Vernunft und Glauben in den Wissensgesellschaften – Rückblick auf die Barcelona-Konferenz
BLOG: Natur des Glaubens
Nachdem die "Explaining Religion"-Konferenz in Bristol 2010 bereits einiges in Schwung gebracht hat, hatte ich mich über die Einladung, in Barcelona zu "Vernunft und Glauben in den Wissensgesellschaften" ("Reason and Belief in the Societies of Knowledge") zu sprechen, sehr gefreut. Und die Erwartungen wurden weit übertroffen, es gelang nicht nur ein Dialog, sondern auf vielen Feldern auch eine Annäherung von Begriffen und Standpunkten etwa zwischen kognitiven und evolutionären Ansätzen in der Religionsforschung sowie zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven insgesamt. Einen englischsprachigen Blogreport mit ein paar Bildern dazu habe ich auf "Biology of Religion" eingestellt.
Was ist "Wissen"?
Was "Wissen" genau sei, ist ja seit Jahrhunderten immer wieder ein Thema erbitterter – und weit reichender – Debatten. Erkenntnistheoretische Monisten definieren Wissen von nur einem Zugang her, meist der religiösen Offenbarung (religiöser Fundamentalismus, ich zitiere im Vortrag die kreationistische Gruppe Answers in Genesis) oder der Wissenschaft (Szientismus, ich zitiere im Vortrag Sam Harris).
Aus Sicht evolutionärer Erkenntnistheorie lassen sich solche Fragen jedoch nicht durch theoretische Debatten alleine entscheiden, sondern sie sind empirisch zu bearbeiten. Jede Form von Wissen oder Erkenntnis werde hierbei auch im Zeitverlauf wieder und wieder überprüft. Berühmt ist die Antwort des bedeutenden Zoologen and Paläontologen George Gaylord Simpson (1902 – 1984) auf die Frage nach der Belastbarkeit von Erkenntnissen:
To put it crudely but graphically, the monkey who did not have a realistic perception of the tree branch he jumped for was soon a dead monkey—and therefore did not become one of our ancestors.
— George Gaylord Simpson
This View of Life: The World of an Evolutionist (1963), 98.
(Deutsche Übersetzung):
Um es grob, aber bildhaft auszudrücken: Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und wurde also keiner unserer Vorfahren.
Nach diesem Maßstab aber können Künste oder auch Religionen nicht einfach als Fehlwahrnehmungen abgetan werden: Zumindest für religiöse Vergemeinschaftungen ist inzwischen vielfach belegt, dass sie mit deutlich höheren Potentialen an Kooperations- und Reproduktionserfolg (und damit evolutionärer Fitness) einher gehen als "nur" wissenschaftliche Welterklärungen. Wie schon einmal in einem Artikel aus 2009 habe ich diesen Befund auch im Barcelona-Vortrag in einer Aussage verdichtet:
While non-religious Evolutionists tend to bring up far more scientific arguments, religious Creationists tend to bring up far more children!
(Deutsche Übersetzung):
Während nicht-religiöse Evolutionsforscher tendenziell viel mehr wissenschaftliche Argumente hervor bringen, haben religiöse Kreationisten tendenziell viel mehr Kinder!
Selbstverständlich ist das kein Gottesbeweis, aber doch eine empirische Widerlegung der Hypothese, wonach es nur eine Form der Erkenntnis bzw. des Wissens gäbe, die der (evolutionär) erfolgreichen Navigation in der Wirklichkeit dienen könne. Dagegen sprach ich mich für einen erkenntnistheoretischen Pluralismus aus, der anerkennt, dass Menschen etwa in Kunst oder Religion "Wissen" – im Sinne von bewährten Kenntnissen – erwerben, das über die Beschreibung durch empirisch-wissenschaftliche Daten und Hypothesen hinaus geht (oder dieser sogar widerspricht) – und dennoch evolutionär erfolgreich sein kann. So sind die Darstellungen auf Picasso-Gemälden oder der Glauben, von Gott geschaffen und Ihm gegenüber verantwortlich zu sein, empirisch-wissenschaftlich nicht überprüfbar – bieten Menschen aber doch künstlerisches bzw. religiöses Wissen an, das aus evolutionärer Sicht "wirksam" sein kann.
Damit scheint m.E. der empirische Befund die Eigengesetzlichkeit unterschiedlicher Erkenntnisbereiche – wie Wissenschaft, Kunst, Religion – klar zu unterstreichen, die nicht nur von großen Religionsgemeinschaften wie der katholischen Kirche vertreten wird, sondern auch von nichtreligiösen Evolutionsbiologen wie Stephen Jay Gould (1941 – 2002) als "nicht-überlappende Wirkbereiche", "non-overlapping magisteria – NOMA", anerkannt wurde. Demnach wären wissenschaftliche Hypothesen, Kunstwerke oder religiöse Mythologien nicht einfach Aussagen gleicher Art, sondern vermittelten verschiedene – ggf. nachweisbar nützliche – Arten von Wissen.
Übrigens: Bahnbrechend neu ist diese Erkenntnis nicht, sondern als Unterscheidung etwa von Wahrem, Gutem und Schönen bereits in verschiedener Form in der griechischen Antike (z.B. Platon), bei Immanuel Kant und eben in der heutigen, evolutionären Erkenntnistheorie angelegt. Als Wissenschaftler bewegen wir uns aber natürlich immer wieder in der Gefahr, unseren bevorzugten Erkenntnisweg absolut zu setzen und beispielsweise die Beiträge von Künstlerinnen, Literaten, Philosophinnen oder Religionsgelehrten vorschnell und pauschal als "unwissenschaftlich" abzuwerten. Die evolvierende Wirklichkeit leistet jedoch allzu eindimensionalen Weltbildern offenkundig Widerstand…
Der Vortrag in Barcelona hat nicht nur Freude gemacht, sondern auch rege Resonanz gefunden, so dass ich gebeten wurde, ihn auch in schriftlicher Form zugänglich zu machen. Diesem Wunsch kam ich gerne nach, selbstverständlich damit auch für die Leserinnen und Leser von "Natur des Glaubens":
Verstehe ich gerade nicht
Weil religiöse Menschen mehr Kinder zeugen sind religiöse Ansichten gleichwertig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen?
[polemik] Das heißt also wenn ungebildete Menschen 12 Kinder zeugen und von Hartz IV ernähren, dann sollten alle die Schule abbrechen, weil es anscheinend evolutionär von Vorteil ist? [/polemik]
Das ist nicht böse gemeint, aber diese Argumentation erschließt sich mir nicht. Könntest du das bitte ein wenig ausführen?
@cero
ich habe auch schonmal angemerkt, dass bei dieser sehr eingeschränkten Sicht, die Kannichen den Menschen bei weitem “überlegen” wären.
Soweit ich weiss geht es in der Evolution um die langfristige Sicherung der Art und nicht um möglichst viele Ableger pro Zeiteinheit …
@Blume
Das ist doch eine ganz einfache Frage, wenn man einfach den Begriff Knowledge oder Wissen löscht.
Nich jede erfolgreiche Theorie/Strategie ist auch eine Theorie, die die Falsifikation überlebt. Wenn Sie alle erfolgreichen Theorien/Strategien als Wissen ansehen wollen, können Sie das gerne machen, aber dann ist diese Diskussion nichts anderes als ein Kampf um Sprachgebrauch und Anerkennung.
Es gibt gute Gründe warum man ein holistisches Weltbild anstrebt und Wissen(in meinem Verständnis) allgemeingültig sein sollte. Wenn Sie das ändern wollen wünsch ich ihnen viel Spaß dabei, aber erstere Strategie hat in kürzester Zeit Berge versetzt und mit letzterem schlagen wir uns nun schon etliche tausend Jahre herum… Ja und die letzteren kriegen mehr Kinder ich weiß…
@cero
Die Argumentation ist: Offenkundig war und ist empirisch-wissenschaftliches Wissen nicht ausreichend, um evolutionär erfolgreich zu navigieren. Dagegen können religiöse Überlieferungen sogar dann evolutionär außerordentlich erfolgreich sein, wenn sie empirisch-wissenschaftliches Wissen teilweise oder vollständig ablehnen (wie es z.B. religiöse Kreationisten tun).
Und es ist ja sogar noch ein Stück deutlicher: Wir kennen keine demografisch stabilen, nichtreligiösen Populationen. Es ließe sich evolutionär also durchaus annehmen, dass Religion(en) (und ggf. auch Kunst bzw. Künste) sogar ein “notwendiger” Bestandteil menschlicher Wissensbildung sind.
Mit der Hypothese des erkenntnistheoretischen Monismus, wonach es nur eine Form des Wissens gäbe (z.B. im Szientismus) und andere Wissenszugänge (z.B. Kunst oder Religion) minderwertig oder gar einfach “falsch” wären, gehen diese Befunde nicht zusammen.
Wie ein erkenntnistheoretischer Pluralismus jedoch zu verstehen wäre – dazu stehen die Forschungen und Überlegungen noch sehr am Anfang. In einem der nächsten Blogposts werde ich aber z.B. eine evolutionäre Kunsttheorie vor- und zur Diskussion stellen.
@Sascha Bohnenkamp: Arterhaltung?
Nein, die “Arterhaltung” ist ein Konzept von Lorenz, das in der Evolutionsforschung längst nicht mehr vertreten wird.
http://de.wikipedia.org/wiki/Arterhaltung
Ich zitiere:
“Als Arterhaltung bezeichnet man ein seit Mitte der 1970er Jahre logisch und empirisch widerlegtes Konzept der Evolutionsbiologie.”
Die Evolutionsforschung heute arbeitet dagegen mit dem Begriff der evolutionären Fitness:
http://de.wikipedia.org/wiki/Fitness_(Biologie)
Ich zitiere wieder:
“Als Fitness im engeren Sinne oder Darwin-Fitness bezeichnet man die Anzahl der fortpflanzungsfähigen Nachkommen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Individuums. Häufig wird die Fitness eines Individuums nicht direkt anhand der Gesamtzahl seiner Nachkommen errechnet, sondern indem man diese Zahl mit dem durchschnittlichen Fortpflanzungserfolg anderer Individuen [innerhalb einer Art, Erg. Blume] in Beziehung setzt, woraus sich ein Wert ergibt, der auch als relative Fitness bezeichnet wird.”
Und entlang evolutionärer Erkenntnistheorie sind Erkenntnisse (z.B. ästhetischer Art), die die Fitness von Individuen über Generationen hinweg erhöhen, nicht einfach als “falsch” abzutun, auch wenn sie sich der wissenschaftlichen Überprüfung entziehen.
@cero: Noch eine Ergänzung…
…zur Aussage : [polemik] Das heißt also wenn ungebildete Menschen 12 Kinder zeugen und von Hartz IV ernähren, dann sollten alle die Schule abbrechen, weil es anscheinend evolutionär von Vorteil ist? [/polemik]
Hier liegt ein naturalistischer Fehlschluss vor: Aus der Beobachtung von Evolutionsprozessen lässt sich keineswegs direkt ein normatives “Sollen” ableiten! Sonst landet man schnell im Sozialdarwinismus, der Rechtfertigung von Vergewaltigungen o.ä.!
Womit wir wiederum genau an dem Punkt angelangt wären, um den es mir geht: Offenkundig reicht eine ausschließlich wissenschaftlich-empirische Beschreibung der Welt auch hier nicht aus, erfolgreich ist nicht gleich “gut”, sondern wir benötigen zusätzlich z.B. Gefühle, Künste, Philosophien, Theologien (etc.) um die empirisch-wissenschaftlichen Befunde zu werten, zu reflektieren und in unser Leben zu übersetzen. Danke also für das “polemische” Aufzeigen jener Lücke(n), die die Evolutionsforschung – so sehr ich sie schätze und betreibe – in der Tat nicht alleine schließen kann! 🙂
@Anton Maier
Danke für Ihre Einschätzung!
Nicht jede erfolgreiche Theorie/Strategie ist auch eine Theorie, die die Falsifikation überlebt.
Und von wissenschaftlich erfolgreichen Theorien scheint der Mensch nicht alleine leben zu können – sondern (auch) solche zu benötigen, die sich jenseits dieses Magisteriums bewähren. Stellt Picassos Guernica eine empirisch oder statistisch haltbare Abbildung des Geschehens dar? Keineswegs, es wäre damit klar “falsifiziert”. Nur wäre ein solcher Blick auf Kunstwerke ja völlig verkürzt und, nun ja, “un-wissend”. Ebenso können wir die Kenntnisse von Thora, Talmud (etc.), die z.B. ein jüdischer Rabbiner über Jahre hinweg erworben hat, unterschiedlich bewerten – aber eine Form des (allenfalls teilweise wissenschaftlich verifizierbaren) Wissens stellt es wohl dar. (Übrigens stammt ja auch der Begriff der “Bildung” selbst ursprünglich aus dem protestantisch-religiösen Kontext!)
Es gibt gute Gründe warum man ein holistisches Weltbild anstrebt und Wissen(in meinem Verständnis) allgemeingültig sein sollte. Wenn Sie das ändern wollen wünsch ich ihnen viel Spaß dabei, aber erstere Strategie hat in kürzester Zeit Berge versetzt und mit letzterem schlagen wir uns nun schon etliche tausend Jahre herum…
Das sehe ich gar nicht soviel anders: Allerdings muss m.E. ein anzustrebendes holistisches Weltbild und Weltwissen dann eben auch jene Dimensionen von Evolution, Kunst und Religion umfassen, die ggf. nicht in unsere persönlichen Vorlieben passen. Alles auszugrenzen, was manche vielleicht nicht mögen, wäre m.E. gerade kein überzeugender Holismus.
Sinnigerweise haben Sie dies ja gerade auch selbst demonstriert, indem Sie ein biblisches Sprachbild (vom Glauben, der Berge versetzt) abgewandelt und damit “Wissen” gezeigt haben… Ein wirklich Unwissender hätte diese Anspielung ggf. gar nicht verstanden!
Ja und die letzteren kriegen mehr Kinder ich weiß…
Nicht nur “mehr”, sondern überhaupt nur ausreichend Kinder, um demografisch (und evolutionär) zu bestehen. Und gerade “wenn” wir wissenschaftliches Wissen für so wichtig halten, wie wir beide es offenbar tun, können wir m.E. an solchen Befunden nicht einfach vorbei gehen. Ein Kreationist mag all diese evolutionären Befunde abfällig ignorieren – aber aus wissenschaftlicher Perspektive sind Evolutionsgeschichte und evolutionäre Fitness ja gerade nichts Banales…
Was wissen wir eigentlich?
Nach langer Überlegung und Beschäftigung mit dem Thema Religiösität, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Spiritualität oder Religiösität ein kreatives Verhalten ist.
Mit den jeweiligen Kausalitäten, Umständen, Umwelteinflüssen, baut das Lebewesen Mensch sich ein kreatives Muster, das zeitlich immer anpasst wird, dabei sind Gefühle immer der Auslöser.
Jedes dieser Gefühle ist natürlich und hat die gleiche Motivation, wie die Verteilung von Energie.
Dabei frage ich mich nur, auch wenn wir die Vernunft zur Befriedigung unserer Emotion einsetzen können, ob diese auch immer richtig handelt.
Steckt im religiösen Handeln nicht eine natürliche Heuristik?
Wer kennt es nicht, man grübelt und grübelt, dabei war die spontane Entscheidung die bessere Wahl.
Jetzt aktuell bei der PID Debatte, wird auch das Thema Abtreibung aufgekocht.
Ich habe nur ein Frage an die Atheisten, wenn Sie das Leben so schätzen und es als großen Glücksfall sehen, ist es ethisch vertretbar, einem Menschen diese Chance zu verweigern?
Nur weil man materialistische Ziele vertritt?
(Dawkins schreibt im Gotteswahn, dass man das Leben in vollen Zügen ausnutzen muss, da es ein riesiger Glücksfall ist.)
