Warum es Sie angeht, dass Nürnberg 2.0 zu den Reichsbürgern übergegangen ist – Die fortschreitende Polarisierung im Netz

Vor sieben Jahren erhielt ich eine besondere Form der Auszeichnung: Auf dem islamfeindlichen Pranger “Nürnberg 2.0” wurde eine “Akte” zu meiner Person angelegt – unterlegt mit der Drohung, mich nach der nationalistischen Revolution als Volksverräter zu verurteilen. Die “Anklage” lautete auf Leugnung des “Geburtendschihad”, da ich nachgewiesen hatte, dass nicht nur religiöse Muslime, sondern auch praktizierende Christen und Juden deutlich höhere Kinderzahlen aufwiesen als ihre weniger und nichtreligiösen Nachbarn.

Die Prangerseite von Nürnberg 2.0 im Jahr 2011. Screenshot: Michael Blume

Selbstverständlich habe ich mich von diesen rechtsextremen Drohungen eher anspornen als einschüchtern lassen – und sie in den Folgejahren auch zunehmend vergessen. Doch als ich mich vor einigen Tagen mit Kolleginnen und Kollegen über das Thema “Online-Radikalisierungen” austauschte, rief ich meine “Akte” nochmal auf und sah, dass sie sich in einigen wenigen Details interessant verändert hatte.

Screenshot von der Prangerseite “Nürnberg 2.0” in 2018, Michael Blume

Selbst noch das Foto war unverändert und in der Grafik der Seite war nur der Schriftzug in Schwarz-Rot-Gold getaucht und um das Wort “Deutschland” ergänzt worden. Tatsächlich war mir – wie auch den anderen “Angeklagten” – inzwischen die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden und auch mein Geburtsort lag nicht mehr in Baden-Württemberg, sondern im “Volksstaat Württemberg”. Die Seite Nürnberg 2.0 war zu den sog. “Reichsbürgern” übergegangen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen und stattdessen behaupten, in Fantasiestaaten zu leben. Und wie Sicherheitsbehörden inzwischen bestätigen, ist diese vor allem online vernetzte “Reichsbürgerszene” im vergangenen Jahr massiv gewachsen. Einige Gruppen bereiteten dabei auch den Aufbau einer eigenen “Armee” vor. Erste Journalisten wie Richard Gutjahr werden bereits bis in ihre Familien hinein rechtsextrem getrollt.

Online-Radikalisierungen erreichen die gesellschaftliche MItte

Und, nein, selbstverständlich wird mich das auch weiterhin nicht einschüchtern. Andere Entwicklungen der von mir ebenfalls bereits 2011 beobachteten “Radikalisierung durch Vernetzung” machen mir mehr Sorgen: So hatte sich die FDP bereits im November 2017 in ihrer Medienblase plus Personenkult soweit verfangen, dass sie sich einer Koalitionsregierung verweigerte.

Digital befeuerte Polarisierungsphänomene, die hier in den vergangenen Jahren immer mal wieder beobachtet worden waren – etwa unter den so genannten “Neuen Atheisten” / Brights, Libertären, Salafisten und Ex-Muslimen, Rechts- und Linksextremisten usw. – haben inzwischen die demokratische Mitte erreicht. Davon profitieren nicht nur extremere Parteien, sondern auch die 150%igen “in” den Parteien, die gegen Kompromisse und Koalitionen anrennen. Dem bundesdeutschen Verhältniswahlrecht, das gerade nach den Verwerfungen des NS-Regimes eine breite demokratische Vielfalt zusammenführen sollte, droht die Lähmung mangels Kompromissbereitschaft und der Angst vor Shitstorms bei Übernahme von Verantwortung.

