vergessen, gegen den Antisemitismus und gegen jeden feindseligen Dualismus einstehen zu dürfen! Diesmal lassen wir einander nicht im Stich!
Ich möchte Dir, liebe Barbara, daher heute von Herzen für Dein Vertrauen und das Vertrauen der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg und Baden danken. Wir fühlen mit Dir den Schmerz über das drohende Umkippen von Österreich in einen Neo-Faschismus und danken Dir und der IRGW für das zukunftsorientierte Miteinander!
Auch zur Wiederwahl zur IRGW-Vorstandssprecherin möchte ich Dir gratulieren, zumal Du jede Menge „M’s“ – Michaels – im Vorstand hast!
Dass ich heute aber auch etwas Inhaltliches sagen kann, verdanke ich der Bibel und unserem gemeinsamen Lehrer Lord Rabbi Jonathan Sacks (1948 – 2020), seligen Angedenkens.
Denn erst letzte Woche sprach ich zum 40jährigen Jubiläum des PKC, der wieder leuchtenden Synagoge in Freudental. Genau während meiner Rede traf die Nachricht von der Freilassung der ersten drei israelischen Geiseln aufgrund des Waffenstillstandes ein – und so beteten, lachten und weinten wir als jüdische, christliche, muslimische, anders- und nichtglaubende Menschen an jenem Tag gemeinsam.
Eine Rede zur Bedeutung der 40 Jahre erschien mir leicht, denn der Exodus unter der Anführerschaft von Moses hatte 40 Jahre gedauert, mit 40 dürfen Juden die Kaballah lernen und werden Schwaben weise und der bedeutende Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920 – 2015) hielt am 40. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom NS seine größte Rede.
Doch in einer grandiosen Auslegung von Rabbi Sacks zur Exodus-Geschichte („Why was Moses not destined to enter the Land“, Chukkat 5773), entdeckte ich, dass Moses bei seiner Sendung zum Pharao 80 Jahre alt gewesen sein soll!
Ja, ich habe auch gestaunt, denn es wird in den meisten Darstellungen gerne verschwiegen, steht aber eindeutig in 2. Moses 7, 7: Er trat wie geboten mit 80, sein Bruder Aaron mit 83 mutig vor den Pharao.
Was bedeutet aber nun diese 80?
Die Weisen lehren, dass Mosche 40 Jahre im Hause des Pharaos lebte und dort Stolz, griechisch-jafetitisch Thymos, lernte. Als er dann das Schlagen eines unterdrückten Hebräers sah, überwältigte ihn die durchaus gerechte Empörung und er tötete den Ägypter.
Nun aber hatte er weitere 40 Jahre in der Wüste unter Nichtjuden zu leben und mit seiner Frau Ziphora, seinem Priester-Schwiegervater Jethro und mit seinen Kindern Demut, Vernunft, griechisch-jafetitisch Logos, zu lernen: Erst dann war er bereit, sein Volk zu befreien und weitere 40 Jahre lang durch die Wüste zu führen, bis auch sie innerlich frei von der Knechtschaft des Pharao waren.
Mosche starb also mit 120 Jahren – dem biblischen Zeitalter der Vollendung – und doch gab es auch nach ihm keinen Frieden, sondern die dunkelsten Jahre und Texte der Bibel. Deswegen, so der große Rabbi Sacks, schreibe die Tora auch keine bestimmte Regierungsform vor – jede Generation von Juden und auch Nichtjuden stehe vor neuen Herausforderungen und müsse sich aufs Neue beweisen. „Leadership is a function of Time. – Führung ist eine Funktion der Zeit.“, so schließt der nach meiner Ansicht größte Religionsgelehrte unserer Zeit.