(Das betrifft jetzt die Abtreibung)
Der Geist lebt gewissermassen in einem Dualismus, denn nur das Leben hat einen Wert, nur dafür werden Bestattungen durchgeführt, nicht für Materie.
Wird ein Auto geliebt ist das m.E. ein Unvermögen an Selbstreflexion, wie der Vogel der sein Spiegelbild füttert und umwirbt, gibt er Ihm die Gefühle weiter, obwohl wir wissen, dass die Motivation dem Lebewesen gilt.
Oder siehe auch Gorillas, auch Menschenaffen trauern um vergangenes Leben und ich wette, in der Tierwelt lassen in naher Zukunft mehrere solcher Beispiele finden.
Da hier alle gerne am Thema vorbei schreiben, tu’ ich das auch gerne, 🙂
letztens las ich einen Kommentar, der zu einem Video führte, eine Reportage über türkische Mitbürger bei dem Fussballspiel:
Deutschland gegen Türkei.
mit dem Kommentar: Für den Herr Blume unserem Fussball-Fan.
Ich möchte als Antwort nur auf Mallorca hinweisen, sehen Sie es mir nach, wenn ich mir nicht die Mühe mache einen Link suchen. (->da trivial)
Aber in Sachen Integration, sind die Deutschen auch keine Weltmeister.
Emotionalität wird bei den Deutschen nur etwas anders ausgelebt.
Auch wenn ich Religiösität als kreativ betrachte, sehe ich für sie kein Ende, da sie immer adaptive Wege finden wird, solange die Emotion existiert.
Das sehe ich bei mir,
ich lese jedes atheistische Buch um neue Erkentnisse zu erlangen und ich kann einfach kein Atheist sein, immer wieder kehre ich zum christlichen Glauben zurück nur mit neuen kreativen Ideen. Wenn ich nicht glauben darf, da es “Bullshit” ist, ziehe ich mir einen kreative Grenze, die für mich kontraproduktiv ist.
@Tim
Ein Spaziergang an Reflektionen! 🙂
Ja, “Kreativität” scheint mir auch ein Schlüsselwort zu sein, wobei sich lebendige, religiöse Traditionen ja stets in der Erhaltung von Bewährtem und der Reaktion auf Neues bewähren müssen. Es freut mich nicht, aber oft sind ja die traditional-orthodoxen Varianten (z.B. unter den Amishen, im Judentum etc.) dabei durchaus erfolgreicher als liberalere Strömungen.
Zentral scheint mir vor allem das personale Element zu sein: Der religiöse Mensch glaubt eben nicht (nur) an ein Etwas, sondern an Jemand – und ist ggf. auch bereit, von diesen überempirischen Akteuren (wie Ahnen, Engel, Götter, Gott) dann auch Gebote anzunehmen, die sich in der (bio-)kulturellen Evolution durchschnittlich bewährt haben.
Und, ganz klar: Wir wissen noch immer viel zu wenig, haben ja nicht einmal ordentliche, evolutionäre Definitionen von Erkenntnis, Wissen oder Bildung. Aber in Barcelona war es erfreulich zu erleben, dass immer mehr Kolleginnen und Kollegen ganz unterschiedlicher Fächer auf der Spur dieser Fragen sind!
oha…
die vielen Fehler, kommen gerade von meiner dösigen Stimmung. Pardon!
@Michael
“
Und von wissenschaftlich erfolgreichen Theorien scheint der Mensch nicht alleine leben zu können – sondern (auch) solche zu benötigen, die sich jenseits dieses Magisteriums bewähren.
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Das ist doch reine Polemik. Niemand hat behauptet allein von Wissenschaft leben zu können. Nur weil eine Strategie erfolgreich ist, muss sie deshalb nicht Wissen genannt werden. Wenn doch ist es doch der oben genannte Geltungsdrang.
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Stellt Picassos Guernica eine empirisch oder statistisch haltbare Abbildung des Geschehens dar? Keineswegs, es wäre damit klar “falsifiziert”.
Nur wäre ein solcher Blick auf Kunstwerke ja völlig verkürzt und, nun ja, “un-wissend”.
“
Das sind doch simple Unterstellungen und kein Gegenbeispiele. Keine Hypothese –> keine falsifikation. Um Wissen genannt werden zu dürfen brauch es einer falsifizierbaren Hypothese, dass sie da einfach son Unsinn unterstellen zeigt garnichts und ist auch kein Gegenbeispiel.
“
Ebenso können wir die Kenntnisse von Thora, Talmud (etc.), die z.B. ein jüdischer Rabbiner über Jahre hinweg erworben hat, unterschiedlich bewerten – aber eine Form des (allenfalls teilweise wissenschaftlich verifizierbaren) Wissens stellt es wohl dar. (Übrigens stammt ja auch der Begriff der “Bildung” selbst ursprünglich aus dem protestantisch-religiösen Kontext!)
“
Auch wenn der Rabi die ein oder ander falsifizierbare Hypothese hat schulde ich ihm keinen respekt, weil er nebenbei noch ganz andere Sachen verzapft.
“Das sehe ich gar nicht soviel anders: Allerdings muss m.E. ein anzustrebendes holistisches Weltbild und Weltwissen dann eben auch jene Dimensionen von Evolution, Kunst und Religion umfassen, die ggf. nicht in unsere persönlichen Vorlieben passen. Alles auszugrenzen, was manche vielleicht nicht mögen, wäre m.E. gerade kein überzeugender Holismus.
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Holismus setzt voraus, dass die Theorien kompatibel sind und nicht erfolgreich. Religionen sind nicht kompatibel bis auf einige äußerst abgespeckte Varianten a la Einstein etc. Religion wissenschaftlich betrachtet aber schon.
“
Nicht nur “mehr”, sondern überhaupt nur ausreichend Kinder, um demografisch (und evolutionär) zu bestehen. Und gerade “wenn” wir wissenschaftliches Wissen für so wichtig halten, wie wir beide es offenbar tun, können wir m.E. an solchen Befunden nicht einfach vorbei gehen. Ein Kreationist mag all diese evolutionären Befunde abfällig ignorieren – aber aus wissenschaftlicher Perspektive sind Evolutionsgeschichte und evolutionäre Fitness ja gerade nichts Banales…
“
Das ist zum einen eine ziemlich steile These und zum andern eine extrem simple. Im Tierreich schwanken Geburtenzahlen auch sehr stark und die haben sich auch evolutionär und demografisch gehalten. Das ist halt die Linealmethode die man aus S.P.O.N und Zeit.de kennt. Völlig polemische Argumente.
Ihre Argumente begründen zu keinem Zeitpunkt warum man “religiöse” Theorien Wissen nennen sollte. Sie beziehen sich hauptsächlich auf Geltungsdrang, Erfolg und Ansehen. Das sollte meines erachtens trotzdem nicht die Definition von Wissen sein.
@Michael Blume
Ich bleibe auf jeden Fall dran!
Es ist ein Glücksfall für uns alle, dass ein so engagierter, intelligenter und unvoreingenommer Mensch wie Sie,
sich mit dem Thema Religiösität befasst.
Weiter so!
@Anton Maier
Bei allem Respekt: Ihre Argumentation ist schlicht zirkulär. Sie definieren Wissen ausschließlich als wissenschaftliche Hypothesen – und schimpfen dann auf alle Befunde und Wissensbestandteile, die sich nicht in diese Definition fügen. Dabei war der Wissensbegriff nie so eng, wie Sie ihn fassen – und die Daten geben auch keinen Grund dafür her, ihn künstlich zu verengen. Und übrigens: Indem Sie den Wissensbegriff von vornherein so verengen, dass er empirisch gar nicht mehr falsifiziert werden kann, wird er unwissenschaftlich! 🙂
So eine einfache Gleichsetzung Wissen = Wissenschaft vermittelt sicher eine scheinbare Übersichtlichkeit und ist ggf. auch emotional befriedigend, aber eben auch unhistorisch und eindimensional – und passt v.a. einfach nicht zu den evolutionären Befunden. Sie müssen sich m.E. halt schon entscheiden, ob Sie (im religiösen Kontext würde man schreiben: fundamentalisisch) auf Ihren Vor-Definitionen beharren, oder ob Sie sich ernsthaft auch mit den Befunden auseinandersetzen, die diesen widersprechen und Ihnen ggf. auch widerstreben. Echte wissenschaftliche Erkenntnis fordert unsere festgefügten Weltbilder halt immer mal wieder heraus, lieber Herr Maier. Es wäre doch auch langweilig, wenn es anders wäre, oder!?
ja von mir aus ist wissen halt nicht das was man nach popper erkenntnisgewinn nennt oder sich in dessen umfeld bewegt.
dann wird ihr appell religion als wissen anzuerkennen trotzdem nicht besser. hier gehts nur um sprachgebrauch bzw die anerkennung die die religion in den letzten jahrhunderten verloren hat.
in den holismus passen die ganzen sachen trotzdem nur aus wissenschaftlicher hinsicht, da “wissenschaftlich” die nötigen vorbedingungen stellt. Warum Religion Wissen sein soll haben sie immernoch nciht gesagt.
Mal davon abgesehen ist das NOMA-Prinzip einfach völliger Blödsinn und lässt sich einfach falsifizieren. Es passt weder Bottom-up noch Top-down. Weder Theorie noch Praxis des nomaprinzips funktionieren. Einschlägige Argumente finden sie auf der wikipage.
“[E]ach subject has a legitimate magisterium, or domain of teaching authority … This resolution might remain all neat and clean if the nonoverlapping magisteria (NOMA) of science and religion were separated by an extensive no man’s land. But, in fact, the two magisteria bump right up against each other, interdigitating in wondrously complex ways along their joint border. Many of our deepest questions call upon aspects of both for different parts of a full answer—and the sorting of legitimate domains can become quite complex and difficult.”
Das ist doch ne selten dämliche Ausrede. Rückwärts gelesen heißt es einfach nur: Dort wo wir es nicht trennen können, ist es getrennt aber wir können es einfach nur nicht erkennen. es ist zu schwer und complex das zu verstehen.
man kann sehr einfach zeigen, dass sich die gebiete überlappen. Historisch wie auch gegenwärtig. Theoretisch kann man eine Religion definieren, die sich wirklich nicht überlappt, aber die gibt es einfach zu selten.
über all da wo sich die gebiete überlappen zu sagen: das ist einfach zu komplex zu verstehen bringt doch keinem was. mit der gleiche behauptung kann ich sagen, es ist zu komplex zu verstehen, dass sie überlappen, wir verstehen es nur nicht.
mit dem absatz disqualifiziert sich der autor in die sinnlosigkeit
Zirkularität der Religionssoziologie
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35016/1.html
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35017/1.html
Vielleicht sollte man zwischen Wissen und Verhalten unterscheiden. Wissen impliziert doch mehr das Verständnis von Hintergründen und muss auch nicht unbedingt zu evolutionär erfolgreichem Verhalten führen. Erfolgreiches Verhalten könnte auch durch Reize oder Programme ohne tieferes Verständnis der Welt angetrieben sein.
@adenosine: Kenntnis bewährter Zusammenhänge
Also, ich würde Wissen als “Kenntnis von bewährten Zusammenhängen” definieren. Damit können wir z.B. problemlos den Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften anerkennen, aber eben auch das in Mythen und Ritualen gekleidete Wissen, das z.B. eine Kultur von Jägern und Sammlern erworben hat. Wir können Wissen je in Wissenschaft, Musik, Kunst, Kochen, Philosophie, Religion etc. unterscheiden und im Übrigen auch tatsächlich erkunden, welche Wissensbestände sehr schwer zugänglich sind (z.B. Quantenphysik, komplexe Klaviersonaten) und welche uns intuitiv oder gar instinktiv zufallen.
@”Stimme der Vernunft”
Danke für den interessanten Link, lieber Andreas Kilian! 🙂
@blume Fitness etc.
Naja Wiki als Quelle ist schon schräg …
Auf jeden Fall steht da auch:
“Je höher die Adaptation (Anpassung) eines Individuums an bestimmte ökologische Bedingungen, desto höher ist seine relative Fitness, das heißt der Grad der Angepasstheit ist ein Maß für die Fortpflanzungsrate eines Individuums/Genotyps im Vergleich zu anderen Individuen/Genotypen. Dies gilt allerdings nur solange, wie diese ökologischen Bedingungen konstant bleiben.”
Wann bleiben die ökologischen Bedingungen denn über ein lange Zeit “gleich”?
Auf “möglichst viele Nachkommen in kurzer Zeit” lässt sich das gerade NICHT vereinfachen. Auf der Seite zur Fitness wird auf darauf hingewiesen, dass die Bestimmung der Fitness bei sich sexuell replizierenden Lebensformen etwas schwieriger ist als nur .. Repliziern bis der Arzt kommt.
@blume nochmal Fitness …
Wenn man z.B. in “Evolution” v. Mark Ridley (2003) nachliest, so steht da (frei übersetzt)
“Die Rolle von Sex bzgl. der Evolution und in wieweit es der Adaption dient ist aus biologischer Sicht noch nicht beantwortet.”
Und das Kapitel zu dem Thema ist _lang_
Und der mensch ist ein sexuelles Wesen – darf man diesen Aspekt da ignorieren? Wohl kaum.
@Michael Blume
Danke für die Antwort!
Ich denke dennoch, dass hier eine Verwechslung von Korrelation und Kausalität vorliegt. Zum Beispiel zu der Aussage “Wir kennen keine demografisch stabilen, nichtreligiösen Populationen.”:
Das ist richtig, meines Wissens kennen wir gar keine nichtreligiösen Populationen. Dieser Satz sagt also nichts über eventuelle Zusammnehänge zwischen Stabilität und Religiösität aus.
Theoretisches Wissen egal welcher Art kann keinen evolutionären Vorteil verursachen. Dieser kann höchstens durch die Anwendung von diesem Wissen entstehen. Damit meine ich, dass beispielsweise derjenige, der selber weiß wie man einen gebrochenen Arm “repariert” davon keinen Vorteil hat, den Vorteil hat derjenige, der sich einen Arm bricht.
Damit auch gleich zu dem zweiten Punkt: Religiöse und wissenschaftlich arbeitende Menschen bilden keine voneinander unabhängigen Populationen. Man kann also nicht argumentieren, dass religiös sein von Vorteil ist, weil diese mehr Kinder zeugen. Sehr reißerisch gesagt köntne es sein, dass religiöse Menschen sich nur fortpflanzen können, weil es Ihnen die Wissenschaft ermöglicht. (Natürlich ist das nicht so, es geht nur darum die Abhängigkeit zu verstehen)
Eine interessante Analogie hierzu ist das altruistische Verhalten im Tierreich (beispielsweise bei Bienen, Ameisen, aber auch Nacktmullen)
Über dieses Thema wird gerade in jüngster Zeit viel diskutiert, ein interessanter Begriff in dem Zusammenhang ist bspw. die “Verwandtenselektion”.
@cero
Das seh ich ganz genauso. Die Argumentation hier stinkt bis zum Himmel.
@Michael
Was ist die Intention dieses Blogbeitrages und der Präsentation in einem Satz?
Orientierung
“Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und wurde also keiner unserer Vorfahren.”
Wenn ich das richtig verstanden habe, dann beruht die Argumentation von Michael auf diesem Zitat; dass also nur diejenigen evolutionär erfolgreich sind, die eine “realistische Wahrnehmung” ihrer Umwelt gewonnen haben.
Ich will einmal einen kleinen Schlenker zur Wahrnehmung von Farben machen, um dann wieder auf Religion zurückzukommen: Die Wahrnehmung von Farben hat sich schließlich auch vielfach im Tierreich durchgesetzt; ist also evolutionär erfolgreich und muss somit eine “realistische Wahrnehmung” der Umwelt darstellen. Nun, was daran ist realistisch? Ich denke nicht, dass es der subjektive Farbeindruck in unserem Gehirn ist. Richtig daran ist allerdings, dass elektromagnetische Wellen unterschiedliche Wellenlängen haben, die insbesondere auch von der Reflektion an unserer Umwelt abhängen. Die Wahrnehmung des Unterschieds von Wellenlängen ermöglicht also eine sehr gute Orientierung in unserer Umwelt, die einen evolutionären Vorteil bietet.