Dass die Verschwörungsgläubigen von Nürnberg 2.0 immer weiter nach rechts driften, überrascht und betrübt mich dabei sehr viel weniger als das Auseinanderfallen der “vernünftigen Mitte” in immer mehr Medienblasen, bis in meinen Freundeskreis hinein. Die digitalen, zunehmend asozialen Medien spalten und verrohen uns.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

28 Kommentare

  1. Während so etwas niemand gut heißen kann, geht die wirkliche Gefahr von den Moslems und von den Linksradikalen aus.

    • Lassen Sie mich raten, @Markweger: Das fühlt sich für Sie so an und darin werden Sie in Ihrer #Medienblase unter überwiegend Gleichgesinnten täglich unterstützt.

      Und so driften wir Menschen entlang unserer Gefühle und Milieus digital immer weiter auseinander…

      • Es geht auseinander und es verschärft sich auf beiden Seiten.
        Solange eine Politik betrieben wird mit der alle leben können, leben auch alle nebeneinander ohne sonderliche Spannungen. Wenn aber Zustände entstehen die von vielen als unerträglich empfunden werden dann polarsieren sich Dinge eben.
        Mir war Nationalität mein ganzes Leben lang nicht wirklich ein Anliegen, es ist mir in den letzten beiden Jahren ein ernsthaftes Anliegen geworden.
        Und darüber wer in einer Blase einseitiger Berichterstattung lebt, da kann man schon unterschiedlicher Auffassung sein.

        • Yep, @Markweger! Und auch die Vorstellung politischer Nationalstaaten ist natürlich ein Medienprodukt: Bis zum Buchdruck lebten und dachten die meisten Menschen nur in den Zusammenhängen von Stamm, Familie und maximal Stadt – Imperien basierten auf mächtigen Oligarchien. Erst mit dem Druck wurden Pamphlete, sprachstandardisierte Bücher, Zeitungen etc. möglich – die Grundlage aller -ismen (Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus…) Was wohl derzeit entsteht?

          • Na ja, riesige Staaten hat es auch schon vor dem Buchdruck gegeben.
            Und die Kriege zwischen Stämmen oder frühen Stadtstaaten waren auch nicht weniger blutig.
            Aber es entsteht derzeit eine massive Polarisierung und im Extremfall gehen die Risse sogar quer durch Familien! Vor einiger Zeit kaum denkbar wenn auch unterschiedliche politische Auffassugen waren.
            Aber ich zähle zu denen die der Meinung sind so kann es nicht weiter gehen und dazu bekenne ich mich auch.
            Wohin es noch führen wird weiß ich nicht.

          • @Michael Blume (Zitat): Bis zum Buchdruck lebten und dachten die meisten Menschen nur in den Zusammenhängen von Stamm, Familie und maximal Stadt Ja, und ich denke auch heute noch macht Bürger-Mitbestimmung auf der Stufe von Dorf/Stadt, Landkreis am meisten Sinn und wenn die Leute das Gefühl haben, nicht sie bestimmten was in ihrer Umgebung passiert sondern irgendeine ferne Zentralgewalt, oder ein allen übergestülptes Rechtssystem, dann schafft das Unzufriedenheit. Konkret bedeutet das, dass etwa eine Stadt und ihre Bewohner mitbestimmen können sollte wieviele Flüchtlinge sie aufnehmen und wie sie ihnen helfen. Das gibt es natürlich schon (siehe So können Sie Flüchtlingen in München helfen)

  2. Die 150%-igen wollen gar nicht mehr mit den 150%-igen des anderen Lagers reden und sind gar stolz darauf. Die politisch/weltanschauliche Polarisation mit Ausbildung je eigener Wahrheiten und gegeneinander immunisierten Glaubenssystemen ist in den USA schon am weitesten fortgeschritten. Dort leben Republikaner und Demokraten in je eigenen Welten und teilen nur noch gerade zufälligerweise die Staatenfläche der USA miteinander. Nun verstärkt sich die Polarisation auch in Europa. Wobei es auch wieder besser werden kann. Unter Macron scheint mir Frankreich jedenfalls weniger polarisiert als vor den Wahlen in Frankreich.

