Verschwörungsmythos als aufklärender Kompositbegriff

Als ich Anfang des Jahres an der Neuausgabe von “Verschwörungsmythen” arbeitete, fiel mir etwas sehr Hoffnungsvolles auf: Sehr viele Begriffe und Thesen, die ich vor Jahren noch per Blog, Podcast und auch in Büchern lange erklären musste, hatten sich zumindest in interessierten Kreisen längst herumgesprochen und durchgesetzt.

Das gilt auch für den Begriff Verschwörungsmythos selbst, der gegenüber dem sachlich falschen “Verschwörungstheorien” noch vor wenigen Jahren im Deutschen kaum etabliert war, aber in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt hat. Dass Antisemitismus, Rassismus und Sexismus nicht auf wissenschaftlichen Theorien beruhen, sondern auch verschwörungsmythologischem Freund-Feind-Dualismus, muss ich in Fachkreisen gar nicht mehr und auch unter allgemein Interessierten immer seltener erklären. Mathieu Coquelin und FexBw haben dazu inzwischen sogar das Kartenspiel “Dualismo” am Start! Und dieses Wissen verbreitete sich innerhalb weniger Jahre!

Häufigkeit der Begriffe "Verschwörungstheorien" und "Verschwörungsmythen" seit den 1960er Jahren bis 2022 laut Google Ngram Viewer.

Häufigkeit der Begriffe “Verschwörungstheorien” und “Verschwörungsmythen” seit den 1960er Jahren bis 2022 laut Google Ngram Viewer. Screenshot: Michael Blume

Sprachlich gesehen handelt es sich beim aufstrebenden Begriff Verschwörungsmythos um ein Kompositum, ein Kompositwort wie zum Beispiel auch der Begriff Demokratiebildung. Im Englischen und fast allen anderen Sprachen handelt es sich noch um getrennte Worte: Conspiracy Theories, Conspiracy Myths, Democratic Education usw.

Komposita sind eine Spezialität der deutschen Sprache: Sie häuften sich nach der zweiten Lautverschiebung vom 6. bis zum 9. Jahrhundert nach Christus im heutigen EUSALP-Alpenraum und der Lutherbibel nach Martin Luther (1483 – 1546), der darin Worte wie “Morgenland”, “Feuereifer” und “Langmut” etablierte. Der Trend zu Komposita beflügelte von da an auch die deutschsprachige Philosophie, Politik- und Rechtsgeschichte etwa durch Begriffe wie “Weltanschauung” (Immanuel Kant) und “Menschenbild” (Friedrich Nietzsche). Durch die digitalen Medien und die Hashtag-Kultur erleben Komposita derzeit auch im Englischen einen Aufschwung – denken wir an Hashtag selbst, an Hackathon, Fediverse usw.

Und seitdem Prof. Ince und ich in Folge 35 über “Humankapital” als das “Unwort des Jahres 2004” diskutierten, ist die Resonanz ebenfalls groß. So diskutieren Mastodonten auf dieser Basis über Unternehmenskulturen – ebenso ein Kompositum. Und für “Dualismo” bin ich Schirmherr.

In Komposita bündeln sich völlig verschiedene Emotionen und Theorien – die Begriffe Vermögensbildung und Herzensbildung eröffnen sehr unterschiedliche Diskurse! Wir speichern in ihnen viel mehr Wissen, als uns jemals bewusst werden kann. Und gerade auch KI-Dialoge verstärken den Trend von den “zu kennenden” Namen zu den sachrichtigen Begriffen. Das finde ich für die so dringend notwendige Wissenschaftskommunikation sehr ermutigend! 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

13 Kommentare

  1. Sprache ist das primäre Medium der Menschheit und wird gerade auch als Schriftsprache täglich genutzt, aber noch zu selten reflektiert. Habe uns hier gerade durch eine Pro-Search von Felo.ai ausarbeiten lassen: “Wie und warum wirkte sich die Häufigkeit von Komposita auf die deutschsprachige Philosophie, Politik- und Rechtsgeschichte aus?”:

    Die Häufigkeit von Komposita hat die deutschsprachige Philosophie, Politik- und Rechtsgeschichte auf verschiedene Weisen beeinflusst. Komposita sind Wortzusammensetzungen aus zwei oder mehr Wörtern, die zur Konkretisierung, Vereinfachung und Detaillierung wichtiger Aspekte dienen. Die Zusammensetzung ist eine etablierte Praxis und die wichtigste Methode der Wortschatzerweiterung im Deutschen [14].