Unsere Welt ist nicht tatsächlich farbig, aber die Wahrnehmung von Farben bietet einen evolutionären Vorteil, weil sie die Abbildung der zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien ist.
Nun zurück zur Religion: Auch diese bietet einen evolutionären Vorteil, da sie mit mehr Kindern einhergeht, was ja inzwischen empirisch gut belegt ist. Der Grund dafür dürfte in einem den menschlichen Bedürfnissen entgegenkommenden und zur Orientierung in unserer Umwelt geeigneten Weltbild liegen (Es gibt sicherlich noch mehr Gründe, bestimmt auch bessere, aber das soll hier vorläufig reichen). Das bedeutet jetzt aber nicht, dass die religiösen Weltbilder im Einzelnen richtig/wahr sind. Das wäre sowieso nicht möglich, weil sie sich gegenseitig oder der Naturwissenschaft widersprechen. Interessant (und soweit ich weiß: ungelöst) ist aber die Frage, welche zugrunde liegenden Mechanismen religiöse Weltbilder abbilden, die sie so erfolgreich machen. Ich spreche bewusst nicht von physikalischen Gesetzen! Aber irgendetwas muss dem offenbar zugrunde liegen, denn sonst wären sie nicht evolutionär erfolgreich. Und ich glaube, diese zugrunde liegenden Mechanismen meint Michael, wenn er von Erkenntnis spricht, die in den Religionen verborgen liegt. 😉
ad Michael Blume
Sehr geehrter Herr Dr. Blume,
ihr Beitrag und Ihre Kommentare scheinen mir einige Fragen aufzuwerfen.
1. Zwischen für möglich halten, vermuten, meinen, glauben und wissen gibt es m.E. eklatante Unterschiede der Begründungsart und –stärke. Die sollte man nicht zu planieren suchen. Insbesondere nicht, wenn man bedenkt, dass die neuzeitliche Kultur wesentlich auf der Ausarbeitung dieser Unterschiede beruht. Dies bedeutet keineswegs, dass man alleine Naturwissenschaften anerkennt, denn auch zwischen „Geisteswissenschaften“ und Mythen dürfte eine, sagen wir: gewisse, Differenz vorliegen.
2. Insbesondere besteht m.E. ein fundamentaler Unterschied zwischen Wissen im engeren Sinne und Verhaltensregeln; und das betrifft nicht nur den propositionalen Gehalt. Dass ein mathematischer Satz oder eine naturwissenschaftliche Theorie „richtig“ ist, ist etwas völlig anderes als, dass ein Ritual in einer Glaubensgemeinschaft für „richtig“ oder hilfreich erachtet wird (über „Bestätigungen“ durch selektive Wahrnehmung will ich keine weiteren Worte verlieren). Darüber hilft keine konstruktivistische Verrenkung hinweg; man muss sich nur fragen, zu wem man mit einer ernsthaften Erkrankung geht, zum naturwissenschaftlichen Arzt oder zum Geistheiler. Es scheint mir fragwürdig, den „Wissensbestand“ von Religionen zu einer Zeit reaktivieren zu wollen, in welcher gerade ihr propositionaler Gehalt, d.h. dasjenige, was traditionell als „Wissen“ galt, fragwürdiger denn je erscheint. Das geht natürlich nur mit einer Umdefinition von „Wissen“.
3. Man führt m.E. den Begriff des Wissens ad absurdum, indem man Mythen, Verhaltensregeln usw. für damit vergleichbar und für „Wissen verschiedener Form“ hält, denn dann gibt es keine nachvollziehbaren Bewertungskriterien mehr. Ein Kurzzeitkreationist weiß nämlich und kann mit der für ihn hinreichenden Evidenz belegen, dass die Erde vor wenigen Tausend Jahren geschaffen wurde. Ein Nationalsozialist wusste und konnte belegen, dass die Arier überlegen und die Juden minderwertig sind. Ein Stalinist wusste, dass das Paradies auf Erden bevorstand, wenn nur noch einige Tausend oder Millionen über die Klinge springen. Ein Römer wusste, wie man den Vogelflug zu deuten hatte. Ein Tahitier zur Zeit von Cook wusste, wann ein Menschenopfer darzubringen war. Usw.
4. Hier hilft auch die „Bewährung“ einer Kultur nicht. Worin soll die bestehen? Ihr Überleben ist von unzähligen Zufallsfaktoren abhängig, inklusive Klima. Und welche der außereuropäischen Kulturen ist nicht mehr oder weniger von der westlichen, technischen Kultur überwältigt worden? Was hat sich dann „bewährt“ außer dieser Zivilisation? Deren Zusammenhang mit dem Christentum ist jedoch nur sehr indirekt (anders als gerne behauptet). Und wird sich diese Kultur bewähren angesichts der Zukunftsprobleme, die sie selbst großenteils geschaffen hat? Und ist sie nicht wesentlich säkular, wenn man einmal die fragwürdigen Idealisierungen nach Art von Max Weber beiseite lässt?
5. Pluralismus ist offenbar notwendig, wenn das Leben nicht radikal verengt werden soll. Oder sogar unumgänglich, denn selbst der strikteste Naturalismus-Adept wird sich nicht als Automat verstehen, wenn er nicht gerade daran denkt, sich so zu verstehen. Dieser Pluralismus äußert sich u.A. darin, dass man Optionen des Verhaltens hat und anderen Optionen zugesteht. Das ist aber etwas anderes als einen Konsens darüber zu schaffen, was „Wissen“ ist. Es muss ja auch nicht alles „Wissen“ sein. So wie auch jemand sagen kann, in dem Aufheulen eines Sportwagenmotors oder auch in einem neuen Forschungsprogramm „sei Musik drin“, ohne es für Musik auszugeben.
6. Den Sinn Ihrer Ausführungen zur erhöhten Reproduktionsrate in Religionsgemeinschaften erfasse ich nicht. Historisch dürfte man schwerlich eine Gemeinschaft ausfindig machen, die nicht derartig geprägt war. Wie will man da etwas überprüfen? Umgekehrt erlauben die modernen Verhältnisse aufgrund der Vervielfältigung der Einflussfaktoren m.E. keine Aussage. Es ist eine komplett artifizielle Situation. Die effektive Reproduktionsrate hängt beispielsweise erheblich von der Kindersterblichkeit ab. Die Maßnahmen zur Reduktion der Sterblichkeit wurden aber eher nicht von den sich besonders stark vermehrenden Religionsgemeinschaften erfunden. Diese profitieren vielmehr von einer Wissenschaft, die sich faktisch zu weiten Teilen in der Absetzung von der Religion (in mancher Hinsicht auch der Radikalisierung ihres Wahrheitsanspruchs gegen sie selbst) entwickelt hat, da helfen auch die beliebten Verweise auf religiöse Wissenschaftler usw. nicht.
7. Umgekehrt frage man sich, inwieweit in einer Welt mit immer noch stark zunehmender Bevölkerungszahl eine hohe Reproduktionsrate nicht ein insgesamt kontraproduktives Verhalten darstellt. Schauen Sie sich die Perspektiven der Jugend in vielen Ländern der Dritten Welt an. Dies unterstreicht, dass wir in einer neuartigen Situation leben; daher bezweifle ich, dass die von Ihnen vertretenen Schlussfolgerungen die Allgemeingültigkeit haben, die sie beanspruchen. Meines Erachtens überbewerten Sie Epiphänomene. (Dass meine Erfahrung mit multivariater Statistik mich gegenüber kausalen Deutungen vieler hoch korrelierender Variablen vorsichtig sein lässt, kommt hinzu.)
8. Mehr noch, denn ich frage mich, in welcher Hinsicht diese These intellektuell ergiebig sein soll. Hat man die Weltbevölkerung im Blick, müsste man dann nicht gegen die Religionen angehen, sofern man überhaupt etwas folgern wollte? Und wenn man dagegen das gemeinschaftsbildende Potenzial anführen wollte, wie steht es mit dem eng damit assoziierten feindschaftsstiftenden, welches auch das (keineswegs unverbreitete) militante Christentum zeigt (und teils auch das „moderate“, aber das wäre eine andere Diskussion)?
9. Dass der Reproduktionserfolg einer Religion per se nichts über ihre spirituellen und existenziellen „Dimensionen“ aussagt, scheint mir klar; dazu muss man nicht erst die traurige Realität durchschnittlicher Glaubenspraxis in nüchterner Weise beobachten. Vom Wahrheitsgehalt der Propositionen ganz zu schweigen.
10. Umgekehrt: Haben sich einige Religionen nicht über die Zeit entwickelt und das Potenzial dazu, weiter über sich und ihren Traditionsbestand hinauszuführen? Ist es nicht genau dieses Potenzial, das viele Menschen berührt, die in dieser Zeit mit allen ihren Herausforderungen leben und sich nicht in eine feste, vergangene Ideologie retten wollen? Etwa nach Art neuerer Apologeten, die wieder ganz „naiv“ zu glauben empfehlen, infantiler und eskapistischer geht es kaum. Und wird man diesem Aspekt gerecht, wenn man Religionen als Sozialordnungssysteme rein oder primär funktional betrachtet, per Kinderzahl de facto „rechtfertigt“ (da spielen Sie m.E. ein doppeltes Spiel) und eben in diesem Aspekt ideologisch verfestigt?
11. Gibt es nicht viele Menschen, die Religion heute primär als eine Quelle spiritueller (wenn ich dieses leider abgegriffene Wort einmal verwenden darf) Möglichkeiten und nur sekundär als Sozialordnungsstruktur begreifen? Sind diese nicht oft der Meinung, dass Verhaltensregeln und Moral in einer pluralistischen (und damit notwendigerweise ihrer Grundverfassung nach neutralen) Gesellschaft gerade nicht mehr religiös begründet sein sollten? Religion als soziobiologische List der Natur, als transzendenter Hokuspokus zwecks höherer Reproduktionsrate verschworener Gemeinschaften erfasst das nicht; dass darüber hinaus die gern beschworene interne Kooperation in enger Beziehung zum Krieg gegen andere steht, machen viele Beobachtungen wahrscheinlich.
12. Die Evolution der Kultur kann aber doch über eine mögliche Plumpheit der biologischen Anfänge hinausführen, oder nicht? Falls Schimpansen und Gorillas auch Sinn für Rhythmus haben, erklärt das die Werke von Bach oder Bartok? Mir scheint daher, Sie verpassen durch eine letztlich biologistische Fixierung genau das, worin Religionen für die Zukunft, gewissermaßen auf einer höheren Ebene, fruchtbar sein könnten, wenn man weder fanatisch hinter ihnen noch fanatisch gegen sie steht. Und so dreht sich alles um die Reiteration der immer gleichen populationsbiologischen Behauptung, die mir ein bisschen zu trivial und steril erscheint. Dasjenige, was mit „Säkularisierung“ umrissen wird, dürfte im Übrigen in seinen Verwicklungen schwerlich vorhersehbar sein. Sogar im Rückblick scheint es mir unüberschaubar, und die Zukunft dürfte komplizierter werden als sich durch Extrapolation von Kinderzahlen erraten lässt. Versuchen Sie nur einmal, anhand der tatsächlich im Jahre 1960 oder gar 1910 bekannten Daten (also nicht durch rückwirkendes Hineindeuten vorgeblicher „Tendenzen“) vorauszusagen, wie die Welt im Jahre 2010 aussah.
Dies als Anregung mit freundlichen Grüßen
@all
Vielen herzlichen Dank schon einmal für die Vielzahl spannender Kommentare! Bin sehr begeistert.
Heute hatte ich einen (sehr erfreulich verlaufenen) Vortrag vor den Biologen der Uni Tübingen und werde versuchen, in den kommenden Tagen ausführlicher auf Ihre Anregungen einzugehen.
@Sascha Bohnenkamp
Oha, da geht jetzt aber einiges durcheinander: Evolutionäre Fitness, Umweltveränderungen, Sex, Ridley…
Wir hatten über das Thema ja schon verschiedentlich diskutiert und ich hatte Dir diesmal Wikipedia verlinkt, weil es direkt zugänglich ist. Hier hast Du gerne auch einen biologischen Facheintrag:
http://www.biology-online.org/dictionary/Fitness
Und hier hast Du eine Erläuterung und auch ein Video der Tübinger EvoBiologen zur Bedeutung des differentiellen Reproduktionserfolges:
http://www.chronologs.de/…giosit-t-eine-adaption
Wie bereits zugesagt mache ich über den Sommer gerne noch einmal einen eigenen Blogbeitrag zum Thema. Bis dahin bitte ich Dich um Verständnis, dass ich aus Zeitgründen hier kein Einzelseminar zu evolutionsbiologischen Grundbegriffen geben kann. Ich nehme an, dass wir uns einig sind, dass Homo sapiens seine Gene und genetischen Merkmale via sexueller Reproduktion in die je nächste Generation gibt. Mehr dazu dann gerne in einem eigenen Blogpost noch diesen Sommer, okay?
@cero
Danke für die Antwort!
Bei so durchdachten und konstruktiven Kommentaren macht das auch Freude! 🙂
Ich denke dennoch, dass hier eine Verwechslung von Korrelation und Kausalität vorliegt. Zum Beispiel zu der Aussage “Wir kennen keine demografisch stabilen, nichtreligiösen Populationen.”:
Das ist richtig, meines Wissens kennen wir gar keine nichtreligiösen Populationen. Dieser Satz sagt also nichts über eventuelle Zusammnehänge zwischen Stabilität und Religiösität aus.
Das wäre richtig, wenn sich die Aussagen nur auf statistische Korrelationen beziehen würden. Daneben stehen aber Fallstudien von Populationen, die sich je selbst als religiös – im Sinne des Glaubens an überempirische Akteure – oder nichtreligiös bezeichnen. Wir haben zahlreiche Fälle wie Old Order Amish, Hutterer, Mormonen, Haredim usw., die teilweise über Jahrhunderte hinweg sehr hohe Geburtenraten verzeichnen.
http://www.chronologs.de/…n-16-jahren-verdoppelt
Sowohl bei Konfessionslosen in Volkszählungen und Studien wie auch z.B. bei nichtreligiösen Gemeinschafen wie sozialistischen Kibbutzim, humanistischen Verbänden, a-theistischen Philosophenschulen usw. usf. konnten wir jedoch bislang nicht einen einzigen Fall auch nur stabiler Demografie auffinden.
Hier ist ein Verzeichnis einer ganzen Reihe religionsdemografischer Studien verschiedenster Art, deren Daten und Befunde Sie gerne einsehen können:
http://www.blume-religionswissenschaft.de/….html
Dass sich auch unter nach dem eigenen Selbstverständnis nichtreligiösen Populationen (quasi-)religiöses Verhalten findet, sehe ich ganz genau so – dafür Zustimmung von mir, hier auch z.B. Beispielvideos dazu:
http://www.chronologs.de/…finition-zivilreligion
Theoretisches Wissen egal welcher Art kann keinen evolutionären Vorteil verursachen. Dieser kann höchstens durch die Anwendung von diesem Wissen entstehen.
Das sehe ich ebenso. Erst neulich hatte ich ja das Buch eines Theologen rezensiert, der über sehr viel religionsbezogenes Wissen verfügt, sich aber vom Glauben und religiöser Lebenspraxis entfernt hat.
http://www.chronologs.de/…n-heinz-werner-kubitza
Wissen – welcher Form auch immer – kann m.E. stets nur “potentiell” adaptiv sein.
Damit meine ich, dass beispielsweise derjenige, der selber weiß wie man einen gebrochenen Arm “repariert” davon keinen Vorteil hat, den Vorteil hat derjenige, der sich einen Arm bricht.