  3. Die digitalen, zunehmend asozialen Medien spalten und verrohen uns.

    Ich würd’s vielleicht nicht so pauschal formulieren. Im Internet findet sich alles und das Gegenteil davon. Ratsam ist es, nicht nach Bestätigung der eigenen Meinung zu suchen, sondern nach der Meinung, die die eigene hinterfragt. Am Ende kann man es soweit treiben, daß die eigene und die gegenteilige Meinung im eigenen Hirn in einen Dialog treten. Das ist viel spannender als nach Bestätigung zu suchen, verlangt aber mitunter, bis an die Grenze des Wahnsinns zu gehen.

  4. “Online-Radikalisierungen erreichen die gesellschaftliche MItte”

    Mein Gott , die gesamte rechte Seite ist radikalisiert , jetzt auch die Mitte .
    Was bleibt da noch übrig?
    Ach wir haben noch die Linken und “Herrn Blume “dann wird ja alles gut 😉 .

    Guten Abend und schöne Träume noch.

    • Leider wird es so einfach kaum sein, lieber Herr Immenstein. Zum einen schreibe und verlinke ich ja, dass diese Effekte auch auf der Linken auftreten (vgl. den Link zum Linksradikalismus, dort mit Musikvideo). Und ehrlich gesagt traue ich mir nicht zu, da etwas aufhalten zu können. Warnen kann ich, ja – aber ob es letztlich zum Nachdenken anregt, entscheiden immer Sie…

  5. Die Realität, an der niemand vorbei kommt, ist das Ergebnis von Politik! Die Zustände sind nicht vom Himmel gefallen. Politik übrigens, die von Träumern immer noch verteidigt wird. Wenn sich Verhältnisse verschärfen, schärfen und verhärten sich auch die Grenzlinien… Die Verantwortung dafür tragen nicht die Kritiker!!

    • @MAt

      Nun, es liegt natürlich an Ihnen zu entscheiden…

      1. …ob Sie auch selbst Verantwortung für sich selbst und Mitmenschen übernehmen, oder diese nur an andere abtreten.
      2. …welches Land denn in den vergangenen Jahrzehnten durchweg besser regiert wurde und heute soviel besser dasteht. Mir fallen da – obwohl ich mir noch vieles besser wünschen würde, v.a. in der Familienpolitik – kaum welche ein.

      Ihnen alles Gute und viel Freude beim Mitdenken!

  6. Gut, sehr geehrter Herr Blume,

    viele Brights mögen einiges, das Sie vertreten, nicht besonders, und auch andere, wie ich z.B., raufen sich zuweilen wegen manchen ihrer Thesen die Haare…..dennoch finde ich, dass Sie es sich etwas zu einfach machen, wenn Sie die Brights in einem Atemzug mit Salafisten nennen (und ich betrachte mich nicht als “Bright”).
    Letztendlich ziehen viele Religionen kritisch Sehende oft mit Ihnen am gleichen Strang, und streiten gehört nun mal zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dazu.
    Ihr Buch “Islam in der Krise”, das ich gerade mit sehr großem Interesse und seltenem, aber erwartetem Haareraufen angesichts Ihrer auch dort untergebrachten Lieblingsthesen, gelesen habe, gefiel mir übrigens ausgesprochen gut. Ein wichtiges Buch, wie ich finde. (Rezension folgt)
    Wir sollten uns zusammenraufen, und uns gemeinsam gegen Demokratie und den gesellschaftlichen Frieden gefährdende Gruppen stellen. Ob wir uns als Atheisten oder Gläubige betrachten darf aus meiner Sicht bei Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Islamophobie oder auch bei der extremen Abhängigkeit von Erdöl und anderen Themen , bei denen wir übereinstimmen, keine Rolle spielen. Ansonsten können wir uns aber gerne fetzen.
    Ich zitiere Sie, aus einer Antwort von Ihnen, auf einen verärgerten Kommentar meinerseits vor Jahren:
    “Ich bin nicht Ihr Feind!” Sie hatten Recht.
    Ich persönlich wünsche mir interessante Streitgespräche und keine künstlichen Polarisierungen.