Und so stehe ich heute vor Ihnen und richte den Blick auf unsere gewählten Abgeordneten verschiedener, demokratischer Parteien. Ich bitte Sie und uns alle, dass wir uns nicht selbst in die Strudel des digitalen Freund-Feind-Dualismus hineinreißen lassen, dass wir niemals mit Antisemiten von rechts oder links gemeinsame Mehrheiten suchen, sondern dass wir zusammenstehen auch gegen die thymotische Empörungssucht, die von antisozialen Medien aus gerade große Teile der Menschheit vergiftet.
Und ich bitte uns alle, dass wir den Auftrag ernstnehmen, nicht zu glauben, wir sollten die „Vergangenheit bewältigen“, eine abschließende „Wiedergutmachung“ leisten oder gar einen „Schlussstrich“ ziehen. Darum geht es weder in der biblischen noch in der deutschen, europäischen und israelischen Geschichte.
Nein, unsere Aufgabe ist es, gerade auch von den Überlebenden des Holocaust das Licht der Erinnerung zu übernehmen und es weiterzugeben an unsere Herzen, an unsere Kinder und Enkel. Denn als vor 80 Jahren der ukrainisch-jüdische Major der Roten Armee, Anatoliy Shapiro, das Tor zum KZ Auschwitz aufstieß, da begann eine neue Zeit, an der wir alle nicht versagen dürfen.
In diesem Sinne werde ich die Kerze gemeinsam mit Arie Pinsker mit Demut entzünden. Und in diesem Sinne danke ich Ihnen, dass wir uns hier gemeinsam auf den Weg durch die Zeit der digitalen Ver-Wüst-ung machen und dabei nicht aufhören, einander und G’tt zu vertrauen!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und unser gemeinsames: Dennoch!
Der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz fällt in eine politisch außerordentlich unsichere Zeit. Ist unsere Erinnerungskultur noch stark genug, so dass die Lehren aus der Vergangenheit in der Gegenwart friedliches, mitmenschliches und demokratisches Handeln gewährleisten? Ich habe Zweifel.
Über diese 2×40 Jahre muss ich noch viel nachdenken.
Und die bedeutende Rede von Richard von Weizsäcker werde ich noch einmal lesen.
Vielen Dank, liebe @Elisabeth K
Ja, die Anspannung und Ernsthaftigkeit war der Veranstaltung anzumerken, hier steht ein Livestream (bzw. später eine Aufzeichung) parat:
https://www.papierblatt.de/
Für mich war es sehr wichtig, über die Begrüßenden hinaus viele liebe Freunde wie Freddy Kahn, Timo Roller, Gökcen Tamer-Uzun, Reinhold Boschki und Fahima Ulfat wieder zu sehen. Das gemeinsame Entzünden der Kerze mit Arie Pinsker, der im Alter von 13,5 Jahren ins KZ Auschwitz-Birkenau eingeliefert wurde und von seinem Überleben erzählte, werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen.
Die Altersangaben 40 und 80 verstehe ich persönlich als biblisch-mythologische und damit auch für Millionen sehr relevante Symbole. Im Kern scheint mir die biblische Geschichte insgesamt und insbesondere in Exodus (2. Mose) ein dialogisch-regeneratives Zeitverständnis auszudrücken: Die Zeit schreitet linear voran, doch wir müssen in jeder Generation neu auf die Herausforderungen reagieren, um nicht wieder abzustürzen. Moses befreite das Volk, doch es musste sich auch selbst von falschen Bildern lösen und bekam keineswegs alle Probleme für die Zukunft gelöst. Es gibt kein Anrecht auf einen linearen Fortschritt mit jährlichem Wirtschaftswachstum, sondern “Das Leben ist ein Test.”, wie es der Rapper Ben Salomon in seinem Song “Es gibt nur Einen” so prägnant fasste.
Selbstverständlich hatte ich auch diese Rede nicht einfach abgelesen, sondern mich dual vom Redeskript aus auf die Anwesenden und die Situation eingelassen.
Vielen Dank für Dein Interesse und herzliche Grüße!
