Verschwörungsfragen 58: Dialog mit der Podcast-AG der Lessing-Schulen Stuttgart

Die nahezu allen Menschen gemeinsame Psychologie der Reaktanz lässt sich fachdeutsch definieren als Widerwillen gegen Veränderungen. Der weise Douglas Adams (1952 – 2001), (u.a. Autor von “Per Anhalter durch die Galaxis”) fasste die Reaktanz jedoch humorvoll in die “Drei Regeln der Technologie”:

  1. Alles, was bei der Geburt existiert, gilt als völlig normal und selbstverständlich.

  2. Technologien, die zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr entstehen, werden als aufregend und revolutionär gefeiert.

  3. Alles, was nach dem 35. Lebensjahr erfunden wird, wird als unnatürlich und gefährlich bewertet.

Mir geht es da gar nicht anders – und deswegen steuere ich bewusst in Dialogen mit meinen Kindern, mit meinen Studierenden in Berufs- und Medienethik am KIT Karlsruhe und mit Schulen dagegen. Statt wie schon Sokrates mit Verbotslust über die Alphabetisierung zu maulen, möchte ich lernen und begleiten.

Links das Heft 07/2025 von "Gehirn & Geist" mit der Titelgeschichte "Gehirn und KI im Dialog", rechts die Neuausgabe von "Verschwörungsmythen" von Michael Blume, 2025.

Der große Sokrates sah im Alphabet eine Gefahr für die Zukunft, aber für mich gehören Bücher und Wissenschaftszeitschriften zum sinnvollen Leben. Foto: Michael Blume

Ein Vorbild für eine lebenslange Technik- und Medienoffenheit war mir dabei der Holocaust-Überlebende und Freund Meinhard Mordechai Tenné (1923 – 2015), an den ich mit seinen Söhnen Jacques & Jan in der letzten Folge von Verschwörungsfragen erinnerte. Also sprach ich den geschätzten Lehrer der Lessing-Schulen Ulrich Gerst an, der mit einer Podcast-AG Medienbildung so betreibt, wie ich sie mir wünsche – als dialogisches Herausbilden von Medienprosumentinnen & Medienprosumenten. Die These dahinter lautet: Schülerinnen und Schüler, die selbst gelernt haben, Medien zu produzieren, werden diese fortan auch kritischer und verantwortungsvoller konsumieren.

Die Podcast-Page der Lessing-Schulen Stuttgart zeigt verschiedene, bereits aufgenommene Podcast-Gespräche, die mit wenigen Klicks kostenlos angehört werden können.

Die von Schülerinnen und Schülern selbst mitverantwortete und gestaltete Podcast-Seite der Lessing-Schulen Stuttgart zeigt, wie aktive Medienbildung bereits heute geht und in ganz Baden-Württemberg gehen sollte. Meine ich. Screenshot: Michael Blume

Der bewusste Umgang mit Medien – nicht nur anwendungsbezogene Medienkompetenz, sondern dialogisch reflektierte Medienbildung – wird dabei nach meiner Einschätzung sowohl individuell wie auch gesellschaftlich immer wichtiger für den Lebenserfolg der Menschen. So wies ich bereits in meinem ersten Bericht gegen Antisemitismus an den Landtag von Baden-Württemberg 2019 auf S. 35 ausdrücklich darauf hin:

“Jedes demokratische System setzt voraus, dass sich Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen, möglichst hochwertigen Medien über politische Vorgänge sowie Kandidatinnen und Kandidaten informieren können. Der Beauftragte unterstützt daher Stimmen in der Staatsrechtslehre, die dafür plädieren, neben den unverzichtbaren Rollen von Judikative, Exekutive und Legislative auch die Publikative – als Summe aller Medien – stärker zu gewichten und zu diskutieren.”

Ein kurzes Erklärvideo dazu finden Sie bei Interesse unten.

Nun aber freue ich mich, Ihnen hiermit die Verschwörungsfragen-Folge 58 als Dialog mit der Podcast-AG der Lessing-Schulen vorstellen zu dürfen! Sie ist wie immer via Podigee und bei allen gängigen Streamern zu finden.

Die Verschwörungsfragen-Kachel des Staatsministeriums Baden-Württemberg zeigt Dr. Michael Blume und den Schriftzug "Der Podcast des Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus".