    • Liebe/r @Alisier,

      vielen lieben Dank für Ihren Kommentar.

      Die Brights hatte ich in die gleiche Auflistung wie auch Libertäre, Salafisten und Demokraten genommen, um zu verdeutlichen: Die digitale Polarisierung betrifft uns alle. Ich denke, wir tun gut daran, diese Herausforderungen nicht nur bei “anderen” wahrzunehmen.

      Wie Sie auch sehe ich 1. die Gefahr, dass sich in Medienblasen simple Freund-Feind-Schemata durchsetzen, nach dem Motto: Wir sind uns zwar nicht einig, wofür wir sind – aber gegen wen wir sind, da können wir einander bestätigen. Das endet dann nur noch in gegenseitigem Anschreien.

      Damit eng verbunden sehe ich 2. die Gefahr, dass sich in den Medienblasen “alternative Fakten” verstärken, nach dem Motto: Die einen leugnen den Klimawandel, die anderen die Befunde der Religionsdemografie, wieder andere die Forschungen zu Impfungen. Am Ende gibt es dann nicht einmal mehr eine gemeinsame (Daten-)Basis für ernsthafte Diskussionen.

      Ich halte es für richtig und sogar notwendig, dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben – aber nicht unterschiedliche Fakten. Ob die Geburt vieler Kinder beispielsweise als “gut”, “schlecht” oder “kommt darauf an” bewertet wird – darüber kann man völlig gegensätzlicher Auffassung sein. Aber wer zum Beispiel angesichts der Wagenladungen empirischer Befunde und auch Fallstudien (Amish, Haredim, Hutterer, Mormonen usw.) immer noch bestreitet, dass Religionsgemeinschaften überhaupt demografisches Potential aufweisen, nimmt sich m.E. selbst nicht mehr ernst und verrät die Konzepte empirischer Wissenschaft und Aufklärung, die auf Vernunft und Diskurs setzen. Nicht nur viele Erfahrungen in digitalen Debatten, sondern auch Daten des Wissenschaftsbarometers 2016 dazu (v.a. man müsse mehr auf “sein Gefühl” hören) haben mich da schon sehr beunruhigt:
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/ringen-wir-noch-um-wahrheit-evolution-religion-debatten-in-postfaktischen-zeiten/

      Wenn wir alle Wahrheiten nur noch fühlen, dann verlieren wir den empirischen Boden unter den Füssen – und damit auch die Grundlagen für gemeinsame, zielführende Diskussionen.

      Ihnen herzlichen Dank für Ihre konstruktiven Kommentare!

  7. Lieber Herr Blume,
    die von Ihnen vorgebrachten Fakten im Bereich Religionsdemographie stelle ich natürlich nicht in Frage. Es geht mir und anderen lediglich um die Interpretation, und darum, dass diese Fakten aus meiner Sicht nicht in jeder Diskussion platziert werden müssen.
    Und wenn jemand wie Sarrazin sich durch Sie bestätigt fühlt, dann können Sie zwar erstmal nicht wirklich was dafür, so ganz unschuldig sind Sie daran aber meiner Meinung nach nicht.
    Was ich mir wünsche sind gute Diskussionen, die uns alle weiter bringen.
    Und zuweilen finde ich Ihre Ansätze zu monokausal geprägt. Gerade in ihrem letzten Buch zeigen Sie, dass es auch anders geht.
    Aber das ist nur mein Eindruck, und wenn es Ihnen (und mir) dann noch möglich ist, sich selbst mit indirekten Unterstellungen zurückzuhalten, kommen wir in der Diskussion auch sicher weiter.
    Es grüßt Sie Francois Bao (männlich)

    • Lieber @Alisier,

      naja – ich habe zu dem Thema eben geforscht, halte die Befunde für klar relevant und dass der intergenerationale Reproduktionserfolg als „der“ evolutionäre Fitnessindikator gilt, habe ich mir auch nicht ausgedacht. Ich sähe gar keine Möglichkeit mehr, da etwas zu verschweigen…