    ### Einfluss auf die Philosophie

    Die deutsche Sprache eignet sich besonders gut für philosophische Abhandlungen, da sie durch Komposita komplexe Konzepte präzise ausdrücken kann. Diese Eigenschaft hat die Entwicklung der deutschen Philosophie gefördert, indem sie die Formulierung abstrakter Gedanken erleichtert hat. Hegel nutzte die Dialektik als philosophische Argumentationsmethode, die auf einem widersprüchlichen Prozess zwischen verschiedenen Seiten basiert [27].

    ### Einfluss auf die politische Rhetorik

    In der politischen Rhetorik tragen Komposita zur Prägnanz und emotionalen Wirkung von Botschaften bei, indem sie komplexe Sachverhalte und politische Themen in zentralen Begriffen bündeln [6]. Sie werden gezielt eingesetzt, um Meinungen zu formen oder Assoziationen hervorzurufen, wobei die Objektivität manchmal eine untergeordnete Rolle spielt. Nazi-Propaganda nutzte Wiederholungen, um Botschaften zu verstärken und eine kollektive Vorstellung von der Realität zu erzeugen [6].

    ### Einfluss auf die Rechtsgeschichte

    Im Bereich der Rechtsgeschichte hat die Fähigkeit, präzise juristische Konzepte durch Komposita zu formulieren, zur Entwicklung des deutschen Rechtssystems beigetragen [1]. Die Kodifizierung des deutschen Privatrechts im 19. Jahrhundert wurde durch die Möglichkeit unterstützt, komplexe rechtliche Konzepte in präzisen Komposita auszudrücken. Das deutsche Rechtssystem zeichnet sich durch kodifiziertes Recht aus, insbesondere im Privatrecht, und wurde maßgeblich von Österreich, Deutschland und der Schweiz beeinflusst [1].

    ### Morphologisierung

    Die Häufigkeit von Komposita hat auch die Morphologisierung bestimmter Sprachstrukturen beeinflusst, wie bei Nomen-Partizip-Kombinationen, die im Laufe der letzten 300 Jahre zunehmend als graphemische Einheiten geschrieben werden [19]. Diese Entwicklung zeigt, wie die Frequenz von Komposita die Sprachstruktur selbst verändert hat.

    ### Quantitative Aspekte

    Es gibt quantitative Überlegungen zu Komposita, die sich mit der Anzahl der Lexeme in Komposita und der Häufigkeit verschieden langer Komposita befassen. Komposita bestehen aus zwei oder mehr Konstituenten, wobei Zusammensetzungen aus zwei bzw. drei Konstituenten im Deutschen überwiegen [12].

    ### Komposita im Vergleich

    Im Vergleich zu anderen Sprachen neigt die deutsche Sprache stark zur Bildung von Komposita. Im Schwedischen tragen Komposita zur Ästhetik und Effizienz der Sprache bei, indem sie mehrere Bedeutungen kompakt zusammenfassen [16]. |