Podcast-Kachel mit Link zur Verschwörungsfragen-Folge 58. Grafik: Staatsministerium BW

 

Avatar-Foto

Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

10 Kommentare

  1. Kurzum, der Mensch ist kaum in der Lage, zwischen sich selbst und der Welt um ihn herum zu unterscheiden.

    Den Jungen sind stark, ihnen wird das Neue als Tribut zu Füßen gelegt. Die Erwachsenen sind mit dem Alltag überfordert, ihnen wird das Neue zugemutet. Die Alten werden von einer Verschwörung von ihrem eigenen Körper und Universum hingerichtet, sie werden mit dem Neuen genauso ermordet, wie mit dem Gegenwärtigen, [Wegen unangemessener Sprache gekürzt, M.B.]

    • Schade, @Paul S. – da wäre Ihnen gedanklich fast ein großer Gedanke gelungen, leider hat es aber dann doch wieder an der Sprache gehapert.

      Kurzum, der Mensch ist kaum in der Lage, zwischen sich selbst und der Welt um ihn herum zu unterscheiden.

      “Der Mensch” ist nun mal nicht Teil einer abgetrennten Umwelt, sondern einer wechselwirkenden Mitwelt. Wir schützen ja auch nicht das Klima – dem sind Temperaturen völlig egal. Wir schützen Zustände, in denen wir und auch künftige Generationen noch gut und erfüllt leben können.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-feuer-von-los-angeles-umwelt-klima-oder-endlich-mitweltschutz/

      Ein aktuelles Beispiel ist die Pflanzenkrankheit Stolbur, die sich durch die Erhitzung vor allem in den Gebirgsregionen der DACH-Länder von Süddeutschland her nach Norden ausbreitet.

      https://www.youtube.com/shorts/aFTc6qXK0wc

      Zuerst wurden Zuckerrüben weich, dann Kartoffeln, nun sind auch Zwiebeln, Sellerie, Rote Beete, Kohl, Möhren sowie teils Rhabarber und Paprika betroffen: Die Schilf-Glasflügelzikade verbreitet die Pflanzenkrankheit Stolbur und bedroht die Landwirtschaft. Nach Angaben des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums ist speziell in Süddeutschland die Versorgung mit heimischen Kartoffeln, Gemüse und Zucker gefährdet. Die Schäden gehen nach Schätzung des Landesbauernverbandes allein im Südwesten “in die Millionen”. Erste Betriebe stellen den weiteren Anbau infrage. Und der Klimawandel beflügelt die Ausbreitung.

      https://www.n-tv.de/wissen/Zikade-verursacht-welke-Kartoffeln-Ernte-in-Gefahr-article25821919.html

      Das Bakterium dazu wird als Candidatus Phytoplasma solani bezeichnet und es wird durch Stiche der Schilf-Glasflügelzikade auf Pflanzen übertragen, die dadurch für Menschen ungenießbar werden.

      Es wäre also schon gut, wenn wir gerade auch im Interesse junger Menschen stärker auf unsere Mitwelt achten würden.

      Den Jungen sind stark, ihnen wird das Neue als Tribut zu Füßen gelegt.

      Gemeint sind wohl “Die Jüngeren”, denen wir Älteren aber keineswegs nur “Tribut zu Füßen” legen, sondern eine fossil verursachte, globale Erhitzung, jeder Menge fossil finanzierter Kriege, Terror- und Propagandagruppen sowie enorme Schulden. In den USA wackelt “dank” der Chaos-Politik des US-Thymokraten Donald Trump inzwischen sogar die Zahlungsfähigkeit des Staates…

      https://www.n-tv.de/wirtschaft/Trump-hat-den-sicheren-Hafen-der-Finanzmaerkte-vermint-article25812522.html

      Die Erwachsenen sind mit dem Alltag überfordert, ihnen wird das Neue zugemutet.

      Ja, wobei das wohl nie ganz anders war. Auch der von mir sehr geschätzte Begründer der Dialogphilosophie Sokrates soll bereits die Alphabetisierung abgelehnt haben, weil sie die Jugend verderbe. Es ist immer das gleiche Lied, seit Jahrtausenden und gegen jedes neue Medium.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-verbotslust-gegen-neue-medien-die-ki-fussabdruck-falle/

      Genau da versuche ich, nicht mitzuspielen, sondern bewusst den Dialog auch der Generationen zu führen. Und ich finde, gerade auch an dieser Folge von “Verschwörungsfragen” können Zuhörende aller Altersgruppen jede Menge lernen!