Damit auch gleich zu dem zweiten Punkt: Religiöse und wissenschaftlich arbeitende Menschen bilden keine voneinander unabhängigen Populationen. Man kann also nicht argumentieren, dass religiös sein von Vorteil ist, weil diese mehr Kinder zeugen. Sehr reißerisch gesagt köntne es sein, dass religiöse Menschen sich nur fortpflanzen können, weil es Ihnen die Wissenschaft ermöglicht. (Natürlich ist das nicht so, es geht nur darum die Abhängigkeit zu verstehen)
Ich kann da nur zustimmen! Auch im o.g. Vortrag erwähne ich z.B. das Beispiel von Zölibatären, die als “Helfer am Nest” auf eigene Fortpflanzung verzichten, aber potentiell Überleben und Fortpflanzung der Gemeinschaft begünstigen können (z.B. durch Lehre, Heilkunde, Kinderbetreuung und -bildung etc. – Wussten Sie, dass Nonne und Nanny den gleichen Wortstamm haben?)
Und auch im Hinblick auf die Interdependenz von Wissensformen bin ich ganz bei Ihnen: Wir könnten zum Beispiel argumentieren, dass erst der wissenschaftliche Fortschritt das Überleben kinderreicher Traditionen ermöglicht(e) und dass umgekehrt aus kinderreichen Familien z.B. evangelischer Pfarrhäuser eine Menge Wissenschaftler erwachsen sind.
Das ist ja genau mein Anliegen: Aufzuzeigen, dass die ausdifferenzierte Arbeitsteilung in Gesellschaften hin zu eigenen Bereichen von Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Religion (etc.) viel erfolgreicher sein kann als der Versuch einzelner Magisteria, andere Bereiche z.B. zu ersetzen oder zu unterdrücken. Vielfalt, auch erkenntnistheoretische Vielfalt, scheint sehr viel erfolgreicher zu sein.
Eine interessante Analogie hierzu ist das altruistische Verhalten im Tierreich (beispielsweise bei Bienen, Ameisen, aber auch Nacktmullen) Über dieses Thema wird gerade in jüngster Zeit viel diskutiert, ein interessanter Begriff in dem Zusammenhang ist bspw. die “Verwandtenselektion”.
Ja, das sehe ich auch so. In Blogposts ist die Kommunikation stets notwendig verkürzt, in “Gott, Gene und Gehirn” sind dagegen entsprechenden Themen ganze Kapitel gewidmet:
http://www.chronologs.de/…s-gott-gene-und-gehirn
Danke für Ihr lebhaftes und informiertes Interesse!
@Anton
Zum Kommentar: Die Argumentation hier stinkt bis zum Himmel.
Das ist übrigens auch so ein bildhafter und damit nichtwissenschaftlicher Satz, der sich empirisch nicht bestätigen lässt (Argumentationen “stinken” nicht), dennoch aber versucht, mittels einer Metapher eine bestimmte Wertung und Wirkung zu vermitteln. 🙂
Und, ja, Befunde der Evolutionsforschung verärgern immer wieder erkenntnistheoretische Monisten z.B. religiöser oder szientistischer Art, die lieber ein ordentlicheres Universum hätten. 😉 Damit muss und kann ich gut leben. 🙂
Was ist die Intention dieses Blogbeitrages und der Präsentation in einem Satz?
Ich berichte aus der aktuellen, interdisziplinären und internationalen Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen und stehe im Rahmen des auch zeitlich Möglichen sachlich Interessierten gerne für Fragen und Anregungen zur Verfügung.
@Rudolf Jörres
Gerne gehe ich auf Ihre ausführlichen Anregungen ein.
1. Zwischen für möglich halten, vermuten, meinen, glauben und wissen gibt es m.E. eklatante Unterschiede der Begründungsart und –stärke. Die sollte man nicht zu planieren suchen. Insbesondere nicht, wenn man bedenkt, dass die neuzeitliche Kultur wesentlich auf der Ausarbeitung dieser Unterschiede beruht. Dies bedeutet keineswegs, dass man alleine Naturwissenschaften anerkennt, denn auch zwischen „Geisteswissenschaften“ und Mythen dürfte eine, sagen wir: gewisse, Differenz vorliegen.
Ja, das sehe ich ganz genau so. Mir geht es ja gerade darum, dass nicht z.B. Kunstwerke oder Mythen mit wissenschaftlichen Hypothesen verwechselt werden, sondern heraus zu arbeiten, dass völlig unterschiedliche Kontexte und Funktionen vorliegen. Ich vertrete einen erkenntnistheoretischen Pluralismus.
2. Insbesondere besteht m.E. ein fundamentaler Unterschied zwischen Wissen im engeren Sinne und Verhaltensregeln; und das betrifft nicht nur den propositionalen Gehalt. Dass ein mathematischer Satz oder eine naturwissenschaftliche Theorie „richtig“ ist, ist etwas völlig anderes als, dass ein Ritual in einer Glaubensgemeinschaft für „richtig“ oder hilfreich erachtet wird (über „Bestätigungen“ durch selektive Wahrnehmung will ich keine weiteren Worte verlieren). Darüber hilft keine konstruktivistische Verrenkung hinweg; man muss sich nur fragen, zu wem man mit einer ernsthaften Erkrankung geht, zum naturwissenschaftlichen Arzt oder zum Geistheiler. Es scheint mir fragwürdig, den „Wissensbestand“ von Religionen zu einer Zeit reaktivieren zu wollen, in welcher gerade ihr propositionaler Gehalt, d.h. dasjenige, was traditionell als „Wissen“ galt, fragwürdiger denn je erscheint. Das geht natürlich nur mit einer Umdefinition von „Wissen“.
Nein, sondern mit einer klaren Unterscheidung empirisch-wissenschaftlicher und z.B. künstlerischer, handwerklicher, literarischer oder religiöser Wissensbestände, die sehr unterschiedlichen Bedingungen und Funktionen unterliegen. Die Bilder von Salvador Dali sind z.B. nicht einfach “falsch” und auch nicht nur auf ihre physikalisch-chemischen Bestandteile zu reduzieren, sondern enthalten Aussagen, die sich dem Kunst-Wissenden ggf. erschließen können.
3. Man führt m.E. den Begriff des Wissens ad absurdum, indem man Mythen, Verhaltensregeln usw. für damit vergleichbar und für „Wissen verschiedener Form“ hält, denn dann gibt es keine nachvollziehbaren Bewertungskriterien mehr. Ein Kurzzeitkreationist weiß nämlich und kann mit der für ihn hinreichenden Evidenz belegen, dass die Erde vor wenigen Tausend Jahren geschaffen wurde. Ein Nationalsozialist wusste und konnte belegen, dass die Arier überlegen und die Juden minderwertig sind. Ein Stalinist wusste, dass das Paradies auf Erden bevorstand, wenn nur noch einige Tausend oder Millionen über die Klinge springen. Ein Römer wusste, wie man den Vogelflug zu deuten hatte. Ein Tahitier zur Zeit von Cook wusste, wann ein Menschenopfer darzubringen war. Usw.
Oh ja, und auch (Sozial-)Darwinisten “wussten” schon eine ganze Menge über den vermeintlich minderen Wert von Frauen, Menschen dunkler Hautfarbe usw. Wo immer notwendig partiale Wissensbestände für sich Absolutheitsansprüche erheben, entstand und entsteht m.E. großer Schaden.
4. Hier hilft auch die „Bewährung“ einer Kultur nicht. Worin soll die bestehen? Ihr Überleben ist von unzähligen Zufallsfaktoren abhängig, inklusive Klima. Und welche der außereuropäischen Kulturen ist nicht mehr oder weniger von der westlichen, technischen Kultur überwältigt worden? Was hat sich dann „bewährt“ außer dieser Zivilisation? Deren Zusammenhang mit dem Christentum ist jedoch nur sehr indirekt (anders als gerne behauptet). Und wird sich diese Kultur bewähren angesichts der Zukunftsprobleme, die sie selbst großenteils geschaffen hat? Und ist sie nicht wesentlich säkular, wenn man einmal die fragwürdigen Idealisierungen nach Art von Max Weber beiseite lässt?
Ja, Evolutionsforschung ist stets auch historische Forschung, in der im Bezug auf den Menschen die unendlich komplexen Wechselwirkungen z.B. künstlerischer, technischer, religiöser Magisteria zu erkunden sind. Lineare, eindimensionale Lesarten mögen zwar attraktiv erscheinen, halten aber der sorgsamen Überprüfung nicht wirklich stand.
5. Pluralismus ist offenbar notwendig, wenn das Leben nicht radikal verengt werden soll. Oder sogar unumgänglich, denn selbst der strikteste Naturalismus-Adept wird sich nicht als Automat verstehen, wenn er nicht gerade daran denkt, sich so zu verstehen. Dieser Pluralismus äußert sich u.A. darin, dass man Optionen des Verhaltens hat und anderen Optionen zugesteht. Das ist aber etwas anderes als einen Konsens darüber zu schaffen, was „Wissen“ ist. Es muss ja auch nicht alles „Wissen“ sein. So wie auch jemand sagen kann, in dem Aufheulen eines Sportwagenmotors oder auch in einem neuen Forschungsprogramm „sei Musik drin“, ohne es für Musik auszugeben.
Ja, genau diese Diskussion scheint mir wichtig(er) zu werden. M.E. deuten die Befunde darauf hin, dass wir sehr unterschiedliche Erkenntnis- und Wissensdimensionen erkunden – und ich bin gespannt auf die Begriffe und Definitionen, die sich daraus ergeben werden. Wie Sie sehen, habe ich den “Wissens”-Begriff im o.g. Vortrag durchaus in Klammern gesetzt, weil diese sehr spezifische Debatte ja erst angefangen hat und noch vieles im Fluss ist.
6. Den Sinn Ihrer Ausführungen zur erhöhten Reproduktionsrate in Religionsgemeinschaften erfasse ich nicht. Historisch dürfte man schwerlich eine Gemeinschaft ausfindig machen, die nicht derartig geprägt war. Wie will man da etwas überprüfen? Umgekehrt erlauben die modernen Verhältnisse aufgrund der Vervielfältigung der Einflussfaktoren m.E. keine Aussage. Es ist eine komplett artifizielle Situation. Die effektive Reproduktionsrate hängt beispielsweise erheblich von der Kindersterblichkeit ab. Die Maßnahmen zur Reduktion der Sterblichkeit wurden aber eher nicht von den sich besonders stark vermehrenden Religionsgemeinschaften erfunden. Diese profitieren vielmehr von einer Wissenschaft, die sich faktisch zu weiten Teilen in der Absetzung von der Religion (in mancher Hinsicht auch der Radikalisierung ihres Wahrheitsanspruchs gegen sie selbst) entwickelt hat, da helfen auch die beliebten Verweise auf religiöse Wissenschaftler usw. nicht.
Diese Anfrage scheint sich mit jener von @cero weitgehend zu decken, so dass ich aus Platz- und Zeitgründen gerne darauf verweise.
7. Umgekehrt frage man sich, inwieweit in einer Welt mit immer noch stark zunehmender Bevölkerungszahl eine hohe Reproduktionsrate nicht ein insgesamt kontraproduktives Verhalten darstellt. Schauen Sie sich die Perspektiven der Jugend in vielen Ländern der Dritten Welt an. Dies unterstreicht, dass wir in einer neuartigen Situation leben; daher bezweifle ich, dass die von Ihnen vertretenen Schlussfolgerungen die Allgemeingültigkeit haben, die sie beanspruchen. Meines Erachtens überbewerten Sie Epiphänomene. (Dass meine Erfahrung mit multivariater Statistik mich gegenüber kausalen Deutungen vieler hoch korrelierender Variablen vorsichtig sein lässt, kommt hinzu.)
Auch hier darf ich darauf verweisen, dass ich meine Ausführungen nie auf nur statistische Daten sondern stets auch auf Fallstudien zu stützen pflege. Und selbstverständlich gehe ich davon aus, dass viele meiner Hypothesen, Begriffe etc. auch falsifiziert werden – was m.E. für jeden wissenschaftlich Arbeitenden gilt. Aber gar nicht anzufangen und keine Positionen zu vertreten wäre doch keine Alternative.
8. Mehr noch, denn ich frage mich, in welcher Hinsicht diese These intellektuell ergiebig sein soll. Hat man die Weltbevölkerung im Blick, müsste man dann nicht gegen die Religionen angehen, sofern man überhaupt etwas folgern wollte? Und wenn man dagegen das gemeinschaftsbildende Potenzial anführen wollte, wie steht es mit dem eng damit assoziierten feindschaftsstiftenden, welches auch das (keineswegs unverbreitete) militante Christentum zeigt (und teils auch das „moderate“, aber das wäre eine andere Diskussion)?
M.E. ist es die Aufgabe empirischer Wissenschaften, Phänomene erst einmal zu beschreiben und die Erkenntnisse dann im Dialog z.B. mit Philosophie(n) und Theologie(n) zu reflektieren. Dass ein Merkmal oder eine religiöse Tradition erfolgreich sind ist m.E. nicht vorschnell als Werturteil zu verstehen. Und dass ich durchaus einige Ihrer Bedenken teile können Sie z.B. hier ersehen:
http://www.chronologs.de/…arth-von-eric-kaufmann
9. Dass der Reproduktionserfolg einer Religion per se nichts über ihre spirituellen und existenziellen „Dimensionen“ aussagt, scheint mir klar; dazu muss man nicht erst die traurige Realität durchschnittlicher Glaubenspraxis in nüchterner Weise beobachten. Vom Wahrheitsgehalt der Propositionen ganz zu schweigen.
D’accord. 🙂
10. Umgekehrt: Haben sich einige Religionen nicht über die Zeit entwickelt und das Potenzial dazu, weiter über sich und ihren Traditionsbestand hinauszuführen? Ist es nicht genau dieses Potenzial, das viele Menschen berührt, die in dieser Zeit mit allen ihren Herausforderungen leben und sich nicht in eine feste, vergangene Ideologie retten wollen? Etwa nach Art neuerer Apologeten, die wieder ganz „naiv“ zu glauben empfehlen, infantiler und eskapistischer geht es kaum. Und wird man diesem Aspekt gerecht, wenn man Religionen als Sozialordnungssysteme rein oder primär funktional betrachtet, per Kinderzahl de facto „rechtfertigt“ (da spielen Sie m.E. ein doppeltes Spiel) und eben in diesem Aspekt ideologisch verfestigt?
Nein, man würde den Phänomenen in der Tat nicht gerecht, wenn man sie nur aus empirisch-wissenschaftlicher Weise betrachtete – das ist ja genau mein Argument! Evolutionsforschung kann uns über die Geschichte und (bisherige) Funktionalität von Phänomenen immer besser informieren, aber die Wertung, Reflektion, Weiterentwicklung usw. kann sie gerade nicht leisten. Dazu braucht es z.B. Kunst, Theologie, Philosophie. Ich bin ja gerade “kein” erkenntnistheoretischer Monist, der behaupten würde, eine (und sei es die evolutionäre Perspektive) sei ausreichend zur Bewertung eines Phänomens!
11. Gibt es nicht viele Menschen, die Religion heute primär als eine Quelle spiritueller (wenn ich dieses leider abgegriffene Wort einmal verwenden darf) Möglichkeiten und nur sekundär als Sozialordnungsstruktur begreifen? Sind diese nicht oft der Meinung, dass Verhaltensregeln und Moral in einer pluralistischen (und damit notwendigerweise ihrer Grundverfassung nach neutralen) Gesellschaft gerade nicht mehr religiös begründet sein sollten? Religion als soziobiologische List der Natur, als transzendenter Hokuspokus zwecks höherer Reproduktionsrate verschworener Gemeinschaften erfasst das nicht; dass darüber hinaus die gern beschworene interne Kooperation in enger Beziehung zum Krieg gegen andere steht, machen viele Beobachtungen wahrscheinlich.
Ja, und Sie können mich durchaus zu diesen Menschen zählen. Als Wissenschaftler will ich Religion(en) aus evolutionärer Sicht besser verstehen und hoffe auf viele Menschen, die die Befunde kritisch-konstruktiv aufgreifen und z.B. zur eigenen Reflektion, zur Prävention von Extremismus, Dialog und Kunst und weiteren Studien (etc.) aufgreifen. Gerade über das Thema Reduktion & Transzendenz hatte ich z.B. mit Theologen schon wundervolle Gespräche.