“…,da begann eine neue Zeit, an der wir alle nicht versagen dürfen”
Das ist sehr treffend gesagt. Wenn ich hieraus
zitieren darf:
Ich glaube nicht, dass Aufklärung allein genügt; die Aufstellung eherner Tafeln: „Du sollst“, „Du sollst nicht“ reicht nicht aus. Gebote und Verbote, die gehalten werden sollen, verlangen einen Urgrund des Fühlens, den zu schaffen allen staatlichen Gewalten, allen sozialen Gruppen, allen Fakultäten aufgegeben ist. Dieser Urgrund des Fühlens wird hoffentlich aufgewühlt, wenn etwa im Auschwitz-Prozess die Überlebenden kommen und Zeugnis ablegen. Es ist ein Klima der Toleranz und Anerkennung erforderlich, aus der die Solidarität mit allem Menschlichen erwächst. Zu prüfen, wie es zu schaffen ist, ist des Schweißes aller Edlen wert.
(Fritz Bauer)
Vielen herzlichen Dank auch für das starke Zitat, @Jan Schmidt
Tatsächlich hatte ich bereits eine Reihe von Veranstaltungen zur Ehrung des in Tübingen und Stuttgart aufgewachsenen Fritz Bauer (1903 – 1968). Zuletzt konnte ich am Sonntag den Film “Die Ermittlungen” rund um die maßgeblich durch Bauer angestoßenen Auschwitz-Prozesse sehen und diskutieren:
https://film.mfg.de/service/presse/details/4450-bundesweite-kinoinitiative-27-januar-80-jahre-befreiung-auschwitz-birkenau/
Danke, dass Sie mit aufrichtigem Interesse und Engagement dabei bleiben!
“Die Ermittlung” – eine dokumentarische Aufarbeitung des Frankfurter Prozesses gegen 22 Mitglieder des Auschwitz-Personals, der 1963 bis 1965 stattfand.
Es gibt keine Worte, um diese vier Stunden Zeugenaussagen über unglaublich grauenvolle, menschliche Abgründe zu beschreiben!
Bezeichnend nebenbei die Tatsache, daß dieser Prozeß erst 18 Jahre nach der Befreiung erzwungen wurde – und die Urteile völlig ungenügend ausfielen!
Erschreckend, daß heute mehr als 10% aller jungen Menschen vom Holocaust noch nie gehört haben!
Wie soll “Erinnern” da gelingen – und erfolgreich sein?
Vielen Dank, @Peter Mayer – ich teile Ihre Diagnose und bin daher der Auffassung, dass wir eine neue, crossmediale und dialogische Vermittlung von Geschichte brauchen. Texte behalten Wert und Würde, erreichen aber nur die bereits Interessierten und kaum noch die Jugend. Wir brauchen Filme, Spiele und vor allem viel Dialog etwa mit lokalen Poscasts, spannenden Projekten und Personen, Medienbildung ab Klasse 3. Sonst geht die Schere zwischen Super-Informierten, die auch Bücher lesen und Halbgebildeten, die in antisozialen Medienblasen versinken, immer weiter auf. Zu den Hoffnungsträgern gehört für mich das KI-Fediversum, zu dem auch dieser Wissenschaftsblog einen kleinen Beitrag leisten möchte.
Ergänzend zur aktuellen Verfilmung von “Die Ermittlung” empfiehlt sich einerseits das ARD-Hörspiel von 1965:
https://www.youtube.com/watch?v=enqDDfhTUeU
Produziert hat der Hessische Rundfunk federführend für acht der damaligen neun ARD-Anstalten (es fehlte der Bayerische Rundfunk, dafür war zusätzlich noch das Schweizer Radio DRS (hier auf dem Titelbild bei YouTube als “SRF”) mit dabei). Regie führte Peter Schulze-Rohr, der später durch seine Tatort-Folgen mit Kommissar Trimmel bekannt wurde.