      Die Alten werden von einer Verschwörung von ihrem eigenen Körper und Universum hingerichtet, sie werden mit dem Neuen genauso ermordet, wie mit dem Gegenwärtigen,…

      Meine Güte, was für ein Gejammer! Richtig ist, dass sich auch der Zelltod im evolutionären Spiel oft als adaptiv erwiesen hat, weil sich damit Generationen besser und vor allem vielfältiger umwälzen können.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/ist-sterben-adaptiv-die-evolution-des-todes/

      Der Evolutionsprozess besteht eben nicht nur aus dem “Überleben des Fittesten”, wie es oft bis heute falsch tradiert wird. Der Evolutionsprozess besteht aus dem Dreiklang von Vielfalt (Mutation, Radiation), kooperativem Wettbewerb (Selektion, oft auch in der Beziehung zu anderen) und Reproduktion (und zum Erziehen von Menschenkinder braucht es mehr als nur die Kleinfamilie). Und wir dürfen sogar hoffen und glauben, dass das Ganze dann auch noch Sinn macht und über unser kurzes, irdisches Leben hinausweist. Ich finde, da steht gerade auch den Älteren von uns etwas Gelassenheit, ja Dankbarkeit doch ganz gut.

      Ihnen einen schönen Tag und eine gute Woche!

  2. @Michael 10.06. 12:30

    „Und wir dürfen sogar hoffen und glauben, dass das Ganze dann auch noch Sinn macht und über unser kurzes, irdisches Leben hinausweist.“

    Ein Faktum Zeit in der Ewigkeit mag uns ausmachen? Gelebt ist gelebt. Ist die Vergangenheit wirklich verschwunden? Ich glaube nicht. Kann die Physik das klären?

    Sich mit anderen und letztlich dem ganzen Kosmos zu verbinden, das mag aber wirklich unser Leben ausmachen. So bleibt unser Leben ganz klar auch in den nachfolgenden Zeiten enthalten, sozusagen als Zahnrad in einem Weltgetriebe.

    Unsere Wahl ist es dann auch, welche Entwicklungen wir ganz persönlich mit vorantreiben. Indem wir dann auch Teil unserer eigenen Projekte werden können, gestalten wir die Welt mit, und unser eigenes Leben ganz klar sowieso.

    So macht das eigene Leben definitiv seinen Sinn. Nur dabei sein ist schon viel, vernünftig dabei sein noch viel mehr.

  3. Es war sehr lehrreich zuzuhören. Gerade das, was die Schüler und die Schülerin erzählen, hat mich beeindruckt.

    Meine Kinder sind Mitte bzw. Ende 20. Aber sie scheinen mit ihren Erfahrungen (Internet; KI war in deren Schulzeit noch kein Thema) schon Lichtjahre von den vier Jugendlichen im Podcast entfernt zu sein.

    Wo ich Ihnen widersprechen muss, ist folgendes Zitat:

    “Alles, was nach dem 35. Lebensjahr erfunden wird, wird als unnatürlich und gefährlich bewertet.”

    ME ist “Alles” doch sehr überspitzt! Ich denke da beispielsweise an Entwicklungen technischer Art im Bereich der Pflege.

    An Pfingsten haben K2 und ich intensiv diskutiert.

    Zum Thema Schilf Glasflügelzikade und die Folgen für heimische Lebensmittel bleibt ein entsetztes Kopfschütteln. Und auch Unverständnis für die Fossilisten, wie zB die Ludwig Erhard Stiftung. Den Artikel hatte ich ja gestern verlinkt.
    Ja, wenn es zu wenig Kartoffeln etc gibt, können wir immer noch Kuchen essen. Marie Antoinette lässt grüßen.

    Ich hoffe vor allem für die jungen Leute, dass sie genügend Resilienz gegen den ganzen Wahnsinn entwickeln.

    Allen, die an der Podcast-Folge beteiligt waren, ein herzliches Dankeschön!