12. Die Evolution der Kultur kann aber doch über eine mögliche Plumpheit der biologischen Anfänge hinausführen, oder nicht? Falls Schimpansen und Gorillas auch Sinn für Rhythmus haben, erklärt das die Werke von Bach oder Bartok? Mir scheint daher, Sie verpassen durch eine letztlich biologistische Fixierung genau das, worin Religionen für die Zukunft, gewissermaßen auf einer höheren Ebene, fruchtbar sein könnten, wenn man weder fanatisch hinter ihnen noch fanatisch gegen sie steht. Und so dreht sich alles um die Reiteration der immer gleichen populationsbiologischen Behauptung, die mir ein bisschen zu trivial und steril erscheint. Dasjenige, was mit „Säkularisierung“ umrissen wird, dürfte im Übrigen in seinen Verwicklungen schwerlich vorhersehbar sein. Sogar im Rückblick scheint es mir unüberschaubar, und die Zukunft dürfte komplizierter werden als sich durch Extrapolation von Kinderzahlen erraten lässt. Versuchen Sie nur einmal, anhand der tatsächlich im Jahre 1960 oder gar 1910 bekannten Daten (also nicht durch rückwirkendes Hineindeuten vorgeblicher „Tendenzen“) vorauszusagen, wie die Welt im Jahre 2010 aussah.
Auch hier sehe ich keinen Widerspruch, lieber Herr Jörres. Mich interessiert doch gerade, wie aus den einfachen Grundlagen von Sprachfähigekit, Musikalität oder eben Religiosität solche komplexen, kulturellen Traditionen eines Goethe, eines Mozart oder Maimonides erwachsen konnten – und wie diese wiederum auf die Veranlagungen rückwirken. Mir geht es ja gerade nicht um die Reduktion von Phänomenen auf Biologie, sondern um das reiche, biokulturelle Gesamtgeschehen:
http://www.chronologs.de/…iokulturelle-evolution
Dies als Anregung mit freundlichen Grüßen
Wie Sie sehen, habe ich Ihre Anregungen nicht nur aufmerksam gelesen, sondern auch versucht, auf sie jeweils einzugehen. Vielleicht können wir ja irgendwann einmal den Austausch bei einem Apfelschorle fortführen! 🙂
@Sebastian
Auch Deinen Kommentar finde ich so anregend, dass ich jetzt nicht hudeln sondern mir noch ein wenig Zeit zum Drüber-Nachdenken nehmen möchte. Dann schreibe ich gerne etwas dazu, okay?
@Michael
Natürlich 😉 Das ist immer besser! 😉
Wissen bzw. Informationen sind Farben.
Um es einmal metaphorisch zu malen, so ist jeder Philosoph ein Künstler. Er hat seine Palette an Farben und malt damit seinen Stil, seine Motivation auf eine gedankliche Leinwand. Über Stilrichtungen zu streiten finde ich unsinnig, da keiner was für seinen Standpunkt kann. 🙂
Mich würde mal interessieren ob Pflanzen oder Tiere auch eine Art von Kreativität besitzen, das wäre doch spannend.
@Sebastian & @Tim
Der Gedanke von Sebastian, das Farbensehen als eine Metapher für religiöse Erfahrung zu betrachten, lässt mich in der Tat nicht mehr so ganz los.
Einmal knüpft es an das berühmte Gedankenexperiment von Frank Jackson zur “Farbenwissenschaftlerin” Mary an:
http://instruct.westvalley.edu/…enal_qualia.html
Mary ist eine Wissenschaftlerin, die sich mit Farben beschäftigt. Zeit ihres Lebens sitzt sie in einem schwarz-weißen Raum und beobachtet die Welt über einen Schwarz-Weiß-Monitor. Sie versucht, alles herauszufinden, was es über Farben und Sehen zu wissen gibt, und weiß alles über die Verwendung von Begriffen wie “blau”, “rot” und was im Hirn passieren muss, damit sie verwendet werden. Eines Tages wird sie aus ihrem Raum in die Welt entlassen und sieht zum ersten Mal Farben. Würde sie etwas Neues erfahren – lernen – wissen?
Zitiert nach Joachim Eberhardt:
http://www.jg-eberhardt.de/…wissenschaftler.html
Aber auch an Wittgenstein wäre hier zu denken, der in seinen “Vermischten Bemerkungen” schreibt:
“Das Wesen Gottes verbürge seine Existenz – d.h. eigentlich, daß es sich hier um eine Existenz nicht handelt. Könnte man denn nicht auch sagen, das Wesen der Farbe verbürge ihre Existenz? Im Gegensatz etwa zum weißen Elephanten. Denn es heißt ja nur: ich kann nicht erklären, was ‘Farbe’ ist, was das Wort Farbe bedeutet, außer an der Hand des Farbmusters. Es gibt hier also nicht ein Erklären, ‘wie es wäre, wenn es Farben gäbe’.
Und man könnte nun sagen: Es läßt sich beschreiben, wie es wäre, wenn es Götter auf dem Olymp gäbe – aber nicht: ‘wie es wäre, wenn es Gott gäbe’.”
Ja, und hier ließe sich nun tatsächlich noch anknüpfen: Das Farbensehen als eine (individuell, kulturell und zwischen Arten höchst variable) Interpretation von Wirklichkeit hat sich evolutionär bewährt – wie die Religiosität auch.
Das Ganze könnte scheint ein spannender Gedankengang zu sein, der empirische und philosophische Befunde verknüpft. Ich werde weiter daran hirnen und Leute suchen, die sich in diesem Bereich auskennen. Danke für die wunderbare Anregung!
@Michael
Hmm, sehr interessant! Du hast meinen Gedanken noch sehr viel weiter gesponnen, als ich ihn ursprünglich gedacht hatte – ich hatte nur ein wissenschaftlich bereits gut erforschtes Beispiel von evolutionär erfolgreicher Wahrnehmung genommen, woran man gut und unkompliziert einige Überlegungen anstellen kann, und dies dann auf die Religion als ebenfalls erfolgreiches evolutionäres Merkmal zu übertragen versucht.
Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich dir ganz folgen kann. (…) Ich habe gerade mal versucht, den Gedankengang selber aufzuschreiben, um zu sehen, ob ich es richtig verstanden habe, aber ich hab das nicht wirklich hingekriegt… könntest du das noch einmal erklären? 🙂
@Sebastian
Im Kern geht es darum, dass Farbensehen sowohl eine eigene Erfahrungs-Qualität wie auch insgesamt adaptive Interpretation von Phänomenen darstellt. Einem Nicht-Farbensehenden könnte man die “Existenz” von Farben zudem kaum “beweisen”. Wie weit der Vergleich reicht, weiß ich natürlich noch nicht – lass uns mal weiter daran hirnen…
Michael Blume 13.07, 21:23
Sehr geehrter Herr Blume,
vielen Dank für Ihre Antwort.
Mir scheint allerdings, dass Sie teils ein wenig ausweichen. Ich möchte einen Punkt noch einmal ausführlicher darlegen, sowie einen weiteren, der in der Diskussion aufgekommen ist.
1a. Wir leben in einer artifiziellen Welt, in der Verhaltensweisen, die vielleicht einmal evolutionär erfolgreich waren, kontraproduktiv werden können. Ferner können in einer komplexen Gesellschaft ideologische Systeme, die bei extrem begrenzter Entwicklungsfähigkeit insgesamt eher kontraproduktiv sind, durch parasitäre Randeffekte überproportional wachsen. Gerade die hohe Reproduktionsrate modernitäts- und wissenschaftsfeindlicher Religionsgemeinschaften zeigt dies; sie profitieren von Bedingungen, die sie weder geschaffen haben noch hätten schaffen können. Die Amish beispielsweise als Beleg für die Überlegenheit religiöser Gemeinschaften anführen zu wollen, wie das manchmal geschieht, schiene mir absurd. Wenn alle Amish würden, wäre das Spiel vorbei. Wir haben viele Selektionsmechanismen ausgeschaltet und dafür ganz neuartige Randbedingungen geschaffen, etwa diejenige, die globale Endlichkeit der Ressourcen in Rechnung stellen zu müssen. Darauf sind wir nicht vorbereitet, und am allerwenigsten Religionen, die sich in besonderem Maße in sozialer Kontrolle ergehen oder erschöpfen und eine hohe Reproduktionsrate propagieren.
1b. Es wäre auch in meinen Augen leichtfertig, angesichts der Verteilungsprobleme der Zukunft auf das sozial bindende Element der Religionen zu setzen, denn dem korreliert ein mindestens ebenso starkes ausgrenzendes und feindbildendes Element (dass der Theoretiker der Feindschaft C. Schmitt sich auf den Katholizismus stützte, kam nicht von ungefähr). Ich gehe davon aus, dass dieses Element in Zukunft vor allem in der westlichen Welt stärker – und zwar explizit antifriedlich – in Erscheinung treten wird; das Repertoire liegt bereit.
1c. Daher scheinen mir alle Argumentationen, die Religionen für heute darwinistisch in ihrem positiven Wert aufzeigen, im Grundsatz irgendwie rechtfertigen usw., inadäquat. Das Alles mag für die Vergangenheit gegolten haben oder auch nicht (es ist ja nicht ohne Plausibilität), für die heutige Situation und vor allem die Zukunft ist es von fraglicher Gültigkeit, und die empirischen Daten kommen heute in artifiziellen Situationen zustande. Auch die beliebten Gegenbelege gescheiterter „atheistischer“ Sozialexperimente halte ich für ungültig, da sie die jeweiligen dynamischen politischen und sozialen Bedingungen vernachlässigen. Als Wissenschaftler bewerte ich Hypothesen dieser Art danach, ob sie a) in der Vergangenheit gültig, b) in der heutigen Situation oder Zukunft noch gültig und c) vor allem intellektuell und praktisch fruchtbar sind. Im Zusammenhang damit halte ich auch die – von manchen triumphal angeführten, von manchen perhorreszierten – Vorhersagen des künftigen „religiösen“ Bevölkerungsanteil für hanebüchen. Mir ist nicht klar, wie man in einer Situation, die so sehr wie die heutige von unabsehbaren, raschen, globalen sozialen Veränderungen geprägt ist, derartige Extrapolation für sinnvoll halten kann.
2a. Mir scheint, dass das Farbensehen eine denkbar schlechte Analogie zur sog. religiösen Erfahrung ist. Farbensehen bezieht sich auf Phänomene der Umwelt, die physikalisch überprüfbar sind, und die Selektion von Farbensehen ist an prüfbare Bedingungen gekoppelt. Die Frage, wie Farben empfunden werden im Sinne von Qualia, ist in dieser Hinsicht sekundär. Dass es hier für alle Menschen nachvollziehbare physische Korrelate zu Qualia gibt, sagt nichts über Korrelate zu anderen behaupteten Qualia. Auch Fragen, inwieweit die Außenwelt von uns grundsätzlich konstruiert ist und damit doch irgendwie stärkere Analogien bestehen usw., sind m.E. hier irrelevant. Wer daran Zweifel hat, soll nur probeweise genügend stark gegen eine geschlossene Tür rennen; sowohl Beule als auch Schmerz werden sich derart bemerkbar machen, dass ein durchgängiger Konstruktivismus in praxi die Form einer Wahnvorstellung annimmt.
2b. Was das Religiöse angeht, sollte man m.E. zwei wesentlich verschiedene Aspekte auseinanderhalten. Das eine ist der soziale. Es ist ja gut denkbar, dass Religion als soziales Kontroll- und Belohnungssystem in der Aktion von Gruppen vor allem gegeneinander einen positiven Effekt für einzelne Gruppen hatte. Der Bezug zur Außenwelt besteht aber nur in der Erfüllung allgemeinster Randbedingungen. Ansonsten handelt es sich um ein soziales Konstrukt mit willkürlichem Inhalt. Die außerordentliche Heterogenität von Religionen belegt das. Entwickelte Gesellschaften haben beispielsweise auch das Geld als Strukturelement geschaffen, das ihnen eine Überlegenheit im adaptiven Handeln gegenüber Tauschgesellschaften verschaffte. Und die heute als am höchsten entwickelt auftretenden Gesellschaften sind am stärksten vom Geld bzw. Finanzkapital beherrscht. Das sagt aber nichts darüber, ob es „da draußen“ irgendwie einen Gott Mammon gibt usw., dem eine spezifische mammonistische Erfahrung entspricht. Selbst wenn viele Zeitgenossen diesen Gott in ihrem täglichen Verhalten anzubeten scheinen, wäre es ihnen doch peinlich, zu einem expliziten Kultus zu schreiten. Und wenn man ein Komplement in der Natur suchte, etwa in Form der Energie als „allgemeiner Währung“, so wäre das von nichtssagender Allgemeinheit.
2c. Die soziale Suggestion bedarf offenbar einer Bereitschaft, an übernatürliche Akteure, Kontrolleure usw. zu glauben. Die Voraussetzungen sind aber minimaler intellektueller Natur, wie jeder Glaube an Gespenster, Osterhasen usw. zeigt. Eine sich nicht in banalen sozialen Konstrukten erschöpfende und im eigentlichen Sinne religiöse Erfahrung liegt aber m.E. auf einer ganz anderen Ebene. Diese Ebene wird vielleicht am ehesten durch das viel missbrauchte Wort „Mystik“ beschrieben. Es ist bezeichnend genug, dass sich Mystiker, gleich ob theistisch oder atheistisch, viel ähnlicher sind als die expliziten Konstrukte, Rituale usw. der Religionen. Man werfe nur einmal einen Blick auf den ungeheuren Formalapparat der katholischen Kirche; es ist schwer zu sehen, wo in der Orgie dogmatischer Detailaussagen und Vorschriften für genuine religiöse Erfahrung noch viel Platz ist (die gängige Behauptung, gerade dieser Apparat ermögliche diese Erfahrung, halte ich für nicht gerechtfertigt, hier werden Wollen und Autosuggestion mit Können verwechselt). Es ist auch kennzeichnend, dass Mystiker in ihren Religionsgemeinschaften oft Außenseiter und als Personen eher Einzelgänger sind und waren und jedenfalls nach meiner Erfahrung Personen, deren Religiosität sich gerade nicht in der Kinderzahl niederschlägt. Es hilft m.E. auch nicht, hier eine Ergänzung zu „den anderen“ zu sehen; vor allem der konventionell Sozialgläubige dürfte dem Mystiker schwerlich etwas zu sagen haben, und in umgekehrter Richtung dürften die oberflächlichste Esoterik und die tiefste Mystik ineinander verschwimmen. Ich jedenfalls kenne keinen glaubwürdigen Mystiker, dessen Eigenart sich in einer höheren Kinderzahl niederschlug. Geht man davon aus, dass dieser Aspekt der Religiosität primär der Entwicklung der Hirnstruktur geschuldet ist – und sei es als Epiphänomen und Luxusprodukt einer in anderer Hinsicht optimierten Entwicklung -, dass aber eine zunehmende Komplexität von Organen, die als Sinnesorgane oder verarbeitende Organe den Kontakt mit der Umwelt vermitteln, auch ein irgendwie „treffenderes“ und jedenfalls reicheres Bild der Umwelt vermitteln kann, dann scheint mir dieser neurobiologische Aspekt ungeheuer viel interessanter und fruchtbarer als die Reproduktionsrate; letztere empfinde ich sogar als eines der stärksten Argumente dagegen, dass Religion die Substanz hat, die sie beansprucht; niedere Biologie in Form durchsichtiger sozialer Fiktionen.
Und damit bin ich bei Punkt 1. zurück. Ich finde es schade, sich ausgerechnet den m.E. ödesten und in jeder Hinsicht – außer der numerischen Kinderzahl – am wenigsten fruchtbaren Aspekt von Religion herauszusuchen, um ihn zur durchgängigen Figur oder gar Basis einer Argumentation zu machen.