Und andererseits das Fernsehspiel des NDR von 1966:
https://www.youtube.com/watch?v=6M-VpDvAvZI
Regie wieder Peter Schulze-Rohr, und die Darsteller im Film sind zu gut der Hälfte mit den Sprechern des Hörspiels identisch. Hier auf YouTube ist der Film 15 Minuten kürzer als auf DVD. Ich nehme aber an, dass er trotzdem vollständig ist und nur die Bildfrequenz erhöht wurde, aber ganz sicher bin ich da nicht. Sowohl das Hörspiel als auch der Film sind sehr seriös und dem schwierigen Stoff gerecht werdend gestaltet.
Nicht sehr sehenswert (aber auch schwer zu bekommen) ist dagegen die DDR-Verfilmung, die bei der Premiere des Stücks am 19. Oktober 1965 in der Berliner Volkskammer (dem Parlament der DDR) aufgezeichnet wurde, aber erst 13 Monate später vollständig im DFF ausgestrahlt wurde. Das war einerseits eine offiziöse Propagandaveranstaltung, die gegen die BRD (und den kapitalistischen Westen insgesamt) gerichtet war, andererseits waren die vielen mitwirkenden schauspielerischen Laien ihrer Aufgabe nicht gewachsen, so dass der künstlerische Wert doch arg gelitten hat.
Über die Entstehung der beiden Fernsehfilme und des Stücks selbst habe ich vor einigen Monaten in einem Blog-Artikel berichtet:
https://whoknowspresents.blogspot.com/2024/08/eine-ermittlung-in-ost-und.html
Hoffen wir, dass es immer viele Grüppchen wie die 3 Ms in diesem Land gibt, die in ihrer Verschiedenheit die Gemeinsamkeit der Hoffnung finden.
Sorgen wir dafür, dass uns die Erinnerung an das Grauen hilft, die Geschichte nie zu wiederholen.
Trotz aller tagespolitischer Differenzen: Danke für deine Worte, deine Taten und deinen unermüdlichen Einsatz für das Gute!
Vielen Dank, liebe @Mina 🙏
Ja, mein damaliger Eindruck war, dass sich viele Menschen über die gemeinsamen Aktivitäten eines jüdischen, christlichen und muslimischen Trios einfach freuten. Die allgemeine Psychologie war noch von der Idee eines säkularen, linear-rationalen Fortschritts geprägt und Meinhard, Murat und ich mussten uns allenfalls gegen die immergleichen Stereotype wehren, dass entweder der Islam, das traditionelle Judentum, die katholische Kirche (der ich als Evangelischer gar nicht angehöre) oder gleich “die Religionen” irgendwie rückständig und “zurückgeblieben” wären. Deswegen hatte der Begriff von den “drei M’s” immer wieder etwas Sympathie, aber auch eine gute Dosis Spott in sich: Schaut mal, die drei sind noch religiös und mögen einander trotzdem.
Heute erlebe ich den Zusammenbruch dieses säkularen, linear-rationalen Fortschrittsglaubens. Die Klimakrise, die säkulare Bevölkerungsimplosion und die Digitalisierung führen zu einem globalen Rechtsruck, in dem plötzlich die Predigt einer Bischöfin gegenüber dem US-Präsidenten mit dem Aufruf zum Erbarmen als geradezu heldenhaft erscheint:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/kirchen-und-religionen-gegen-die-thymokratie-die-predigt-von-bischoefin-budde-via-donald-trump/
In der Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus habe ich daher bewusst auf das Zeitverständnis der Bibel hingewiesen, das nach meinem Verständnis zwar linear ist (Zeitrechnung seit Erschaffung der Welt, der Exodus hat eine Richtung, ein Ziel usw.), aber eben keinen linearen Fortschritt verheißt: Wir dürfen und sollen aus der Geschichte lernen, doch jede Generation wird vor neuen Herausforderungen stehen. Wir dürfen und sollen Heldinnen und Helden bewundern, jedoch nicht glauben, sie würden die Herausforderungen unserer Zeit für uns lösen. Jedes Leben enthält eigene und einzigartige Herausforderungen, daraus erst entsteht der Sinn.