  4. Man darf mich jetzt gerne mit irgendwelchen Begriffen wie Besserwisser oder “schöner” 😉 belegen (ich bin dann nicht eingeschnappt) aber:

    Die nahezu allen Menschen gemeinsame Psychologie der Reaktanz lässt sich fachdeutsch definieren als Widerwillen gegen Veränderungen.

    trifft das nicht ganz. Reaktanz beinhaltet Widerwillen gegen Veränderungen. Der entsteht aber als Reaktion auf das Gefühl das diese den eigenen Freiheitsrahmen beschränken.
    Als psychische Reaktion, die entsteht, wenn ein Mensch das Gefühl hat, seine Freiheit oder Autonomie werde eingeschränkt ist sie schon anders als Angst vor dem Unbekannten oder vor Kontrollverlust (das ist halt Angst … ).
    So als Nichttherapeut auf mein eigenes Verhalten geschaut ist der Unterschied ziemlich konkret, das ich auf Angst in der Regel mit Rückzug und Vermeidung reagiere (in der Regel!).
    Bin ich reaktant ist meine Aktion nach Außen gerichtet und ich reagiere mit Zorn (nicht Wut).

    Das mir das so ins Auge springt sagt vieleicht mehr über mich als mir lieb ist 😉

    • Danke, @Uli Schoppe – es freut mich, dass so ein vertieftes Interesse besteht!

      Und, ja, strenggenommen richtet sich Reaktanz gegen den gefühlten Verlust von Freiheiten, bei neuen Medien aber über Umwege: Wenn alle anderen anders kommunizieren, dann muss ich auch…

      Habe Perplexity.ai mal dazu gepromptet und eine außerordentlich ausführliche und konkrete Antwort erhalten!

      ## Grundlagen der Reaktanztheorie

      ### Definition und theoretische Fundierung

      Psychologische Reaktanz wird definiert als “die Motivation zur Wiederherstellung eingeengter oder eliminierter Freiheitsspielräume”[1]. Diese Definition erfasst das Kernwesen des Phänomens, bei dem Menschen auf wahrgenommene Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit mit einem charakteristischen Motivationszustand reagieren. Die Reaktanztheorie wurde 1966 von J.W. Brehm formuliert und beschreibt einen psychologischen Erregungs- und Motivationszustand, der als Reaktion auf eine wahrgenommene Freiheitseinschränkung einer Person eintritt[2]. Diese versucht durch verschiedene Handlungen ihre wahrgenommene Verhaltensfreiheit weiter aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen[2].

      Die theoretische Bedeutung der Reaktanz liegt darin, dass sie nicht das ausgelöste Verhalten selbst bezeichnet, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung[1]. Dies macht sie zu einem besonders wertvollen Konzept für das Verständnis menschlicher Reaktionen auf Autoritäten, Regeln und gesellschaftliche Erwartungen. Reaktanz ähnelt dem Trotz, unterscheidet sich jedoch dadurch, dass sie spezifisch aus der Beschneidung von Freiheit entsteht, während Trotz auch andere Ursachen haben kann[1]. Diese Abgrenzung ist wichtig für das Verständnis der verschiedenen Formen menschlicher Widerstandsreaktionen.

      ### Voraussetzungen für die Entstehung von Reaktanz

      Damit psychologische Reaktanz auftritt, müssen drei zentrale Bedingungen erfüllt sein[1][2]. Erstens muss die Person überzeugt sein, über bestimmte Freiheitsspielräume zu verfügen. Diese Freiheitserwartung ist fundamental, da Reaktanz nur dann entstehen kann, wenn Menschen ursprünglich erwartet haben, über die bedrohte oder verlorene Option frei verfügen zu können[5]. Fehlt diese Freiheitserwartung, führt der Verlust einer Alternative eher zu einer Abwertung der verlorenen und einer Aufwertung der verfügbaren Optionen[5].

      Zweitens muss die Person diese Freiheitsspielräume für wichtig halten[1][2]. Die bedrohte Freiheit muss mit wichtigen Bedürfnissen verknüpft sein, und das Ausüben der Freiheit sollte mit hinreichender Sicherheit dem eigenen Wohlbefinden dienen[5]. Diese subjektive Bewertung der Wichtigkeit kann sich durchaus von objektiven Maßstäben unterscheiden und ist oft emotional gefärbt. Drittens muss die Person eine Einengung, Bedrohung oder gar Elimination der Freiheitsspielräume wahrnehmen[1][2]. Diese Wahrnehmung kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden, einschließlich sozialer Einflussnahme, Umweltgegebenheiten oder persönlicher Entscheidungen[2].