      Und Sarrazin fühlte sich eben ganz und gar nicht „bestätigt“, sondern verbog die Zahlen und Tabelle, um aus der religiösen eine islamische Demografie zu machen. M.E. gilt auch hier: Das beste Mittel gegen Populismus und schlechte Wissenschaft ist Aufklärung und bessere Wissenschaft. 🙂

      Aber bei allen Differenzen sehe ich doch auch viele Gemeinsamkeiten mit Ihnen wie die Freude an Wissenschaft und Wahrheitssuche. Und wer kann heute schon wissen, was die Zukunft noch an Entdeckungen bringt? 🙂

      Ihnen alles Beste, von Herzen!

  8. „Nürnberg 2.0“ wird eine Reichsbürgerseite … Habe mich gewundert, eigentlich ist das ja ein Projekt, das der Islamfeind Michael Mannheimer anfänglich zumindest kräftig mitangeschoben und publik gemacht hat, und den halte ich durchaus für gefährlich intelligent. Für einen Reichsbürgerwahn für zu intelligent. Habe mich seit langem mal wieder auf seinen Blog begeben (sehr rührig, der Mann!) und kann nicht finden, daß er zu den Reichsbürgern gewendet wäre. Ich habe eher den Eindruck, Nürnberg 2.0 ist ein verwaistes Projekt, das dann Reichsbürger geentert haben. Man müßte mal Zugriffszahlen recherchieren. Ihre „Akte“ z.B. wird auch nicht mehr gepflegt: „Last modified on 30. August 2011, um 19:12 Uhr“

    Vielen Dank, bei der Gelegenheit, daß Sie sich damals nicht haben einschüchtern lassen. Man weiß bei so etwas ja nicht, was davon zu halten ist, wenn man auf einmal auf einem solchen Internetpranger steht, und auf was für komische Gedanken Menschen kommen können.

    *

    Zur Sache: So löblich ich das ja finde, selbstkritisch immer wieder nicht nur mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern zu hinterfragen, wie weit solche Filterblasen- und Echokammereffekte auch schon in den eigenen Reihen, auch schon bei den etablierten Parteien angekommen ist; hier verrennen Sie sich meiner Meinung nach etwas. Sicher werden auch solche Effekte mit hineinspielen. FDP wie SPD haben meines Erachtens aber auch ohne Internet sehr berechtigte Ängste, Frau Merkel nicht zu überleben.

    Die FDP hatte vor allem das Problem, mit weitgehend einem Haufen Newbies und vor allem: Ohne eigenen Apparat, heißt, ohne Referenten, Sachbearbeitern, Personal in die Verhandlungen zu gehen, wie sie die Bundestagsabgeordneten der anderen Parteien hatten; Mitarbeiter, die sich seit langem einfuchst hatten in Probleme, Sachstände, Details bis in fachjuristische Formulierungen. Sie ist dann in Verhandlungen geraten, die vor allem CSU und GRÜNE austrugen, und in denen sie mangels Zuarbeitern, mangels Sachkompetenz, schlicht untergegangen, nicht beachtet wurden, nur am Rande vorkamen als Mehrheitsbeschaffer. Ist ein großer Fehler der Verhandlungsführerin Frau Merkel gewesen.

    Die SPD ist aus beiden jüngeren großen Koalitionen stark geschwächt herausgegangen. Schon mit Bauchgrummeln in die letzte gegangen; immerhin hat man ihnen dann die Knaller „Mindestlohn“ und „Rente mit 63“ gegönnt. Was ihnen nichts genützt hat, wie wir wissen; das hatte sich in der langen Legislatur, wie man im Medienbereich sagt, versendet. Und dieses Mal haben sie noch nicht einmal einen solchen Knaller. Man darf nicht vergessen, daß die SPD in den Niederlanden aktuell bei 6% liegt. Unser europäisches Parteiensystem ist in einem gewaltigen Umbruch, zumal die Milieubindungen der Menschen nicht mehr gegeben sind: Niemand wählt heute mehr CDU, weil er katholisch, oder SPD, weil er Arbeiter ist.