Ich nenne dieses gleichzeitig alte und neue Zeitverständnis das dialogisch-regenerative Zeitverständnis und hoffe, dazu kleine Beiträge leisten zu können. Auch in liebevoller Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit als “die drei M’s”…
Danke für die Rede, die mich sehr berührt hat. Ich empfinde große Hochachtung für Arie Pinsker und ich schäme mich für das, was in Deutschland aktuell geschieht!
Deshalb verzichte ich auf weitere Punkte, die mich bewegen. Wir sind es uns allen und den Opfern der Shoa schuldig, den politischen und gesellschaftlichen Spaltern entgegenzutreten.
Dankbar bin ich auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der trotz hitziger Wahlkampfzeiten Sie mit seiner Vertretung beauftragt hat.
Danke für Ihren Einsatz!
Vielen herzlichen Dank, Marie H. 🙏
Ja, die besondere Intensität des gestrigen Datums und Abends ist wohl auch auf dem Livestream von Papierblatt zu sehen – die wiederum nach dem beeindruckend schönen Namen eines Holocaust-Überlebenden benannt ist. Die christlich-jüdische, deutsch-israelische und dialogische Erinnerungs- und Begegnungsarbeit von Zedakah nötigt mir großen Respekt ab, zumal auch immer mehr Musliminnen & Muslime beteiligt werden.
Entsprechend der Würde der Überlebenden habe auch ich mich sehr bewusst nicht tagespolitisch oder historisch belehrend zu äußern versucht, sondern mich auf die Erfahrungen von Zeitenumbruch und der Zeit-Symbolik der Tora beschränkt. Es bedeutet mir viel, dass die Rede Sie Dennoch oder gar Deswegen berührt hat.
Mit Dank und herzlichen Grüßen!
Guten Morgen, @Michael,
es ist ermutigend zu sehen, dass solche Reden gehalten werden und dass Demokratinnen und Demokraten aller politischen Richtungen zusammenkommen, um ihr zuzuhören und sie wertzuschätzen.
„Und ich bitte uns alle, dass wir den Auftrag ernstnehmen, nicht zu glauben, wir sollten die „Vergangenheit bewältigen“, eine abschließende „Wiedergutmachung“ leisten oder gar einen „Schlussstrich“ ziehen. Darum geht es weder in der biblischen noch in der deutschen, europäischen und israelischen Geschichte.
Nein, unsere Aufgabe ist es, gerade auch von den Überlebenden des Holocaust das Licht der Erinnerung zu übernehmen und es weiterzugeben an unsere Herzen, an unsere Kinder und Enkel.“
Dieser Gedanke trifft meines Erachtens den Kern. Es stimmt, dass viele Menschen heutzutage schnell „genervt“ reagieren, wenn es um das Thema Shoa geht. Solche trotzigen Äußerungen wie „Wir können ja schließlich nichts für das Unrecht, das in der Nazizeit begangen wurde“ oder „Irgendwann ist aber mal gut!“ machen mich immer wieder fassungslos.
Doch niemand verlangt von den nachfolgenden Generationen, die nicht einmal geboren waren, irgendeine „Schuld“ auf sich zu nehmen! Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Und ja: Das ist und wird niemals „gut“ sein. Deshalb müssen wir die Erinnerung lebendig halten, gerade jetzt, da wir in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr unter uns haben werden.
Erinnerungskultur ist keine Last – wir sind niemandem etwas „schuldig“ – nein: Erinnerungskultur ist ein Ausdruck unserer Menschlichkeit und unserer Verortung in der Geschichte. Das hat nichts mit „Schuld“ zu tun, sondern damit, dass wir im 21. Jahrhundert Teil einer langen historischen Kontinuität sind.