      ## Manifestationen und Auswirkungen von Reaktanz

      ### Typische Verhaltensweisen und Reaktionsmuster

      Reaktanz manifestiert sich auf charakteristische Weise durch eine Aufwertung der eliminierten Alternative[1][5]. Dies bedeutet, dass gerade diejenigen Freiheiten, die der Person genommen wurden, nun als besonders wichtig erlebt werden. Ein bemerkenswertes Phänomen ist, dass die betroffene Handlungsmöglichkeit der Person zuvor völlig unwichtig gewesen sein kann[1]. Im Extremfall hat die Person von dieser Handlungsmöglichkeit vor dem Eintreten der Beschränkung nie Gebrauch gemacht, übt die Handlung aber seit dem Eintreten der Einschränkung aus[1].

      Reaktantes Verhalten besteht darin, solche Handlungen “nun erst recht” auszuführen[1]. Auf diese Weise möchte sich die betroffene Person diese Freiheiten gleichsam erzwingen, auch wenn dies gar nicht mehr möglich ist[1]. Diese Trotzreaktion kann zu irrationalen Verhaltensweisen führen, die dem objektiven Interesse der Person zuwiderlaufen. Wenn eine sehr starke oder nicht mehr zu ändernde Einschränkung der Handlungsfreiheit vorliegt, kann dies auch dazu führen, dass alternative Freiheiten ausgeübt werden, die einen ähnlichen Stellenwert haben, aber nicht von der Einschränkung betroffen sind[1].

      ### Reaktanz in verschiedenen Kontexten

      Die Reaktanztheorie erklärt verschiedene alltägliche Phänomene, die typischerweise bei Verboten, unter knappen Ressourcen oder bei durchschaubaren Beeinflussungsversuchen auftreten[5]. Ein klassisches Beispiel ist der “Reiz des Verbotenen”[1], bei dem ein Gegenstand oder eine Verhaltensoption dadurch aufgewertet wird, dass man seine Zugänglichkeit durch ein Verbot einschränkt[5]. Die historische Anekdote über Zarin Katharina die Große illustriert dies: Sie soll dem russischen Volk die Kartoffel als Gemüse attraktiv gemacht haben, indem sie Kartoffeläcker einzäunen und den Diebstahl unter Strafe stellen ließ[5].

      Ähnlich verhält es sich mit der Verknappung von Ressourcen, wo Dinge attraktiver werden, wenn sie nur eingeschränkt verfügbar sind[5]. Die Werbeindustrie nutzt diesen Effekt systematisch, indem sie die Aufmerksamkeit der Konsumenten auf Produkte lenkt, die nur in limitierter Stückzahl vorhanden sind[5]. Bei Beeinflussungsversuchen kann eine Einflussnahme auf die freie Meinungsbildung vom Rezipienten wie eine Freiheitseinschränkung erlebt werden und Reaktanz auslösen[5]. Die Reaktanz besteht hier in der Abwertung der beeinflussenden Kommunikation oder des Kommunikators, was zu einem Bumerangeffekt führt, bei dem der Sender das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen wollte[5].

      ## Dr. Michael Blumes Perspektive auf Reaktanz

      ### Reaktanz als Hindernis für wissenschaftliche Kommunikation

      Dr. Michael Blume betrachtet Reaktanz als einen zentralen Faktor, der die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse erschwert[3][4]. Er definiert Reaktanz als “emotionale Widerstände gegen den Verlust früherer Ansprüche”[3] und sieht sie als besonders relevant für das Verständnis von Widerständen gegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Blume beobachtet, dass gerade ältere, formal durchaus gebildete Herren oft mit viel mehr Reaktanz gegen neue Erkenntnisse reagieren als beispielsweise jüngere Frauen[3]. Seine Erklärung dafür ist, dass Menschen, die früher auf Seiten der Privilegierten standen, wissenschaftliche Erkenntnisse öfter als “Zumutung” empfinden, die ihnen etwas “vorschreiben” oder “wegnehmen”[3].