    [1] https://www.ieg-ego.eu/en/threads/crossroads/legal-families/elisabeth-berger-the-german-legal-system
    [2] https://exhibitions.ushmm.org/propaganda/1933-1939-dictatorship/voices-of-the-excluded
    [3] https://academic.oup.com/book/46456/chapter/407750846
    [4] https://aeon.co/essays/eric-voegelin-hans-kelsen-and-the-debate-over-nazism
    [5] https://guides.ll.georgetown.edu/germanlegalresearch
    [6] https://slate.com/news-and-politics/2017/03/how-nazi-propaganda-encouraged-the-masses-to-co-produce-a-false-reality.html
    [7] https://ouclf.law.ox.ac.uk/the-german-civil-code-and-the-development-of-private-law-in-germany/
    [8] https://en.wikipedia.org/wiki/Germany%E2%80%93United_States_relations
    [9] https://www.annallergy.org/article/S1081-1206(24)00153-4/fulltext
    [10] https://www.researchgate.net/publication/359232517_The_Variable_Persuasiveness_of_Political_Rhetoric
    [11] https://www.friedrich-verlag.de/friedrich-plus/sekundarstufe/deutsch/grammatik/des-tages-licht-771
    [12] https://journals.pan.pl/Content/108327?format_id=1
    [13] https://d-nb.info/980289963/34
    [14] https://ir.ua.edu/bitstream/handle/123456789/1871/file_1.pdf?sequence=1
    [15] https://phaidra.univie.ac.at/open/o:1298205
    [16] https://schreibmentoren.de/newsroom/die-morphologie-und-ihre-bedeutung-in-der-linguistik/
    [17] https://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-002E-E500-C/Komposita-Erstglieder_SR.pdf?sequence=1&isAllowed=y
    [18] https://repozitorij.ffos.hr/islandora/object/ffos:5656/datastream/PDF/download
    [19] https://link.springer.com/article/10.1007/s11525-023-09407-6
    [20] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30024261/
    [21] https://www.researchgate.net/publication/324507087_Compound_Reading_in_German_Effects_of_Constituent_Frequency_and_Whole-Word_Frequency_in_Children_and_Adults
    [22] https://www.grafiati.com/en/literature-selections/translating-into-romanian/journal/
    [23] https://www.researchgate.net/publication/286121223_Identical_constituent_compounds_in_German
    [24] https://oxfordre.com/linguistics/display/10.1093/acrefore/9780199384655.001.0001/acrefore-9780199384655-e-939?p=emailA4.5vwVfwGv4o&d=/10.1093/acrefore/9780199384655.001.0001/acrefore-9780199384655-e-939
    [25] https://www.mdpi.com/2076-0760/12/7/391
    [26] https://germanstudiesdepartmenaluser.host.dartmouth.edu/Wortbildung/Komposita.html
    [27] https://plato.stanford.edu/entries/hegel-dialectics/
    [28] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110214611.1.139/pdf?srsltid=AfmBOooxJFJ5gSiDb4op3s7x_b1A_pidyk-F75efU8cu7dFzLex3wIMS
    [29] https://d-nb.info/1218381957/34
    [30] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110203318-013/pdf?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOoqizUj_EOAoIuIysQNN9UXTewaJAFPqkQmflMKOApW6mV_tO3Gd
    [31] https://liechtenstein-institut.li/download_file/e8d5aa85-2404-45e3-b2da-2bf627ce7056/281
    [32] https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/de/article/1253.die-historisch-kritischen-editionen-von-kapital-band-i-in-der-mega-unabdingbarer-ausgangspunkt-einer-neuen-textausgabe.html
    [33] https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783956507380-11.pdf?download_full_pdf=1&page=1
    [34] https://pdfcoffee.com/epdfpubdeutsch-als-fremd-und-zweitsprache-2-halbbandpdf-pdf-free.html
    [35] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110203271-018/pdf?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOoqRW83OwazORV6efKtm_XqFAr_9eLNJ6liq3IhN4whHw7UckbEy
    [36] https://www.academia.edu/11791926/Wissensgeschichten_Zug%C3%A4nge_Probleme_und_Potentiale_in_der_Erforschung_mittelalterlicher_Wissenskulturen
    [37] https://dokumen.pub/anthropologie-im-anthropozn-theoriebausteine-fr-das-21-jahrhundert-9783534274345-9783534274383-9783534274390-3534274342.html
    [38] https://dokumen.pub/recht-und-kultur-im-frhmittelalterlichen-alemannien-rechtsgeschichte-archologie-und-geschichte-des-7-und-8-jahrhunderts-9783110459432-9783110452945.html
    [39] https://dokumen.pub/zwieschlchtigkeit-sprachwissenschaftliche-zugnge-zur-unterbestimmtheit-bei-karl-marx-max-weber-georg-friedrich-knapp-und-gustav-radbruch-9783110727357-9783110727173.html
    [40] https://diskursmonitor.de/glossar/komposita/
    [41] https://quillbot.com/de/blog/substantive/komposita/
    [42] https://talkpal.ai/de/culture/deutsche-philosophie-und-deren-sprache/
    [43] https://de.wikipedia.org/wiki/Komposition_(Grammatik)
    [44] https://www.reddit.com/r/German/comments/d8mqla/german_language_is_full_of_compounds_komposita/?tl=de
    [45] https://www.jstor.org/stable/43641716
    [46] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110278439.197/html?lang=de&srsltid=AfmBOooG3tLbiybXQXss2wqmYacHOLA6mlP74zUEMSnG36Y2f4e9Hy55
    [47] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/verschwoerungsmythos-als-aufklaerender-kompositbegriff/
    [48] https://www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.7788/boehlau.9783412216818.281
    [49] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110278439/html?lang=de&srsltid=AfmBOoqKOy8ZR3xlE4Jmw8t4m6Qje9y5nzRArQwjB_Sq9ErTDCvUjdfy
    [50] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110114263.1.1.62/pdf?srsltid=AfmBOooBSMAdtxK2GX8hfLdmnzL02zbfhyLrjg-jA5oq2LsWGaWxhmlp
    [51] https://forhistiur.net/legacy/zitat_alt/0710muehlemann.htm
    [52] https://univerlag.uni-goettingen.de/bitstream/handle/3/isbn-978-3-86395-605-9.8/scheuermann_08_galgenbergen.pdf?sequence=1&isAllowed=y
    [53] https://www.friedrich-verlag.de/friedrich-plus/sekundarstufe/deutsch/grammatik/bandwurmwortanalysewettkampfgewinner-770
    [54] https://www.scribbr.de/substantive/komposita/
    [55] https://phaidra.univie.ac.at/open/o:1285784
    [56] https://www.studysmarter.de/schule/deutsch/grammatik/komposition-linguistik/