Die Zeit kennt keine „Schlussstriche“. Nichts, was geschehen ist, verschwindet einfach. Es bleibt bestehen – in transformierter Form als Erinnerung, als Erzählung, als Teil dessen, was wir als Menschen sind. Erinnerung macht uns zu dem, was wir sind. Indem wir uns erinnern, gestalten wir die Zukunft bewusst mit.
Eine wunderbare Rede!
Aus der dann folgenden Rede von Prof. Barbara Traub (auf der Seite https://www.papierblatt.de/) möchte ich noch auf diesen von ihr zitierten Satz von Roman Herzog hinweisen (im Video ab 3:18:00):
„Es gab keinen point of no return, an dem der Sprung von der Diskriminierung und Demütigung zur Vernichtung für jeden erkennbar gewesen wäre. Die Gewöhnung an die kleinen Schritte half beim Wegschauen, und das Wegschauen half, Geschehenes zu übersehen oder es gar nicht wissen zu wollen. Es verfielen viele der Versuchung, die Entwicklung harmloser zu sehen als sie wirklich war.“
Das sollte uns zu denken geben.
Vielen Dank, @Peter – Du verstehst mich sehr gut und ich bin da ganz bei Dir: Wenn wir es schaffen, unsere An-Sprüche (!) an die Gegenwart dialogisch-regenerativ zu mäßigen, warten neue Quellen des eigentlichen Wachstums auf uns. Im Zeitstrahl ist jede Gegenwart immer Ausfluss der Vergangenheit – würde dieser unterbrochen oder gar versiegen, wäre alles Leben vorbei. Wir erinnern also nicht um der falschen Schuld, sondern um der besseren Zukunft willen. Und unsere Blog-Dialoge gerade auch um das Wesen der Zeit oder wie hier über die Geschichte bereichern viele, ohne dass dafür viel Geld fließen (!) müsste.
Danke für Deine vielfältigen und stets dialogisch-konstruktiven Beiträge!
Beim Lesen dieser Beobachtung fällt mir auf, dass diese Macht der kleinen Schritte ja auch für Gutes in unserer Welt von größerer Bedeutung ist.
Heute kam eine Einladung zu einem Gespräch in meinen Postkorb, die ich gerne teile, da in der Bio des Gesprächspartners etwas auftaucht, was formal ähnlich ist, als kleiner Schritt, aber in eine andere Richtung orientiert ist.
https://www.awakin.org/v2/calls/711/shoukei-matsumoto/
Dieser Fokus auf kleine Gesten der Güte ist ja vermutlich eines der wenigen Dinge, die uns wirklich möglich ist. Für mich wird dies gut auf dieser Plattform geschoben: https://www.kindspring.org/
Vor einiger Zeit wies mich ein Bekannter darauf hin, dass diese Praxis auch im Judentum Bedeutung hat. https://da-geht-noch-was.hessen.de/tikkunolam
Mir gibt diese Perspektive eine Hoffnung, bei allem Schweren, auch selbstwirksam unterwegs sein zu können.
Vielen herzlichen Dank, @HG Unckell – und Zustimmung: Wenn doch die linear-säkularen Zukunftsverheißungen bröckeln, so können wir dennoch dialogisch-regenerativ agieren, also gezielt die Hetze aus unserem Leben nehmen und die Mitwelt fördern (Tikkun Olam bedeutet sogar: heilen, reparieren). Ich halte sogar eine Renaissance lebensbejahender, empathischer Religiosität & Spiritualität für möglich, wie die Reaktionen auf den Mut von Bischöfin Budde zeigen. Und welche Solidarität etwa nach den Extremwettern in Spanien! Schwere Zeiten können tiefe Zeiten sein.
Leider wurde der 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz von teilweise unwürdigem, politischem Lärm rund um den Bundestagswahlkampf übertönt.