      Diese Analyse ist besonders relevant für kontroverse wissenschaftliche Themen. Blume führt konkrete Beispiele an: Reaktionen auf die Gleichberechtigung der Geschlechter (“Wie jetzt – Frauen seien ebenso begabt wie Männer? Dann werden sie ja wohl nicht auch noch wählen wollen!”), auf Umweltschutzmaßnahmen (“Ach was – Massentierhaltung schadet unserem Planeten? Ich lasse mir das Fleischessen doch nicht verbieten!!!”) oder auf Gesundheitsmaßnahmen (“Ach, ich soll mich gegen Covid19 impfen lassen? Das ist doch sicher nur eine Erfindung der Pharmalobby!”)[3]. Diese Reaktionen zeigen den irrationalen Freund-Feind-Dualismus, der aus dem Widerwillen gegen bedrohliche Erkenntnisse entsteht[3].

      ### Verbindung zu Verschwörungsmythen und gesellschaftlichen Problemen

      Blume sieht einen direkten Zusammenhang zwischen Reaktanz und der Entstehung von Verschwörungsmythen[3]. Statt besonnen auf unvollständiges Wissen zu reagieren, wird auf Schein-Wissen bestanden[3]. Diese Reaktionen führen häufig in Dualismus und Verschwörungsglauben und sind keineswegs nur in den USA zu beobachten[3]. Vielmehr stellt Blume fest, dass gerade im föderal organisierten Alpenraum Reaktanz, Antisemitismus und Impfskepsis weit verbreitet sind[3].

      Diese Beobachtung ist wissenschaftlich und gesellschaftlich bedeutsam, da sie aufzeigt, wie psychologische Mechanismen zu gefährlichen gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen können. Blume warnt vor den potenziell tödlichen Folgen solcher reaktanten Reaktionen, wenn sie dazu führen, dass wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert oder abgelehnt werden[3]. Seine Analyse macht deutlich, dass Reaktanz nicht nur ein harmloses psychologisches Phänomen ist, sondern ernsthafte Auswirkungen auf die Gesundheit und Sicherheit von Gemeinschaften haben kann.

      ### Reaktanz als Barriere für Energiewende und Klimaschutz

      In seiner Arbeit zur Wissenschaftskommunikation zeigt Blume auf, wie Reaktanz die Verbreitung wichtiger Erkenntnisse über erneuerbare Energien und Klimaschutz behindert[4]. Er beschreibt seine über zehnjährigen Bemühungen mit Büchern, Vorträgen, Blogposts und anderen Formaten, die Erkenntnisse der Rentierstaatstheorie und der Ressourcenfluch-Theorie bekannter zu machen[4]. Dabei stellt er fest, dass es meist kein böser Wille ist, der es Menschen schwer macht, sondern “Anpassungsschmerz (Reaktanz & kognitive Dissonanz)” sowie das “Konkurrenzprinzip der Aufmerksamkeitsökonomie”[4].

      Blume beobachtet, dass sich Wissen allenfalls langsam über Medienblasen ausbreitet und dabei “zerblasen” wird[4]. Eine von ihm durchgeführte Mastodon-Umfrage ergab, dass 78% der 152 Antwortenden die Zusammenhänge zwischen fossilen Gewaltenergien und erneuerbaren Friedensenergien kannten[4]. Diese hohe Zustimmung war jedoch nur innerhalb einer kleinen Blase von ohnehin Interessierten zu verzeichnen, was die begrenzte Reichweite wissenschaftlicher Kommunikation verdeutlicht[4]. Die Reaktanz gegen Veränderungen in der Energiepolitik und im Umweltverhalten zeigt sich als bedeutsame Barriere für notwendige gesellschaftliche Transformationen.

      ## Implikationen für Wissenschaftskommunikation und Gesellschaft

      ### Strategien zum Umgang mit Reaktanz

      Die Erkenntnisse über Reaktanz haben wichtige Implikationen für die Gestaltung von Wissenschaftskommunikation und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Wenn Reaktanz durch wahrgenommene Freiheitseinschränkungen ausgelöst wird, müssen Kommunikationsstrategien so entwickelt werden, dass sie die Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Zielgruppen respektieren. Dies bedeutet, dass direktive Ansätze (“Du musst…”) oder Verbote kontraproduktiv sein können und stattdessen auf Information, Wahlmöglichkeiten und Empowerment gesetzt werden sollte.