  2. Auf Mastodon wurde gerade zu diesem Blogpost gefragt:

    “Gelten also die sehr verkürzten Implikationen:

    Kompositworte in der Lutherbibel => Aufklärung (=> Demokratie)

    Hashtags => Thymokratie?

    Oder anders gefragt:
    Wurden die Menschen durch die Eleganz der Kompositwörter zum Denken ermächtigt und werden nun von der Flut an #Hashtags in ihrer eigenen Wahrheit ertränkt?”

    https://sueden.social/@87Barner@mastodon.social/114266626347106726

    Habe darauf wie folgt geantwortet:

    “Medien – und also auch #Kompositworte – sind stets ambivalent. Einerseits können sie Begriffe von Philosophie, Recht und Aufklärung naturalisieren wie z.B. #Weltanschauung & #Bundesrepublik. Andererseits aber können sie auch in dualistische Esoteriken führen, wie etwa die Komposita #Ariosophie oder auch #Nationalsozialismus. Medien eröffnen Macht, Sprache als primäres Medium besonders viel davon. Doch was wir daraus machen, liegt in unserer jeweiligen Freiheit & Verantwortung.”

    https://sueden.social/@BlumeEvolution/114266665747509251

    Das Nachdenken und Dialogisieren über die Macht von Medien und insbesondere Sprache, Begriffsarbeit machen aus meiner Sicht sehr viel Sinn!

    Hier auch die erste Folge von “Verschwörungsfragen” dazu, vom 31. März 2020:

    https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/verschwoerungsfragen-folge-3-die-macht-der-sprache-und-verschwoerungsmythen-vs-verschwoerungstheorien/

    Danke allen, die sich interessieren und einbringen!

  3. Gibt hier einen recht frischen Text übers Lachen auf Spektrum, der auch das menschliche Gesicht als Kompositum outet – obere und untere Hälfte bewegen sich getrennt voneinander und erzeugen neue „Begriffe“ Wie ein Logogramm mit zwei Elementen.

    Eine kleine Anmerkung – „Verschwörungsmythos“ ist auch deswegen schöner als „-theorie“, weil’s kürzer ist. Wenn Ideologien neue Wörter erfinden, vergessen sie oft, dass in der Kürze die Würze liegt (bei Internet-Kommentaren auch, aber ich bin verrückt, ich darf alles). Alltagssprache mag nichts, was über drei Silben geht, und Komposita haben da nur deshalb eine Chance, weil das Gehirn sie immer noch wie zwei Wörter wahrnimmt. [Wegen unangemessener Sprache gekürzt, M.B.]