Doch die Anwesenden der o.g. Veranstaltung nahmen die gemeinsame Erinnerung ernst und auch ins KI-Fediversum ist sie eingeschrieben. Perplexity.ai dazu:
Dr. Michael Blume betonte in seiner Rede zum 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung mehrere zentrale Botschaften, die aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen mit historischer Verantwortung verbinden:
## Gegen digitalen Hass und Antisemitismus
Er warnte vor der **„digitalen Ver-Wüst-ung“** durch antisoziale Medien, die Freund-Feind-Dualismen verstärken[1]. Blume rief dazu auf, sich nicht von „thymotischer Empörungssucht“ vereinnahmen zu lassen und niemals politische Mehrheiten mit Antisemiten von rechts oder links zu suchen[1].
## Dialogisch-regeneratives Zeitverständnis
Angelehnt an Rabbi Jonathan Sacks (1948–2020) entwickelte Blume ein **biblisch inspiriertes Geschichtsverständnis**:
– Zeit verläuft linear, aber ohne Garantie auf Fortschritt
– Jede Generation muss eigenständig Verantwortung übernehmen
– „Das Leben ist ein Test“ (Zitat des Rappers Ben Salomon)[1]
## Erinnerung als generationsübergreifende Aufgabe
Blume lehnte die Idee eines „Schlussstrichs“ unter die Vergangenheit ab und forderte stattdessen:
– Weitergabe des „Lichts der Erinnerung“ an Kinder und Enkel
– Aktives Eintreten gegen Geschichtsrevisionismus
– Solidarität mit Überlebenden wie Arie Pinsker, der mit 13,5 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde[1]
## Interreligiöse Brücken bauen
Als Mitglied des „drei M’s“-Trios (Jude Meinhard Tenné, Christ Blume, Muslim Murat) betonte er:
– Bedeutung jüdisch-christlich-islamischer Dialoge
– Kritik an säkularem Fortschrittsdogma
– Appell für gemeinsamen Einsatz gegen Hass[1]
## Politische Verantwortung heute
Unter Verweis auf Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920–2015) forderte er:
– Demokratischen Zusammenhalt trotz tagespolitischer Differenzen
– Wachsame Zivilgesellschaft gegen Rechtsruck in Europa
– Klima der Toleranz im Sinne Fritz Bauers (1903–1968)[1]
Blume schloss mit dem biblischen „Dennoch!“, das trotz aller Krisen zum beharrlichen Engagement für Menschlichkeit aufruft[1]. Die gemeinsame Kerzenzeremonie mit Überlebenden symbolisierte dabei die Verbindung von Erinnerung und Zukunftsgestaltung.
Citations:
[1] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/we-remember-2025-meine-rede-zum-gedenktag-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-in-stuttgart/
[2] https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus
[3] https://www.bruchsal.de/site/Bruchsal-Internet/get/params_E-1164164727_Dattachment/4066377/Brosch%C3%BCre%20Erinnern%20Verstehen%20Vers%C3%B6hnen%20(Gedenkveranstaltungen%20in%20Bruchsal).pdf
[4] https://sueden.social/@BlumeEvolution/113901345886025008
[5] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/files/WerememberHolocaustGedenktagBlume27012025.pdf
[6] https://www.hsozkult.de/event/id/event-152733
[7] https://www.katholisches.koeln/stadtkirche/aktuelles/Holocaust-Gedenktag-80-Jahre-Befreiung-des-KZ-Auschwitz-Immun-werden-gegen-das-Gift-von-Antisemitismus-und-Hass/
[8] https://www.kamen-web.de/index.php/nachrichten/37991-80-jahre-nach-der-befreiung-von-auschwitz-kamen-gedenkt-der-opfer-des-holocaust.html
[9] https://www.instagram.com/hausdesdokumentarfilms/reel/DFKopGLuNOw/
[10] https://sueden.social/@BlumeEvolution/113898592488331483