      Blumes Analyse macht deutlich, dass besonders bei privilegierten Gruppen, die einen Statusverlust befürchten, sensible Kommunikationsstrategien erforderlich sind[3]. Die Herausforderung besteht darin, wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln, ohne Reaktanz auszulösen, die zur Ablehnung der Botschaft führt. Dies erfordert möglicherweise längerfristige Ansätze, die auf Vertrauensaufbau und schrittweise Bewusstseinsbildung setzen, anstatt auf schnelle Überzeugung durch Argumente.

      Die Verbindung zwischen Reaktanz und Verschwörungsmythen[3] unterstreicht die Notwendigkeit, nicht nur wissenschaftliche Inhalte zu kommunizieren, sondern auch kritische Denkfähigkeiten und Medienkompetenz zu fördern. Wenn Menschen lernen, ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf neue Informationen zu reflektieren, können sie besser zwischen rationalen Argumenten und reaktanten Impulsen unterscheiden.

      ## Fazit

      Reaktanz erweist sich als ein fundamentales psychologisches Phänomen, das weitreichende Auswirkungen auf die Aufnahme und Verarbeitung wissenschaftlicher Informationen hat. Dr. Michael Blumes Analysen zeigen eindrücklich auf, wie emotionale Widerstände gegen wahrgenommene Freiheitseinschränkungen zu irrationalen Reaktionen führen können, die gesellschaftlich wichtige Erkenntnisse blockieren. Seine Beobachtungen zur Verbindung zwischen Reaktanz, Privilegienverlust und Verschwörungsmythen bieten wertvolle Einsichten für das Verständnis aktueller gesellschaftlicher Polarisierungen.

      Die Relevanz von Reaktanz für die Wissenschaftskommunikation zeigt sich besonders deutlich in kontroversen Bereichen wie Klimaschutz, Gesundheitspolitik und gesellschaftlichem Wandel. Blumes langjährige Erfahrungen in der Kommunikation über erneuerbare Energien verdeutlichen, wie schwierig es ist, auch gut belegte wissenschaftliche Erkenntnisse in der Breite der Gesellschaft zu etablieren, wenn sie als Bedrohung bestehender Freiheiten oder Privilegien wahrgenommen werden. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für Wissenschaftskommunikatoren relevant, sondern für alle, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse verstehen und gestalten wollen.

      [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Reaktanz_(Psychologie)
      [2] https://www.wipub.net/reaktanz/
      [3] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/reaktanz-unsere-gefuehle-gegen-die-wissenschaft/
      [4] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/schmerz-konkurrenz-warum-sich-das-wissen-um-erneuerbare-friedensenergien-und-die-wasserkrise-so-langsam-verbreitet/
      [5] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/reaktanztheorie/12520
      [6] https://www.bidt.digital/wp-content/uploads/sites/2/2025/02/bidt-Jahresbericht-2024.pdf
      [7] https://www.youtube.com/watch?v=EDlXJ9oWWuk
      [8] https://www.studienstiftung.de/portraets-interviews/michael-blume-wir-brauchen-wieder-einen-bildungsbegriff-der-sich-seiner-juedischen-christlichen-und-humanistischen-wurzeln-bewusst-ist
      [9] https://flexikon.doccheck.com/de/Reaktanz_(Psychologie)
      [10] https://www.mustafa-bilgin.de/psychologische-reaktanz
      [11] https://de.linkedin.com/pulse/reaktanz-im-berufsleben-sabine-prohaska-ka8ff
      [12] https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/reaktanz-45104
      [13] https://scilogs.spektrum.de/positive-psychologie-und-motivation/wachstum-widerstand-teil-ii-lernen/
      [14] https://sueden.social/@BlumeEvolution/114522471712894407
      [15] https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus
      [16] https://social.bakdos.de/tag/wissenschaft
      [17] https://uni-freiburg.de/schweigen-schreien-scheitern-veranstaltungsreihe-zum-israel-palaestina-konflikt-an-der-universitaet-freiburg/
      [18] https://openscience.ub.uni-mainz.de/bitstreams/3fdb6644-f148-4d8b-95ad-9e242d8c8f4a/download
      [19] https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/mathematisch-naturwissenschaftliche-fakultaet/fachbereiche/informatik/lehrstuehle/neuronale-informationsverarbeitung/news/newsfullview-aktuell/article/nachgefragt-wie-hilft-religioese-bildung-gegen-antisemitismus-kibor-auf-der-didacta/