    Mag sein, daß gegenseitiges Sich-Hochschaukeln im Internet solche Ängste noch verstärkt. Die sind aber auch ohnedem schon nur allzu berechtigt.

    *

    Meines Erachtens hätte es einen Deal geben müssen: Merkel tritt nach zwei Jahren zurück, ihr designierter Nachfolger wird Aussenminister, Schulz oder wer auch immer Kanzler. Das hätte für beide Parteien eine faire Chance gegeben für die nächste Wahl. Allem anderem kann die SPD nicht zustimmen ohne eine mögliche, eigentlich wahrscheinliche Selbstaufgabe. Schade. So haben wir einen sehr unwürdigen Abgang von Frau Merkel; sie hatte eigentlich besseres verdient.

    • Vielen Dank, @Alubehüteter! Sinnigerweise würde ich mir eher wünschen, dass Sie Recht haben und die digitale Emotionalisierung und Verblasung nur die politischen und religiösen Ränder betrifft. So gründete sich ja auch z.B. Pegida aus einer Facebook-Gruppe heraus.

      Tatsächlich fürchte ich jedoch, dass es um sich greift und auch die bürgerlichen und konservativen Parteien noch stärker beuteln wird, sobald sie in die Opposition geraten.

      Schon das Scheitern der Jamaika-Sondierungen und der mit Online-Kacheln kommunizierte FDP-Exit passt in dieses Schema. Auf Facebook „schmücken“ gerade Tausende Sozialdemokraten ihre Profile mit #NoGroKo-Bannern – stets mit Hashtag!

      Und von vergleichbaren Entwicklungen in anderen Demokratien sei hier nur beispielhaft der v.a. digitale Aufstieg der „Tea-Party“ (Rep) und B. Sanders (Dem) erwähnt.

      Aus dem religiösen und weltanschaulichen Bereich gäbe es noch viel mehr Beispiele – aber ich möchte hier nicht langweilen. Hoffentlich haben Sie Recht, denn nach meiner Beobachtung und Prognose wäre die digitale Dynamik noch lange nicht an ihrem Ende…

      • Lieber Herr Blume,

        selbstverständlich werden Sie Recht haben, und auf längere Sicht werden die Radikalisierungstendenzen, die das Internet an sich hat, wohl auch nicht an den etablierten Parteien vorbeigehen. Ich nehme das nur noch nicht so scharf wahr wie Sie, wohl weil ich mich in anderen Ecken im Internet herumtreibe, z.B. nicht bei Facebook. Und ich glaube eben schon, daß die Angst vor weiteren Koalitionen mit Frau Merkel auch noch ohne Internet verständlich und begründbar wird. Sie muß auf Koalitionspartner bisweilen wirken wie eine Schwarze Witwe, die ihren Gatten nach erfolgreicher Kopulation verspeist.

        Nicht zuletzt von Ihnen haben wir ja gelernt, daß der Buchdruck eben nicht nur die Bibel und Voltaire, sondern auch den Hexenhammer und die Protokolle der Weisen vom Zion gebracht hat. Das wird mit der Medienrevolution Internet nicht anders sein.