Viele Grüße
@Michael
Das hat doch einfach nichts mit meiner Kritik zu tun. Ich hab dein Evolutionsargument nicht per se angegriffen. Sondern den KERN deiner Argumentation. aber es ist ja eben immer wieder das selbe. Vorwürfe wie: Was hast du eigentlich Religionen oder Deine Kritik kommt ja nur aus deiner Abneigung zu Religionen etc.
Das ist stets an den Fragen die ich dir stelle vorbei. Scheinbar verstehst du die Kritik die hier sonst alle einfach nachvollziehen können nicht.
Und das ist ganz einfach zusammengefasst auf einen Satz: Nur weil etwas erfolgreich ist, muss ich es noch lange nicht Wissen nennen.
Ok, was ist die Intention der Präsentation über die du berichtest?
Anton
Doch, ich verstehe Deine Kritik schon. Allerdings stützen sich Du und @Herr Jörres m.E. zu stark auf persönliche Neigungen, nicht auf empirische Daten. Und über Geschmack kann man m.E. kaum streiten.
Du schriebst: Nur weil etwas erfolgreich ist, muss ich es noch lange nicht Wissen nennen.
Und, ja, man “muss” nicht jede Form von erfolgreicher Kenntnis Wissen nennen. Man kann z.B. auch nur eine Form des Wissens (z.B. jenes aus der Wissenschaft, der Literatur oder dem Studium heiliger Schriften) verabsolutieren.
Aus evolutionärer Sicht lässt sich prüfen, ob ein solcher erkenntnistheoretischer Monismus (es gibt nur “eine” Form des Wissens) besser zu den Befunden passt als ein erkenntnistheoretischer Pluralismus (es gibt verschiedene Formen des Wissens, die ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen und auch ganz unterschiedlich falsifiziert werden). Und die evolutionäre Datenlage spricht eben m.E. ganz deutlich für den erkenntnistheoretischen Pluralismus!
Du kannst ja gerne an Deiner engen Definition festhalten, kein Problem. Diese wird aber dann selbst unwissenschaftlich, wenn sie sich nicht mehr falsifizieren lässt bzw. Falsifikationen nicht als solche anerkennt. Erkenntnistheoretische Monisten religiöser Art ignorieren ihnen unliebsame Befunde ja auch dauernd, Du hast das gleiche Recht.
Denn wie man es auch dreht und wendet: Wenn nur empirisches Wissen “Wissen” im evolutionären Sinne wäre, müsste dieses ausreichen, um über Generationen hinweg erfolgreich Überleben und Fortpflanzung zu gewährleisten. Das ist ganz eindeutig nicht der Fall…
Ok, was ist die Intention der Präsentation über die du berichtest?
Ich berichte nicht nur, sondern stelle sie ja auch zur Verfügung – sie ist hier komplett und mit Folien und Daten abrufbar:
http://www.blume-religionswissenschaft.de/…e.pdf
@Rudolf Jörres
Lieber Herr Jörres,
ganz offen gesagt vermischen Sie m.E. emotionale Wertung und empirische Beschreibung viel zu stark miteinander, was eine sachbezogene Diskussion doch sehr erschwert.
Beispielsweise schreiben Sie mir die Behauptung einer “Überlegenheit” der Amish zu, die ich so aber nie behauptet habe. Die Amish sind vielmehr eine Fallstudie für das reproduktive “Potential” von Religiosität und religiöser Vergemeinschaftung – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wenn es denn eine vergleichbar kinderreiche, nichtreligiöse Tradition gäbe würde mich das mindestens ebenso interessieren! Dass jedoch nur Religionsgemeinschaften dieses demografische Potential über Generationen hinweg aufweisen ist ein wissenschaftlich zentraler Befund. M.E. stimmen wir doch beide darin überein, dass alleine statistische Korrelationen zwischen religiöser Praxis und Geburtenzahl noch keine Kausation belegen – dafür braucht es dann eben ergänzend auch Fallstudien, und eine solche sind die Amish. Und ich stimme Ihnen sogar zu, dass sie eine bestimmte, von der (US-amerikanischen Gesellschaft freiheitlich bereit gestellte) Nische erschließen – und umgekehrt der umgebenden US-amerikanischen Gesellschaft eben auch spezifische Produkte und Dienstleistungen anbieten. Sie sind nicht das Endergebnis aller Evolution, sondern eine derzeit reproduktiv und kulturell erfolgreiche Form, auf die weitere folgen werden.
Ob Sie oder ich die Amish, die Mystik oder andere religiöse Formen nun wunderbar finden oder nicht, tut doch m.E. aus evolutionärer Sicht erst einmal nichts zur Sache – sie sind zu erforschen. Und die Bedeutung des Reproduktionserfolges ist doch nicht meine persönliche Vorliebe, sondern der Weg, auf dem sich genetische Merkmale durchsetzen oder eben nicht. Dass Menschen ohne religiöse Vergemeinschaftungen so bestürzend niedrige Geburtenraten aufweisen habe ich mir doch weder ausgedacht, noch bin ich persönlich schuld daran. Aber warum sollte ich es verschweigen?
Sie schreiben einerseits, dass Sie Überbevölkerung durch religiöse Minderheiten fürchten, beklagen dann, dass ich mich auf reproduktive Aspekte konzentrieren und finden, ich sollte lieber über Mystik & Co. forschen. Aber gerade wenn Sie – wie z.B. auch Eric Kaufmann – den demografischen Erfolg fundamentalistischer Gruppen fürchten, sollten wir dann nicht frühzeitig so viel wie möglich dazu erfahren, um damit umgehen zu können?
Mich interessieren neue, ggf. auch freundlichere (“spirituelle”, “mystische” etc.) Formen von Religiosität durchaus, sie waren z.B. auch Thema hier:
http://www.chronologs.de/…erfolg-der-kirchentage
Aber ich wäre doch wirklich ein schlechter Wissenschaftler, wenn ich nur das erforschen würde, was allen irgendwie zusagt. Wer die (biokulturelle) Evolution von Religiosität und Religionen erkundet, kann m.E. nicht an dem beeindruckenden, kooperativen und reproduktiven Potential dieses Merkmals und seiner kulturellen Ausprägungen vorbei gehen. Und wo stünde denn auch geschrieben, dass sich die Evolution um unsere persönlichen Vorlieben kümmern müsste?
Michael Blume, 17.07, 09:21
Lieber Herr Dr. Blume,
vielen Dank für Ihre Antwort. Folgende Bemerkungen möchte ich mir erlauben.
1. Wissenschaft ist immer an Präferenzen gekoppelt, nämlich in der Hinsicht, was man für wissenschaftlich interessant und fruchtbar hält. Darum aber geht es mir. Ferner darum, nicht Beschreibungsebenen miteinander zu vermengen. Es geht m.E. an der Sache vorbei, wenn Sie das auf „Emotionen“ zurückführen, so als ob „Emotionen“ nicht auch gute Gründe haben könnten, und zwar gerade für jemanden, der in einem praxisorientierten Fach wissenschaftlich tätig. In meinen Augen war und ist Wissenschaft immer eine „emotionale“ Sache, gerade dann, wenn sie um Objektivität bemüht ist.
2. Die Amish habe ich deshalb angeführt, weil sie nur als – auch und vor allem räumliche – Nischenpopulation in einem sehr großen Land überleben und erfolgreich sein können. Sobald sie echter Konkurrenz und Druck von außen ausgesetzt wären, würde es anders aussehen. Nicht ohne Grund sind und wären sie in Europa, wo man sich nicht so einfach ausweichen kann, nicht vorhanden. Die Amish sind m.E. ein Extremfall, der über den echten Konkurrenz-Wert der Religion in einer komplexen Gesellschaft nichts aussagt, sondern im Gegenteil zur Vorsicht mahnen muss, vor allem wenn die Komponente der sozialen Kontrolle und Abschottung so sehr im Vordergrund steht.
3. Die Adhärenz an eine religiöse Praxis ist i.d.R. hochgradig mit vielen anderen sozialen und persönlichen Faktoren gekoppelt. Es ist auch mit multivariater Statistik schwierig, hier saubere statistische Zuschreibungen zu erzielen, von der Frage der Kausalität ganz abgesehen, Sie schreiben es selbst. Aus meinem eigenen Arbeitsgebiet kenne ich genügend Fälle, bei denen ungerechtfertigte Schlüsse gezogen wurden. Andererseits bin ich weit davon entfernt zu bestreiten, dass Religion – als sozialer Faktor – sich im Überleben in einer feindlichen Umwelt und wohl auch der Gruppenkonkurrenz positiv auswirken kann. Allerdings sehe ich darin keinen bedeutenden Erkenntniswert, denn die These scheint mir trivial und vor allem intellektuell unfruchtbar.
4. Schaue ich mir die Forschung dazu an, besteht sie in der immer gleichen Auflistung von Statistiken, dass Religionsanhänger mehr Kinder haben. Daraus wird dann der immer gleiche „evolutionäre“ Schluss gezogen, der m.E. nicht adäquat berücksichtigt, dass ein Verhalten, das in der Frühform der Menschheitsentwicklung einen evolutionären Wert gehabt, unter den veränderten Bedingungen keineswegs mehr so gesehen werden muss, und umgekehrt. Es herrschen heute neuartige, artifizielle Bedingungen, und man sieht an Haustieren, wie Verhaltensweisen oder Merkmale ihren Wert in einer neuartigen, beispielsweise beschützenden Umgebung ändern können. Vor allem aber sehe ich nicht, was an neuen, vielfältigen Fragestellungen folgt und was ich damit praktisch anfangen kann. Nur das aber interessiert mich als Wissenschaftler, nicht das endlose Belegen der immer gleichen These, das überlasse ich den Bürokraten. Insofern finde ich Ihre Ausführungen, das müsse man doch erforschen dürfen, irgendwie traurig und an der Sache vorbeigehend. Es geht mir auch nicht darum, dass Sie sich eventuelle „unschöne“ Aspekte doch nicht „ausgedacht“ haben usw. oder dass mir das Ganze sozusagen nicht passt, ich halte es schlicht und einfach für sekundär, und ich finde es – „offen gesagt“ – schade, wenn ein vielseitig beschlagener und interessierter Mensch diesen (m.E.) relativen Oberflächenaspekt zum Hauptthema macht.
5. Zwischen dem reproduktiven Wert der Religionsgemeinschaften und der sog. religiösen Erfahrung sollte man m.E. streng differenzieren. Meine vorgebrachte drastische Unterscheidung und die Ausführungen zu letzterem Aspekt, für den ich keinen besseren Ausdruck als „Mystik“ weiß, sollten ihnen darlegen, dass – überspitzt gesprochen – das eine mit dem anderen so gut wie nichts zu tun hat. Das wage ich nicht nur aufgrund meiner intensiven persönlichen Erfahrung mit einer verbreiteten Religionsgemeinschaft und dem von mir erfahrenen „Normaltypus“ des Gläubigen zu behaupten, sondern das sehe ich auch vielfältig sonst belegt. Der kollektive, organisatorische Aspekt liegt auf rein sozialpsychologischer Ebene; mit dem, was ich genuine religiöse Erfahrung nennen würde, hat das nichts zu tun. Es kommt nicht von ungefähr, dass beispielsweise ein Journalist, der unlängst einen Bestseller über den Katholizismus veröffentlichte, in ähnlich geartetem Enthusiasmus vorher über die Nation oder über den Fußball und die Pflicht zum Jubeln schrieb. Ich habe auch keinen Zweifel, dass die Teilnehmer eines Reichsparteitages seinerzeit ein Hochgefühl verspürten, und möglicherweise verspüren das auch Schimpansen, wenn sie in einem kollektiven Rausch mänadenartig ein anderes Tier oder einen Artgenossen zerfleischen.
6. Ich „fürchte“ nicht die Überbevölkerung durch religiöse Gruppen, habe mich ja im Gegenteil von solchen Projektionen distanziert. Worum es mir dabei ging, war aufzuzeigen, dass in einer globalen Gesellschaft der Begriff des „evolutionär Vorteilhaften“ die durchaus nachvollziehbare Bedeutung verliert, die er aus der Vergangenheit hat. Global gesehen verhalten sich diejenigen, die gemäß religiösem Gebot möglichst viele Kinder in die Welt setzen, eher kontraproduktiv. Selbst diejenigen, die glauben, in einem Armageddon würde die Masse der Un- und Falschgläubigen vernichtet und wieder Platz geschaffen, werden sich früher oder später damit konfrontiert sehen, dass die Erde nur endliche Ressourcen hat. Ich sehe auch nicht, wie die Feststellung einer größeren Kinderzahl dabei helfen soll, mit den anstehenden Problemen umzugehen, denn der Handlungsspielraum ist m.E. Null. Schließlich wird man durch Willensakt oder Beschluss Religionen weder verbieten noch umdefinieren können oder wollen, das sind viel zu komplexe soziale Vorgänge. Dies ist es ja gerade, warum ich mich wundere, dass Sie dieses Thema so reiterieren. Es folgt nichts daraus, weder für uns persönlich im Sinne einer möglichen vertieften Erfahrung usw., noch wissenschaftlich oder praktisch.
7. Statt das kooperative usw. Potenzial der organisierten Religionsgemeinschaften zu betonen, schiene es mir für die Zukunft wichtiger, beispielsweise zu untersuchen, inwieweit die interne Kooperation notwendigerweise mit externer Antikooperation gekoppelt ist. Sozialpsychologen haben Evidenz dafür beibringen können, dass die Entwicklung kooperativen Verhaltens wesentlich der Entwicklung des Kriegerischen geschuldet ist. Wer die Geschichte der Religionen Revue passieren lässt, wird mehr als genug Hinweise darauf finden, dass Feindbilder (Ungläubige, Heiden etc.) konstitutive, wenn nicht notwendige Bestandteile von Religionen sind. Kriege der Zukunft werden allerdings anderen Charakter und andere Implikationen haben als Stammeskriege. Würde ich auf dem Gebiet arbeiten, so würde ich im Sinne einer fruchtbaren, vorausblickenden und an praktischen Folgerungen interessierten Forschung mich eher solchen Fragen widmen als zum x-ten Mal nachzuweisen oder darauf hinzuweisen, dass die Anhänger von Religionsgemeinschaften halt im Durchschnitt mehr Kinder haben. So what.
Sehen Sie mir nach, dass ich mich in dieser Antwort teils plakativ und drastisch, wenn nicht bis an die Grenze der Höflichkeit gehend, ausgedrückt habe, aber mir ist nicht klar, wie ich mich anders verständlich machen kann.
Viele Grüße
@Rudolf Jörres
Lieber Herr Jörres,
auch diesmal habe ich Ihre Anregungen mit großem Interesse und viel Zustimmung gelesen. Wahrscheinlich müssen wir die Diskussion jedoch bei anderer Gelegenheit vertiefen, da wir an wesentlichen Punkten einander noch nicht zu verstehen scheinen.
1. Der differentielle Reproduktionserfolg über mehrere Generationen ist nun einmal der Maßstab evolutionärer Fitness. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass dies nicht die einzige Perspektive sein kann – aber es ist nun einmal die Perspektive, aus der heraus ich derzeit forsche. Und gerade der o.g. Vortrag widmet sich ja den Implikationen für die Erkenntnistheorie, wie auch z.B. dieser Blogpost das Verhältnis von Demografie & Konfliktneigung beleuchtete:
http://www.chronologs.de/…nds-tzlich-mehr-kinder
Hätte der Tag 36 Stunden, so würde ich gerne auch noch mehr erforschen, aber so habe ich mich eben auf bestimmte Puzzleteile im Großen Ganzen spezialisiert.