    Das Zusammenfügen von Widersprüchen – These, Antithese, Synthese – ist Dualismus, wie ich ihn mag: Beim Konflikt zerstören sich beide Seiten nicht gegenseitig, sondern finden zueinander. Ich mach das ja selber, wenn ich mich darüber ärgere, dass sich die Welt entlang der Linien von Aktiv und Passiv teilt, und die Demokratie es nicht schafft, sich aus beiden Quellen zu speisen, sondern alles Aktive diversen Extremisten überlässt. Hat aber mehr mit Sammelbegriffen zu tun als mit Komposita, die Extremisten reduzieren das Leben auf Hyperlinks, die sich beim Anklicken als leere Worthülsen erweisen, die Demokraten verstehen nicht, dass man alle Vielfalt hinter Hyperlinks verstecken muss, statt die Menschheit damit zu quälen, sonst wird das Leben unlebbar.

    Synthese ist auch etwas, was das Gehirn von selbst betreibt, wenn es aus alten Bausteinen neue Programme bastelt. „Schäfer“ ist ein Kompositum aus „Vater“ und „Jäger“, und wenn jemand, der Sie liebt und schützt, Sie auch gnadenlos abmurksen und verschlingen kann, ohne dass ihm der Widerspruch auffällt, zeigt das, das wir unserem Verstand nicht allzu sehr trauen sollten – Wahrnehmung folgt Nutzen, wenn er keinen Profit daraus sieht, einen inneren Widerspruch zu bemerken, bleibt er blind dafür.

    • Lieben Dank, @Paul S – gerne gehe ich auf einige Aussagen Ihres Drukos ein.

      Eine kleine Anmerkung – „Verschwörungsmythos“ ist auch deswegen schöner als „-theorie“, weil’s kürzer ist. Wenn Ideologien neue Wörter erfinden, vergessen sie oft, dass in der Kürze die Würze liegt (bei Internet-Kommentaren auch, aber ich bin verrückt, ich darf alles).

      Ja, Komposita können die Sprache verkürzen und damit verdichten: “Wortbildung” ist kompakter als jede “Bildung von Worten”.

      Alltagssprache mag nichts, was über drei Silben geht, und Komposita haben da nur deshalb eine Chance, weil das Gehirn sie immer noch wie zwei Wörter wahrnimmt.

      Das sehe ich anders – direkt auch am Beispiel “Alltagssprache”, die gegenüber der “Sprache im Alltag” zu einem Wort naturalisiert worden ist.

      Den Begriff “Naturalisierung” schlug dabei ein Kollege vor und ich wehrte mich anfangs dagegen, weil es ja eine mediale und also kulturelle Verdichtung sei. Doch er hatte damit Recht, dass sich Kompositbegriffe mit zunehmend häufiger Verwendung natürlich und selbst-verständlich anfühlen, als ein neues Ding. Vgl. auch das englische naturalization als Einbürgerung. Kurze Komposita bürgern neue Substantive in die Sprache ein und naturalisieren sie damit.

      Betrachten wir das Kompositum Alltagssprache in der Übersetzung in andere Sprachen, so werden die Unterschiede sogar noch deutlicher:

      1. Englisch: everyday language / colloquial language
      2. Griechisch: καθημερινή γλώσσα (kathimeriní glóssa)
      3. Hebräisch: שפת יום-יום (s’fat yom-yom)
      4. Arabisch: لغة الحياة اليومية (lughat al-hayat al-yawmiyya)

      Beachten Sie dabei bitte auch, dass Griechisch und Englisch jafetitische, also vollvokalisierte und also rechtsläufige Alphabete sind, Hebräisch und Arabisch dagegen semitische, also vokalarme und entsprechend linksläufige Alphabete. Dazu sprach ich ausführlicher u.a. in Tübingen:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/ein-komposita-text-gegen-die-deep-state-verschwoerungsmythen-in-der-welt/

      Das Zusammenfügen von Widersprüchen – These, Antithese, Synthese – ist Dualismus, wie ich ihn mag: Beim Konflikt zerstören sich beide Seiten nicht gegenseitig, sondern finden zueinander.