        Gegenwärtig erscheint mir aber, wie angeführt, die Gefahr viel größer – oder das ist, was ich schärfer wahrnehme –, daß sich die Mitte von den Rändern her hysterisieren läßt – Und damit untergeht. Drastisch zu beobachten an den Bundestagswahlergebnissen in Sachsen und Bayern, wo man meinte, auf deutliche Distanz gehen zu müssen zur Flüchtlingspolitik von Frau Merkel: Damit gibt man nur der AfD Recht. Ist man mit dieser Politik erfolgreich, dann sagt man: Aber nur, weil die AfD euch Druck macht; ist man nicht erfolgreich, gilt „Drehhofer“ als Umfaller. In NRW hat die CDU eben nicht auf Flüchtlinge, sondern erfolgreich auf Bildung und Innere Sicherheit gesetzt (was ja auf’s Innigste mit den Flüchtlingen zusammenhängt; wie kriegen wir sie integriert und ggf. auch in die Schranken gewiesen?), und damit Frau Kraft aus dem Amt gefegt. Und das, obwohl wir hier Silvester Köln 2015/16 an der Backe hatten; viel mehr Gelegenheit, für die AfD zu wildern. Aber hier ist die CDU das konstruktiv angegangen; wo die Flüchtlinge nun mal hier sind, wie schaffen wir Perspektiven für das Gelingen?

        Für die kommenden Landtagswahlen in Bayern sehe ich da ganz schwarz. 🙁 Und da macht man diesen Unfug, obwohl gerade in Bayern der Flüchtlingssommer 2015 eine überaus erfolgreich bestandene Bewährungsprobe war, nicht erst im Vergleich zu Berlin, auch z.B. verglichen mit NRW, das ja auch eine Hauptlast zu tragen hatte. Da hätte die CSU mit Recht drauf stolz sein und mit diesem Stolz hausieren gehen können, anstatt vom „Unrechtsstaat“ zu schwadronieren und sich Viktor Orban als Wahlkampfhelfer einzuladen.

        Aktuell macht mir dementsprechend viel mehr Sorgen, daß Flüchtlingskriminalität, die es selbstverständlich auch gibt, in den etablierten Medien unverhältnismäßig breitgetreten wird, beeindruckt von den „Lückenpresse“-Vorwürfen. Verschärft noch dadurch, daß die Springermedien gerne dabei sind, gilt es, zu hetzen gegen die „Staatsmedien“, weil ihnen das medienpolitisch nützlich erscheint. Da hat also ein syrischer Flüchtling, der mit einem deutschen Mädchen verhandelt ist, und der so Thema einer KiKa-Doku wurde, sogar mal im Internet Pierre Vogel geliked, so, so. Wie schlampig recherchieren eigentlich die Ö-R, daß sie solchen Leuten eine Plattform geben, und das auch noch bei relativ unkritischen und propagandaempfänglichen Kindern? Ich sehe da nichts Skandalisierbares. Interkulturelle Beziehungen haben eben ihre eigenen Probleme, die müssen reflektiert und angegangen werden, und auch da müssen, wie immer zwischen Menschen, Kompromisse eingegangen werden, ohne daß ein Kompromiß gleich Unterwerfung wäre; das hat der KiKa vermittelt, und wen der Syrer mal irgendwann irgendwo geliked hat, ist da völlig unerheblich.

        Irgendwo in einem anderem Thread hatten wir mal das Thema: Evolutionsbiologisch ist es erfolgreicher, fünf mal einen Busch mit einem Bären zu verwechseln, als einmal einen Bären mit einem Busch. In diesem Sinne bin ich ja dankbar für Ihre Wachsamkeit. Und teile Ihre Befürchtung, Ihnen irgendwann zustimmen zu müssen: Diesmal isses wirklich ein Bär. 🙁

  9. Was mir viel mehr Sorgen bereitet: Daß die Massenmedien sich zunehmend vom rechten Internetmob, von den „Alternativmedien“ verunsichern lassen. Da bringt es eine Beziehungstat in Kandel zu bundesweitem Aufsehen, weil der Täter ein mutmaßlicher Muslim aus Afghanistan ist, das Opfer eine süße 15jährige Weiße. Insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen berichten hektisch, damit man ihnen nicht vorwerfen kann, sie würden etwas verschweigen. Obwohl Beziehungsmorde für gewöhnlich nun wirklich nur etwas für die Lokalmedien sind, wenn es nicht gerade Promis betrifft (Ingrid von Bergen, O.J. Simpson). Stimmen der Vernunft, wie z.B. der Medienblogger Stefan Niggemeier, werden zunehmend weniger gehört (gelesen).