2. Wiederholt schreiben Sie, dass Religiosität ggf. früher evolutionär adaptiv gewesen sein könne, wir heute aber “artifiziell” lebten. Die Befunde sind doch aber m.E. genau anders herum: Das kooperative und reproduktive Potential messen wir ja “heute” (!) – und diskutieren doch eher, ab wann es einsetzte. Und in einer durch Kultur gestalteten Umwelt (über-)lebten unsere Vorfahren m.E. spätestens seit der Erfindung des Kochens bereits zu Zeiten des Homo erectus:
http://www.chronologs.de/…evolution-des-menschen
3. Wie die Amishen so leben auch wir in einer ökologischen Nische – und es ließe sich durchaus fragen, ob z.B. nicht unser Ressourcenverbrauch, unser Anhäufen von Schulden etc. viel weniger nachhaltig ist als deren Lebensweise. Ich bewundere Ihre “Sicherheit”, mit der Sie über andere Menschen und Kulturen, die Zukunft der Menschheit etc. zu urteilen vermögen. Persönlich sehe ich meine Aufgabe eher darin, populäre, aber kaum belegte Annahmen (z.B. zur Natur von “Wissen”) zu erkunden und uns damit anzuregen, auch unser Eigenes kritisch-konstruktiv zu hinterfragen. Die Amish halte ich nicht einfach für “überlegen”, unsere Lebensweise aber auch nicht.
Ihnen von Herzen alles Gute, auf hoffentlich noch viele fruchtbare Diskussionen!
@Michael
Ok, wir sind vollständig einer Meinung bis auf den Punkt, dass ich nicht verschiedene Dinge auf einen Begriff projezieren möchte. Ich denke, dass die “Dinge” ganz verschieden sind in Bewertung und Bedeutung.
Es ist einfach nur präziser, wenn ich verschiedenen erkenntnistheoretischen Konzepten verschiedene Begriffe zuordne. Alles andere finde ich unsinnig.
Mich würde mal Anatols Meinung dazu interessieren. Wobei ich befürchte, dass er sagen wird: Beides ist richtig, es sollte nur aus dem Kontext hervorgehen. Oder so ähnlich
Sebastian Voß Orientierung
Die von Sebastian angesprochene Frage, führt mich auf die Spur, von der ich das Thema bisher betrachtet habe.
Interessant (und soweit ich weiß: ungelöst) ist aber die Frage, welche zugrunde liegenden Mechanismen religiöse Weltbilder abbilden, die sie so erfolgreich machen.
Eine ziemlich gut ausgearbeitete Antwort auf diese Frage hat das zwar schon etwas in die Tage gekommene, aber nichtsdestoweniger lesenswerte Buch von Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen (1996). Ich will versuchen, es so kurz wie möglich zusammenzufassen:
Bischof erhebt nicht etwa den Anspruch Religionstheorie zu machen. Sein Interesse richtet sich auf religiöse Erzählungen, also Mythen und er fragt, woher deren erstaunlicher Gleichklang in den unterschiedlichsten Kulturen und Gesellschaften kommt und warum sie so beständig sind. Seine Antwort ist sowohl eine psychologische wie auch eine anthropologische.
Zunächst ist es wichtig, Mythen selbst als von Mutation und Selektion betroffene „Subjekte“ zu begreifen, denn sie unterliegen ja einer Überlieferung (oder eben nicht). Mythen sind dabei als eine Verarbeitung von Erfahrungen menschlicher Weltaneignung zu verstehen, eine „Abbildung der menschlichen Motivdynamik und ihrer typischen Konfliktmöglichkeiten“ (748). Die „Nische“, an die sie sich anpassen, besteht also nicht in der äußeren, natürlichen Welt, sondern vielmehr in der inneren Welt der subjektiven Erfahrungen und des Bewusstseins. Die Orientierung, die sie bieten, besteht demnach genauso wenig in der Ordnung der äußeren Welt, sondern eben in Prozessen der Organisation menschlicher Emotionen, Motivationen¬, Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Phantasien und aller damit verbundenen Schwierigkeiten von Geburt an.
Anthropologisch ist Bischofs Antwort insofern, als er dem Menschen eine spezifische kognitive Kompetenz zuspricht, die es ihm ermöglicht, sich selbst in der Zeit zu entwerfen – inklusive seiner veränderbaren Bedürfnisse und Motive. Und sich dabei dennoch als eine mit sich selbst identische Person zu erfahren. Wenn man diesen Gedanken als richtig unterstellt und weiterdenkt, wird klar dass der Mensch damit in eine Welt-Erfahrung höchster Unübersichtlichkeit gestellt ist, die er verarbeiten muss. Zum einen ist er vor die Perspektive einer offenen, unsicheren Zukunft gestellt, zum anderen erfährt er sich als eine Person in allen Dimensionen von Historizität. Und zum dritten (damit verbunden) als ein endliches Wesen. Daraus wird verständlich, warum alle (die meisten) Religionen so viel Wert auf Angstbewältigung und das Versprechen von Geborgenheit (und sei es im Jenseits) legen. (Diese Gedanken sind in ihrer Allgemeinheit sicher nicht neu, aber Bischof gewinnt einzelnen Fragestellungen in seiner konsequent psychologischen Herangehensweise durchaus neue Aspekte ab.)
Mythen enthalten also auch in Bischofs Theorie eine spezifische Form von Wissen und den Vergleich mit der Farbenwahrnehmung finde ich absolut passend, entspricht er doch exakt der – auch von Bischof vertretenen – evolutionären Erkenntnistheorie. Allerdings geht es Bischof weniger um religiöses Erleben oder gar um Gott, sondern um die Kraft der Mythen. Und hier spielt weniger die Unterscheidung einzelner Wissensbereiche die Rolle, sondern einzig psychologische Folgerichtigkeit. Das Wissen der Mythen ist die destillierte innere Erfahrung als Mensch zu werden und zu reifen, sich zu erfahren als ein Wesen in Geschlechtlichkeit, in Endlichkeit, als Wesen mit Vorfahren und Nachkommen usw.
Ich würde mich übrigens auch seiner Forderung anschließen, bei einem erkenntnistheoretischen Pluralismus nicht stehenzubleiben. Gerade wenn es um das Verhältnis von Kultur und Natur geht, kommt es auf begriffliche Schärfe und Genauigkeit an.
Soweit. Über Reaktionen würde ich mich sehr freuen.
Samuel
@Samuel Papendorf
Vielen Dank für den Hinweis! Ich habe das Bischof-Buch vor einigen Jahren gelesen und fand es sehr faszinierend. Ob es sich ggf. lohnen würde, es unter evolutionären Gesichtspunkten noch einmal anzuschauen?
Einerseits bin ich auch der Auffassung, dass psychologisch-kognitive Prozesse zum Verständnis religiöser Mythen und Erfahrungen zentral sind. Aber Ihre Zusammenfassung liest sich sehr individualistisch, als ob Bischof die Wirkungen im Einzelnen, nicht aber im sozialen Netzwerk im Auge gehabt hätte. Ist dem so oder macht er auch Aussagen zu den sozialen Folgen (z.B. Kooperations- und Familienstrukturen)?
ad Samuel Papenforf, 18.7. 15:55
Sehr geehrter Herr Papendorf,
vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag und die gute, nachvollziehbare Darstellung des Inhaltes des Buches von Herrn Bischof. Die Thesen klingen sehr plausibel, unterstreichen aber m.E. um so mehr, dass wir es bei den Randbedingungen, unter denen sich Religion entwickelt, primär mit psychologischen, sozialen und organisatorischen Restriktionen zu tun haben. Mit anderen Worten, es werden Effizienzbedingungen widergespiegelt. In einem meiner Kommentare führte ich das Analogon des Geldes auf, dessen Erfindung man auch so sehen kann. Beim Farbensehen handelt es sich aber offenbar nicht primär um ein soziales Konstrukt, sondern etwas, für das wir mittels Wissenschaft „objektive Korrelate“ finden können. Dieses Wissen hat einen anderen Status an Sicherheit, Prüfbarkeit und intersubjektiver Vermittelbarkeit. Über Farben können Menschen ziemlich gute Übereinstimmung herstellen, über Religionen nicht. Und es wäre in meinen Augen eine Ablenkung, darauf zu verweisen, dass sich ja die Strukturelemente doch so ähnlich seien. Es geht bei Wissen im neuzeitlichen Sinn um prüfbare Inhalte, und gerade die divergieren bis zum wechselseitigen Totschlag. Ein Ritual, das meiner Lebensbewältigung dienlich ist, kann ich als zu meinem Leben und meiner Person wesentlich zugehörig betrachten, es ist aber kein „Wissen“. Wegen unterschiedlichen Farbensehens sind vermutlich keine Menschen geopfert und verbrannt worden. Ich verteidige sonst oft die Vielfalt der Weltzugänge und Lebenspraxis auch und vor allem gegen m.E. allzu naturwissenschaftlich verengte Kollegen, es erschreckt mich aber, wenn, wie teils in diesem Blog, großzügig mit dem Begriff des „Wissens“ umgegangen wird („Wissen der Mythen“). Das heißt ja überhaupt nicht, dass im Leben nicht noch vieles andere als „Wissen“ wichtig ist. Gerade dieses Wichtige aber sollte man aber m.E. nicht mit einem Begriff belegen, der Objektivierbarkeit suggeriert, sondern mit solchen, die es auf das Soziale und Persönliche (und horribile dictu: Relative) zurücknehmen.
Noch einmal vielen Dank für den interessanten Buchhinweis.
Wissen
Lieber Herr Jörres, liebe alle,
ein aktuelles Fundstück zum Thema enger und weiter Wissens-Begriffe: Die indische Regierung ist dabei, mehr als eintausend Yoga-Praktiken dokumentieren und “patentieren” zu lassen, um damit Geschäftemacher abzuwehren:
Times of India – Yoga Knowledge Library
Und der Name des Verzeichnisses? “Traditional Knowledge Digital Library (TKDL)” – Traditionelle Wissensdigitalbibliothek
Nur mal so als Anregung… Beste Grüße! 🙂
ad Michael Blume 18.07 21:27
Lieber Herr Blume,
Wie Sie sicherlich wissen, bedeutet „knowledge“ mehr und noch anderes als „Wissen“, nämlich auch „Kenntnisse, Fertigkeiten“ usw. Schon das „traditional“ zeigt, dass es sich um Praktiken, Gebräuche handelt. Mit dem Wissen, um das es hier geht, hat das doch nichts zu tun. Im Übrigen: Werden nicht Erfindungen patentiert, und gerade nicht Wissen?
Dies als Anregung mit vielen Grüßen
@Rudolf Jörres (/Samuel Papendorf)
Sehr geehrter Herr Jörres,
ich finde Ihre Kommentare wirklich spannend und anregend und ich kann Ihnen in vielen Punkten zustimmen. Ich möchte in dieser Antwort noch einmal auf den Vergleich mit der Farbwahrnehmung zurückkommen.
Denn ich denke schon, dass man das Wissen, welches man aus der Farbwahrnehmung zieht, mit dem Wissen, welches man aus religiösen Mythen zieht, vergleichen kann.
Bei dem Wissen aus der Farbwahrnehmung ging es ja letztendlich nicht um den Farbeindruck selbst, der als subjektiver Eindruck kein objektivierbares Wissen darstellt, sondern um die physikalischen Prinzipien, die wir ganz nebenbei auf ganz andere Art und Weise herausgefunden haben und die wir erst danach auf kreative Art und Weise in unserer Farbwahrnehmung abgebildet gefunden haben.
Das Gleiche möchte ich nun für das Wissen aus den religiösen Mythen behaupten: Es geht dabei nicht um die subjektive(n) Komponente(n) der einzelnen Weltbilder, sondern um die gemeinsamen Strukturen, die sich in religiösen Mythen feststellen lassen. Wie Samuel sehr schön beschrieben hat, lässt sich daraus einiges psychologisches Wissen ableiten, das auch den Ansprüchen von Objektivierbarkeit genügt (bei Psychologie handelt es sich schließlich um Wissenschaft). Religiöse Weltbilder bilden also (unter anderem?) psychologische Bedürfnisse/Strukturen der Menschen ab, was dem Wissen entspricht, das auch bei der Forderung nach objektivierbarem Wissen im heutigen Sinne in ihnen liegt.
Sie haben natürlich recht, dass die Übereinstimmungen, die zwei Menschen bei der Farbwahrnehmung erzielen, (meist) wesentlich größer sind als die Übereinstimmungen bei den religiösen Weltbildern, denen zwei Menschen anhängen. Aber dabei geht es um die subjektiven Einzelheiten, die wir für das psychologische Wissen, das wir aus religiösen Mythen ziehen wollten, gar nicht beachtet haben. Außerdem dürfte die Abbildung psychologischer Strukturen nicht so eindeutig sein wie die Abbildung physikalischer Gesetze durch die Farben.
Ich begrüße Ihren Vorschlag den Begriff Wissen dem inzwischen geläufigen Sprachgebrauch entsprechend als objektivierbares Wissen zu benutzen. Ebenso finde ich es gut, den Religionen nicht jede Erkenntnisform absprechen zu wollen. Dafür wäre ein anderer Begriff aber wohl tatsächlich besser…
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Voß
Norbert Bischof
Sehr geehrter Herr Jörres,
es freut mich, wenn Sie meinen Beitrag und den Hinweis auf Bischof als interessant einstufen. (Nebenbei: wenn ich es richtig sehe, dürfte es für sie nicht allzu schwer sein, Herrn Bischof persönlich kennenzulernen. Er lehrt weiterhin in München.) Sie verweisen in erster Linie auf eine exakte Verwendung des Wissensbegriffs. Ich bin da im großen Ganzen völlig bei Ihnen. Meine Formulierung „Wissen der Mythen“ ist mit Sicherheit hinterfragbar und war vielleicht auch nicht ganz glücklich. Manches in Ihrer Argumentation erschließt sich mir nicht. Wenn wir über Religion, ja überhaupt über Inhalte der Kultur und noch mehr der Psyche (oder dürfen wir Seele sagen?) sprechen, werden wir Schwierigkeiten im Hinblick auf „Prüfbarkeit und intersubjektive Vermittelbarkeit“ bekommen. „Objektive Korrelate“ wird man da allerdings kaum finden, muss man deshalb ganz auf den Begriff des Wissens verzichten? Ehrlich gesagt sehe ich mich aber gar nicht recht dazu in der Lage, mit Ihnen in eine Diskussion über Wissenschaftstheorie einzusteigen. Deshalb verzeihen Sie, wenn ich es dabei belasse, den Gedanken der evolutionären Erkenntnistheorie, wie ich ihn verstehe, noch einmal zu präzisieren: Evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, dass sich der Erkenntnisapparat von Lebewesen in Anpassung an die Umwelt herausbildet. Von hier aus lassen sich begründete Rückschlüsse auf eine wie auch immer geartete „Wirklichkeit“ ziehen. Ich gehe davon aus, das trifft nicht nur auf das Auge und simple Wahrnehmungen (Farbensehen) zu, sondern auch auf kulturelle, gesellschaftliche und geistige Strukturen. Aber ich räume ohne Weiteres ein, dass, wenn wir hier von „Wissen“ reden, die Bedeutung eher in die Richtung geht, die Sie ganz richtig in Ihrem letzten Kommentar (18.07. 23:44) andeuten.
Lieber Herr Blume,
danke auch für Ihre Antwort, es freut mich, dass Bischof Ihnen kein Unbekannter ist. Da ich mich neu in Ihrem Blog aufhalte, möchte ich Ihnen zunächst für Ihr großes Engagement danken. Es ist eine Bereicherung für mich und ich denke auch für das Fach Religionswissenschaft.
Ihre erste Frage kann ich guten Gewissens bejahen. Die Diskussion evolutionärer, auch (sozio-)biologischer Probleme nimmt einen größeren Raum ein, als in meiner „Zusammenfassung“ (schließlich sind es über 800 Seiten). Ich sehe, dass Ihr Interesse in erster Linie auf den sozialen „Leistungen“ von Religion liegt. Wenn ich bei Bischof bleiben darf, lohnt da vielleicht auch ein Blick in sein bereits 1985 erschienenes Werk Das Rätsel Ödipus.