      Das ist richtig, wäre aber besser als dialogische Dualität statt als feindseliger Dualismus zu bezeichnen.

      Synthese ist auch etwas, was das Gehirn von selbst betreibt, wenn es aus alten Bausteinen neue Programme bastelt.

      Ja, denn unsere Gehirne sind neuronale Netzwerke und arbeiten entsprechend auch als solche. Wobei “Netzwerk” im Kontext der digitalen Hashtag-Kultur sogar bereits ein internationales Ein-Wort, im Englischen auch ein Kompositum geworden ist!

      1. Englisch: network
      2. Griechisch: δίκτυο (díktyo)
      3. Hebräisch: רשת (reshet)
      4. Arabisch: شبكة (shabaka)

      Ihnen Dank für die immer wieder anregenden Drukos, @Paul S!

  4. Na toll. Da wollte ich nur nett grüßen und ein kleines Kompositum droppen und als Dank bekomme ich Ulf Poschardt vor den Latz geknallt. 😉

    Die extreme Rechte ist leider sehr gut darin, wirkmächtige Komposita zu schaffen bzw. zu verbreiten. Schon das Lesen oder Hören eines dieser Begriffe kann beklemmend wirken. Beispiele: Herrenvolk, Endlösung, Rassenhygiene, Dolchstoß, Messermänner, Kopftuchmädchen …

    Dazu kommen die Verbindungen von Menschengruppen mit Tieren, oft Schweine. Fast hätte ich zwei solcher Begriffe in die Beispielliste aufgenommen, aber ich mag die echt nicht aufschreiben. Da ist das Gewicht mancher Komposita körperlich zu spüren. Sprache hat Macht. Kein Wunder, dass die MAGAs das Bildungssystem einhegen und Listen mit unerwünschten Wörtern propagieren. Begriffskontrolle durch den Überwachungsstaat.

  5. Die deutsche Sprache ist voll von Komposita. Der weitaus größte Teil der Begriffe dürften zusammengesetzte Substantive sein. Mit dem Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän wurde das Ganze auf die Spitze getrieben.

    Dass Komposita darüber hinaus einen solchen bemerkenswertesten Einfluss auf so viele Gebiete hatten, war mir nicht bewusst. Ich sehe in den Komposita nichts besonderes, aber habe doch wieder etwas dazugelernt.

    Zu Ihrem Druko von heute, 6.53 Uhr kann ich nur feststellen, dass ich mir einige Begriffe und deren Bedeutung erst einmal suchen musste. Morphologisierung, graphemisch, Lexeme – noch nie gehört geschweige denn deren Bedeutung. Manchmal darf man sich ausgeschlossen fühlen.

    • Danke & ja, @Marie H. – ich fühle das auch so! Vor den Fachbegriffen der Linguistik habe ich noch sehr viel Respekt, wenn nicht gar Angst… 🤓💁‍♂️📚

      Gleichzeitig musste ich medienwissenschaftlich zugeben, dass sich das Begriffsfeld „Morgenland“ und „Abendland“ deutlich von „Orient“ und „Okzident“ unterscheidet. Auch als ich über „Herzensbildung“, „Demokratiebildung“ und „Vermögensbildung“ zu sprechen hatte, wurde mir die Besonderheit und auch mediale Wucht von Komposita sehr deutlich!

      In meiner Demokratiebildung-Rede zu Tübingen ging ich dann erstmals damit raus & freue mich über das breite, oft auch anfangs überraschte Interesse:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/ein-komposita-text-gegen-die-deep-state-verschwoerungsmythen-in-der-welt/

      In dieser Rede bezog ich mich auch auf das baden-württembergische Sparkassengesetz, das mich schon in der Finanzausbildung fasziniert hatte & das ich aufgrund der Vielzahl tiefer Kompositworte für nahezu unübersetzbar halte! 💁‍♂️📚😉

      Hier nur ein (inhaltlich & sprachlich faszinierender!) Abschnitt:

      § 6
      Unternehmenszweck, öffentlicher Auftrag

      (1) Die Sparkassen sind selbstständige Wirtschaftsunternehmen in kommunaler Trägerschaft mit der Aufgabe, auf der Grundlage der Markt- und Wettbewerbserfordernisse vorrangig in ihrem Geschäftsgebiet den Wettbewerb zu stärken und die angemessene und ausreichende Versorgung aller Bevölkerungskreise, der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands, und der öffentlichen Hand mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen auch in der Fläche sicherzustellen. Sie unterstützen damit die Aufgabenerfüllung der Kommunen im wirtschaftlichen, regionalpolitischen, sozialen und kulturellen Bereich sowie bei dem Schutz des Klimas und der Anpassung an die unvermeidbaren Folgen des Klimawandels. Die Sparkassen fördern den Sparsinn und die Vermögensbildung breiter Bevölkerungskreise und die Wirtschaftserziehung der Jugend.

      Irgendwann möchte ich mal nur zu diesem Gesetzesabschnitt schreiben & sprechen! 🤓📚🇩🇪🇪🇺✅

  6. Es gelingt mir zwar noch nicht immer, aber ich versuche inzwischen in Gesprächen oder bei Online-Diskussionen doch nur noch vom “Verschwörungsmythos” statt von der “Verschwörungstheorie” zu sprechen bzw. zu schreiben.

    Vielleicht hilft mir dabei auch das (natur)wissenschaftliche Studium, bei dem ich beigebracht bekam, dass eine “Theorie” eben nicht eine Hypothese, Vermutung oder Spekulation ist, wie es im alltäglichen Sprachgebrauch oft angewandt wird.

    Und freue mich heute über die Meldung aus Wisconsin, USA zum bemerkenswerten Kompositum Richterwahl:

    Da hat ZIEGE Musk nun Abermillionen in die Hand genommen, um die Wahl durch (vermutlich illegale) Geschenke an treue MAGA-Jünger und kräftiges Rühren der Trommel im Sinne seines (noch) “besten” Freundes Donald zu beeinflussen. Aber die Bürger von Wisconsin haben ihm einen “Effenberg gezeigt. 🙂

    PS: ZIEGE = englische Übersetzung von GOAT = Greatest Of All Time. Ich kann dabei einfach nicht widerstehen. 😉

    • Vielen Dank für diesen Druko, @RPGNo1 – denn GENAU darum ging und geht es mir!

      “Es gelingt mir zwar noch nicht immer, aber ich versuche inzwischen in Gesprächen oder bei Online-Diskussionen doch nur noch vom “Verschwörungsmythos” statt von der “Verschwörungstheorie” zu sprechen bzw. zu schreiben.

      Vielleicht hilft mir dabei auch das (natur)wissenschaftliche Studium, bei dem ich beigebracht bekam, dass eine “Theorie” eben nicht eine Hypothese, Vermutung oder Spekulation ist, wie es im alltäglichen Sprachgebrauch oft angewandt wird.”

      Solange wir – sei es aus Unbedachtheit, Reaktanz oder Dualismus – am Kompositum “Verschwörungstheorie” festhalten, leiten wir, so meine ich, die beteiligten Gehirne in die Begriffsfelder wissenschaftlicher Theorien wie der Evolutionstheorie oder der Einsteinschen Relativitätstheorien. Sogar für diejenigen von uns, die eine universitäre, wissenschaftliche Bildung erfahren haben, ist das schwer zu bearbeiten. Für große Teile der Öffentlichkeit ist das kaum zu leisten.

      Es ist sachlich falsch und psychologisch fatal, Verschwörungsmythen ins Begriffsfeld wissenschaftlicher Theorien zu schieben und damit kognitiv und kulturell zu „adeln“. Antisemitismus, Rassismus und Sexismus sind keine Wissenschaften, sondern menschenverachtende (Verschwörungs-)Mythologien.

      Kurz: Wer das stärkere Kompositum Verschwörungsmythos sagt und schreibt, verweist auf die notwendige Unterscheidung der Begriffe und will ernsthaft und allgemeinverständlich aufklären.

      Deswegen habe ich die Hoffnung, dass der bessere Begriff “Verschwörungsmythen” den veralteten Begriff “Verschwörungstheorien” nach und nach Richtung Äther verabschieden wird, wo sie gerne Themen der Fantastik bleiben dürfen.

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