    Da verirrt sich einer auf den Kinderkanal, findet in der Mediathek eine längst versendete Sendung vom November, wo die Beziehung einer 15jährigen mit einem 19jährigen Syrer problematisch dargestellt wird: Es gibt kulturelle Unterschiede, die machen eine Beziehung zusätzlich schwierig, aber nicht unmöglich; und er skandalisiert das dann in einem einschlägigen Blog: Hier würde die Unterwerfung einer Frau unter einem Muslim verharmlost, gar propagiert. Anstatt das in der neurechten Blogosphäre und bei Fabebook vor sich hinköcheln zu lassen, gießt die Springerpresse noch Öl ins Feuer und findet heraus, daß besagter Muslim den einschlägig bekannten Salafisten Pierre Vogel auf Facebook geliked hat. ( https://uebermedien.de/24344/malvina-diaa-und-der-hass/ )

    Medienwandel: Die Etablierten sind zu verunsichert und schwächen sich damit.

    • Wir haben damit aber ein systemimmanentes Problem vor uns: Die eliten, die hier verunsichert sind, nehmen sich nun mal per definitionem ziemlich wichtig. Darum sehen sie sich ja als Eliten und haben dafür sogar vielleicht empirisch brauchbare Grundlagen. Wer sich aber wichtig nimmt, ist leichter zu verunsichern – er braucht ja seine Wichtigkeit für seine Identität – und gerät so in einen Rechtfertigungszwang.

  10. Das von Ihnen festgestellte Wegfallen der Mitte kommt nicht von den Menschen die sich “radikalisieren” oder “absondern” sondern dies ist m.E. nur eine Folge vom Wegfallen der wirtschaftlichen Mitte die es heute viel weniger als früher gab. Dazu kommt noch das Wegfallen einer familiären, nationalen und religiösen sowie politischen und wenn man so will sozialen Mitte. Viele sollen oder wollen offen sein und sind es auch die einen für die eine und die anderen eben für andere Richtungen, die Welt wächst zusammen und teilt sich doch zugleich auf in immer weitere Fraktionen. Das ist das Paradoxon unserer Zeit.

    • Ja, Wechselwirkungen mit wirtschaftlichen Verteilungsfragen sehe ich auch, @Ulrich Graf! Allerdings sind auch die sehr egalitären Staaten z.B. in Skandinavien vom Rechtspopulismus und sogar -terrorismus betroffen: Es müssen also weitere Faktoren beteiligt sein, m.E. vor allem die neuen Medien.

  11. “Es scheint durchaus denkbar, dass eine bereits jahrelang erfolgreiche Regierungsformation auf Druck der SPD-Basis scheitern kann.”
    Wie kommen Sie auf solch einen steilen Satz? Jahrelang erfolgreich?? Bitte bedenken Sie, dass der Wähler hierzulande nur alle 4 Jahre gefragt wird. Die Regierung popagiert Gender-Lehre, Homo-Ehe, stimmt in der UN gegen Israel, unterscheidet kaum zwischen ernstzunehmenden Flüchtlingen und Auf-eigenen-Wunsch-Migranten, sortiert Kriminelle nicht oder zu spät aus, lässt Menschen auf Hartz-4-Geldern ruhen, obwohl sie arbeiten könnten (nein, nicht alle!), verschleudert Geld über den Einfülltrichter U.s.w.u.s.f…..

    • Nun, @Rolf Oetinger – bestimmt können Sie uns sagen, in welchem Jahrhundert Deutschland jemals besser regiert wurde als seit Einführung der Bundesrepublik?

      Keine Demokratie ist fehlerlos, doch ich sehe viele Gründe für Engagement und Dankbarkeit. Und auch die Flüchtlinge, über die Sie ja andernorts kommentieren, stimmen ja offensichtlich mit den Füßen für unser Land ab…

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