  5. Was den Blogartikel angeht: Was da passiert ist, das eine Schule tatsächlich ihren Job macht 🙂
    https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/medienkompetenz-355/539983/medienkompetenz-und-schule/
    Die KMK wollte das, und das ist auch gut so.
    Der Podcast vom Podcast zeigt dann auch, dass unsere jungen Menschen besser sind als ihr Ruf. Schon Sokrates, Platon und Aristoteles schimpften auf die Jugend. Man sieht wie lange sich das schon hinzieht ^^
    Wem das Verhalten unserer Jugendlichen nicht passt darf sich gerne zuerst an die eigene Nase fassen und fragen, was er selbst und die anderen Erwachsenen falsch gemacht haben. “Die wollen das so!° ist offensichtlich falsch.

    @ Michael Blume
    10.06.2025, 21:57 Uhr

    Danke, @Uli Schoppe – es freut mich, dass so ein vertieftes Interesse besteht!

    Einfach immer nur Kritik hinklatschen ist billig und in meinen Augen schon fast menschenverachtend.
    Wer sich Mühe macht mir etwas nahe zu bringen hat es einfach verdient, das ich mir bei der Beschäftigung Mühe gebe. Und auch feedback gebe, das sich die Mühe gelohnt hat. Mache ich hiermit.

    • Vielen Dank, @Uli Schoppe, auch für den Link zum lesenswerten bpb-Artikel “Medienkompetenz und Schule“.

      Wobei mich die Einleitung etwas verwirrt hat, denn Sprache und Schrift einschließlich Zahlen „sind“ doch eindeutig selbst Medien! Dort werden sie aber als “Kulturtechnik“ von digitalen Medien abgesetzt:

      “Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule umfasst nicht nur wichtige Kulturtechniken wie das Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch den Erwerb von Medienkompetenz.“

      Sehr überzeugend finde ich dagegen den breiten Ansatz der Kultusministerkonferenz KMK:

      Die Kultusministerkonferenz hat im Jahr 2016 für die schulische Bildung in Deutschland einen verbindlichen Kompetenzrahmen beschlossen, der die Förderung von Kompetenzen in den folgenden Bereichen für alle Schulfächer vorschreibt:

      Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren,
      Kommunizieren und Kooperieren,
      Produzieren und Präsentieren,

      Schützen und sicher Agieren,
      Problemlösen und Handeln,
      Analysieren und Reflektieren.

      Hier habe ich nun noch einmal „Kommunizieren und Kooperieren, Produzieren und Präsentieren“ hervorgehoben, denn:

      Als Dozent für Medienethik unterscheide ich zwischen Medienkompetenz als Wissen von der Anwendung der jeweiligen Medientechnologie und Medienbildung als selbstwirksame und reflektierte Produktion der jeweiligen Medientechnologie.

      Ich bin medienkompetent im Lesen und Schreiben oder Podcasten, wenn ich das Alphabet beherrsche oder verschiedene Podcasts anhören kann. Mediengebildet bin ich jedoch erst, wenn ich Rückmeldungen auf meinen Artikel in der Schulzeitung oder eine selbst produzierte Podcast-Folge bekommen habe.

      Schon 2017 stellte ich am KIT Karlsruhe die aus meiner Sicht zentrale Unterscheidung zwischen passiv Medienkonsumierenden und aktiv Medienprosumierenden vor.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/seminar-fuer-medien-und-berufsethik-am-kit-karlsruher-institut-fuer-technologie/

      So wird es beispielsweise einer Leserin von 1100 Büchern mitunter viel bedeuten, wenn sie auch selbst ein Buch oder Buchkapitel veröffentlicht hat. Ich meine, dass es hier um nicht weniger als den zentralen Unterschied der Erfahrung mit Medien zur Weltwahrnehmung (passiv) und Weltmitgestaltung (aktiv) geht. Medienbildung kontert Reaktanz, da sie neue Freiheitsräume fühlbar, erfahrbar macht.

      Aus all diesen Gründen finde ich die Poscast-AG so stark, habe im Gespräch viel gelernt und finde, der Lehrer Ulrich Gerst ist ein Vorbild für die dialogische Vermittlung von Medienbildung weit über Medienkompetenz hinaus.

Schreibe einen Kommentar