Zunächst möchte ich eine kleine aber bedeutende Korrektur anbringen: Es geht bei der Untersuchung der Bedeutung evolutionärer Zusammenhänge in der menschlichen Kultur gar nicht so sehr um die kognitiven als vielmehr um die motivationalen Prozesse.
Hinsichtlich der Überlegungen zu Kooperations- und Familienstrukturen habe ich Ihren Artikel „Die Rolle der Frau in der Evolution von Religiosität“ gelesen. Ich muss noch etwas darüber “hirnen” 😉 und möchte Ihnen später gerne noch ein paar Gedanken mitteilen.
Knowledge
Nun haben wir hier eine gute & lebendige Debatte! 🙂
Die o.g. Barcelona-Konferenz widmete sich ja ausdrücklich den “Societies of Knowledge” -also Wissensgesellschaften im umfassenden Sinn. Und ich sehe keine empirische Basis für eine Verengung des Wissensbegriffes, ohne diese deswegen anderen untersagen zu wollen.
@ Michael Blume
Wie versprochen noch einige Gedanken zu Ihren Publikationen: Ich finde es absolut begrüßenswert, dass sie in die religionswissenschaftliche Diskussion naturwissenschaftliche Erkenntnisse einbringen. Es kann die kulturwissenschaftlichen Fächer nur bereichern, wenn sie sich nicht ausschließlich mit Theorien, sondern auch einmal mit „harten Fakten“ und messbaren Daten konfrontieren. Dennoch habe ich natürlich auch ein paar kritische Anmerkungen:
1. Ihr Religionsbegriff (Glauben an überempirische Wesen) mag als Arbeitshypothese taugen, aber wenn die evolutionären Einsichten in religionswissenschaftliche Theorie überführt werden sollen, ist er m.E. eindeutig zu schwach. Dass diese Definition „nahezu zum Konsens unter den beteiligten Forscherinnen und Forschern geworden ist“, mag für den Kreis Ihrer Forschung zutreffen, für die Religionswissenschaft im Ganzen tut sie das sicher nicht. Aber dieses Problem eröffnet natürlich ein sehr weites Feld. Am meisten stört mich dabei, dass es sich teilweise liest, als hätten Sie das theoretische Grundgerüst direkt von Darwin übernommen. Tun Sie das meinetwegen in Bezug auf Evolution, aber nicht in Bezug auf Religion. (Ähnliches könnte man zum Säkularisierungsbegriff sagen.)
2. Was heißt „biokulturelle Evolution“? Klar ist, dass Natur und Kultur im Prozess der Evolution irgendwie zusammenwirken. Das klingt erst mal gut und scheint eine Brücke über alte Gräben zu bauen. Die entscheidende Frage ist doch aber: WIE wirken sie zusammen? Und das wird durch eine solche Wortschöpfung m.E. mehr vernebelt als erhellt. Kulturelle und biologische Evolution haben ein verschiedenes Adaptationsobjekt. Die biologische Evolution passt sich an die natürliche Ökologie der Spezies an, aber an was passt sich eigentlich die kulturelle an? Bischof sagt: an die menschliche Motivdynamik. Die kulturellen Strukturen als Makrostruktur stabilisieren sich dann, wenn der Spannungszustand der Elemente ein Minimum erreicht hat. Das ist tatsächlich ein ganz anderer Ansatz als der, den Sie verfolgen – so richtig ist mir das auch erst jetzt aufgefallen. Ich würde es nicht individualistisch nennen, es ist wirklich psychologisch. Während Sie Religion als ein praktisches soziales Instrument zur direkten Verbesserung des Reproduktionserfolges einer Sozietät begreifen, stehen beim psychologischen Zugang die Bedürfnisse des Einzelnen (insofern individualistisch, klar) im Vordergrund. Aber auch hier spielt sich Evolution ab, weil das kulturelle Erzeugnis nur dann „überlebt“ wenn es der menschlichen Natur entspricht. Hier äußert sich eben auch ein bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von Kultur und Natur, dass ich bei Ihnen nicht geklärt sehe. Vielleicht können Sie ja Möglichkeiten entdecken, beide Wege fruchtbringend zusammen zudenken. Das würde mcih freuen.
3. Schwierigkeiten habe ich auch mit Ihrer Verwendung des Begriffs: „erkenntnistheoretischer Monismus“. Monismus ist mir als Gegenposition zum Dualismus geläufig, also als (erkenntnistheoretischer) Standpunkt, der die Welt nicht in zwei unterschiedliche Seinsweisen (Leib-Seele etc.) zerspalten will. Dass der Monismus (wie er im 19. Jh. als Weltanschauung verbreitet wurde) historisch auch eine Nähe zum Positivismus hat, mag sein, aber ich würde ihn keineswegs mit ihm gleichsetzen. Monismus sollte sicher nicht so interpretiert werden, dass von ihm her nur EIN gültiger Erkenntnisweg möglich sei. Deshalb halte ich auch die Entgegensetzung von erkenntnistheoretischem Monismus und Pluralismus für unglücklich. Das ist das eine. Das andere ist die Frage, ob Wissenschaft, Kunst und Religion als epistemologisch unterschiedliche Erkenntnisbereiche mit je eigener Eigengesetzlichkeit bezeichnet werden können. Auch da hätte ich meine Zweifel (unabhängig davon, ob Religion jetzt „Wissen“ transportiert oder nicht).
4. Weil es schon spät ist nur noch eine kurze Bemerkung zur Gender-Frage. Helfen Sie Wissenschaftlerinnen wie Antoinette Brown Blackwell zu ihrem Recht! Das finde ich nicht nur sympathisch, sondern auch wissenschaftlich wertvoll. Wenn Sie dann aber in den Duktus eines kämpferischen Feminismus verfallen und Frauen gleich mal so zu den Begründerinnen der Religion und Zivilisation machen, finde ich das nicht nur unangenehm, sondern auch überzogen.
Beste Grüße!
@Samuel Papendorf
Lieber Herr Papendorf,
haben Sie herzlichen Dank für Ihre kritisch-konstruktive Meinung! Wenn ich auch Ihren Ton dabei an einigen Stellen etwas unangemessen empfand – was den Bedingungen von Online-Kommunikation geschuldet sein kann -, so habe ich Ihre inhaltlichen Anliegen, Ermutigungen und auch Anfragen mit großem Interesse gelesen. Sie haben sich erkennbar Mühe gemacht und sind auch tiefer eingestiegen – was im Web nicht selbstverständlich und m.E. dankend zu würdigen ist.
In vielem stimme ich Ihnen ausdrücklich zu: So fasse auch ich die Definition von Religiosität als “Glauben an überempirische Akteure” ausdrücklich als Arbeitsdefinition im Rahmen der Evolutionsforschung auf – und fände es geradezu tragisch, wenn dies die letzte oder gar einzige Definition von Religion sein sollte!
Zu Darwins Evolutionshypothesen zu Religiosität und Religion habe ich eine Ausarbeitung veröffentlicht, die ich aber leider bislang aus rechtlichen Gründen nicht online zugänglich machen konnte. Sie erschien im “Prinzip Evolution” 2010 hier:
http://www.chronologs.de/…-guido-vergauwen-hrsg.
Die Perspektive der biokulturellen Evolution oder auch Gen-Kultur-Evolution ist weder beliebig noch vermischend gemeint, sondern entspricht dem Kenntnisstand, wonach die Gegenüberstellung von Natur versus Kultur (zumindest) beim Menschen hoffnungslos überholt ist. Wir alle sind in jedem Moment unseres Daseins stets durch biologische und kulturelle Traditionen ausgeprägt, die beständig wechselwirken. Einen Beitrag dazu hier:
http://www.chronologs.de/…iokulturelle-evolution
Ein schönes Beispiel ist das Kochen, das eine rein kulturell erworbene Fertigkeit ist, aber unsere Biologie (Anatomie, einschließlich der Gehirnentwicklung) tiefgreifend verändert hat:
http://www.chronologs.de/…evolution-des-menschen
Ich würde mich freuen, auch in Zukunft gerne den einen oder anderen Punkt mit Ihnen vertiefen zu können und sage zu, Sie immer wieder gerne und aufmerksam zu lesen!
Mit herzlichen Grüßen
@ Michael Blume
Lieber Herr Blume,
ich danke Ihnen sehr für Ihre freundliche Antwort und bitte Sie um Nachsicht, sollte ich mich im Ton vergriffen haben. Manchmal macht es einfach mehr Spaß, etwas pointierter zu formulieren; nehmen Sie mir das nicht übel! Ich werde mich in Ihrem spannenden Blog gerne mal wieder zu Wort melden.
Kulturelles Wissen
Sehr geehrter Herr Blume,
sie propagieren kulturelles & religiöses Wissen als dem wissenschaftlichen Wissen gleichwertig aber komplementär. Als Beweis führen Sie die naive Interpretation kultureller und religiöser Inhalte an, die offensichtlich nicht mit der Realität übereinstimmen und damit als falsifiziert und somit als nicht-wissenschaftlich zu gelten haben.
Meines Erachtens treten Sie damit allerdings zu kurz. Kann man nicht das kulturelle und religiöse Wissen als implizites Wissen über die menschliche Psychologie ansehen, die dann natürlich wieder falsifizierbar und somit wissenschaftlich sind?
Wenn eine religiöse Gruppe zB fordert, dass man fruchtbar sein und sich mehren soll, weil der Schöpfer das so gerne hätte, dann würde dieses Mem aussterben, wenn es nicht zur Psychologie des Menschen passen würde. Damit ist in diesem Mem aber psychologisches und damit naturwissenschaftliches Wissen integriert und es steht oder fällt genau mit diesem.
Ich würde also sagen, dass kulturelle und religiöse Arten des Wissens Teilgebiete des naturwissenschaftlichen Wissens abbilden. Des wegen würden die drei von ihnen vorgeschlagenen Wissensarten nicht nebeneinander stehen sondern hierarchisch zu einander.
@Peter
Vielen Dank für Ihren Kommentar!
In weiten Teilen – etwa dem Bezug auf Psychologie – kann ich Ihnen durchaus folgen. Gerade habe ich auf Anregung eines anderen Kommentatoren noch einmal “Kraftfeld der Mythen” des Psychologen und Verhaltensbiologen Norbert Bischof gelesen, der genau in diese Richtung argumentiert – aber zugleich auf die eigenständige Domäne des Psychologischen schon gegenüber der Biologie auch besteht.
http://www.science-shop.de/…21-939b-c43a858a9247
Wie Bischof sehe ich nicht, dass z.B. wissenschaftliches Wissen in der Lage wäre, gleichermaßen Verhalten zu “motivieren” wie es kulturelle und religiöse Überlieferungen vermögen.
Aus der Erkenntnis, dass Gene von Säugetieren nur durch Fortpflanzung in kommende Generationen gelangen, folgt ja kaum Motivation für eine große Kinderschar – das wäre m.E. ein naturalistischer Fehlschluss und ist ja bei Menschen mit monistisch “wissenschaftlichem” Weltbild auch so nicht nachweisbar.
Bei Menschen, die sich dagegen z.B. durch Gott zu Familienleben gesegnet und aufgerufen fühlen, sieht die Sache schon ganz anders aus – hier ist das motivationale Element offenkundig gegeben und beobachtbar wirksam. M.E. kann auch die Menschheit der Zukunft nicht auf die verschiedenen (und sich immer weiter entwickelnden) Traditionen ihres Wissens verzichten. Zumindest sehe ich keinen einzigen Fall, wo dies je einer Menschengruppe dauerhaft gelungen wäre…
Unterschiedliche Menschen werden dabei m.E. auch weiterhin unterschiedliche Gewichtungen vornehmen und z.B. je das wissenschaftliche oder religiöse Wissen bevorzugen, meiden, suchen, voneinander getrennt halten oder aufeinander beziehen wollen usw. So merke ich bei einigen (sowohl religiösen wie religionskritischen) Leuten Unbehagen daran, dass ich religiösen Phänomenen mit wissenschaftlichen Instrumenten zu Leibe rücke – andere (ebenfalls aus den verschiedensten Lagern) finden gerade das spannend und anregend.
Wissensverzweigung hinfällig
Ich verstehe nicht ganz, wie sie mir “in weiten Teilen” folgen können, wenn ich doch nur exakt einen Punkt gemacht habe. Mein Argument ist, dass kulturelles/religiöses Wissen, implizites naturwissenschaftliches Wissen – nämlich über die Motivations-Psychologie des Menschen – darstellt. Kulturell-religiöses Wissen ist demnach eine Teilmenge des naturwissenschaftlichen Wissens und die von Ihnen propagierte Verzweigung des Wissens hinfällig.
Es sei denn, sie meinen, dass psychologisches Wissen über Motivation kein naturwissenschaftliches Wissen darstellt…
@Peter
Ach so, dann sind wir an diesem Punkt tatsächlich unterschiedlicher Meinung. Sie schreiben: Mein Argument ist, dass kulturelles/religiöses Wissen, implizites naturwissenschaftliches Wissen – nämlich über die Motivations-Psychologie des Menschen – darstellt.
Ich bin dagegen der Auffassung, dass man z.B. religiöse Schöpfungsmythologien, Märchen oder Fantasyromane (um verschiedene Bereiche religiösen und auch kulturellen Wissens zu benennen) gerade nicht als “implizites naturwissenschaftliches Wissen” auffassen kann – sie halten einer wissenschaftlichen Falsifikation auch für gewöhnlich nicht stand. Wir können die Wirkung und Funktion von Mythen, Märchen und fantastischen Romanen m.E. zwar wissenschaftlich (z.B. psychologisch, soziologisch) erkunden, dass macht diese Mythen, Märchen oder Romane aber selbst noch nicht zu wissenschaftlichen Aussagen. Und wenn wir beide “wissen”, wer Gandalf und Sauron “sind”, so ist das m.E. auch nicht wissenschaftlich verifizierbar, kann aber z.B. im Freundeskreis durchaus wichtig (bzw. “Unwissenheit” peinlich) sein. Dass religiöse Mythologien nicht nur gewusst, sondern auch in verschiedenster Form geglaubt und gelebt werden können, fügt einen weiteren, gewichtigen Unterschied hinzu.
PS: Sie haben einen klasse Blog, den ich immer mal wieder gerne lese!
Michael
Ich argumentiere nicht, dass die direkte, explizite und naive Interpretation von Mythen und Religion naturwissenschaftliches Wissen darstellen würden. Um es noch mal zu wiederholen: religiös-kulturelles Wissen stellt implizites (!) Wissen über die Wirkung eben dieser auf die menschliche Psychologie dar. Sie definieren doch selbst Wissen als das, was evolutionär gesehen wirkt (siehe Blogeintrag) und hier geht es genau um die Wirkung. Sie müssten mir also eigentlich zustimmen.
Nehmen wir mal den Schöpfer, der Fruchtbarkeit fördert, als Beispiel. Natürlich ist das explizite Wissen in diesem Mem nicht-wissenschaftlich und mithin von Phantasie nicht zu unterscheiden. Aber – wie Sie selbst argumentieren – soll dieses Mem zu einem erhöhtem Reproduktionserfolg beitragen und genau das kann es nur, wenn es die Psychologie der Menschen auf die richtige Art und Weise anspricht. Dabei braucht es nicht die tatsächlichen psychologischen Mechanismen zu kennen (explizites Wissen), sondern diese nur richtig triggert (implizites Wissen). Damit ist dieses implizit kodierte Wissen eben von naturwissenschaftlicher, weil falsifizierbarer Art. Es ist genau von der gleichen Art, wie das Wissen um den Abstand des nächsten Astes. Der Unterschied ist eben nur, dass es sich einmal um explizites und einmal um implizites Wissen handelt.
Genau der Teil des religiös-kulturellen Wissens, der evolutionär Wirksam ist, ist Teil des naturwissenschaftlichen Wissens.
@Peter
Die Unterscheidung in implizites und explizites Wissen scheint mir ein sehr spannender Vorschlag zu sein, über den ich gerne ein paar Tage brüten möchte. Zwar sehe ich dafür ein paar Probleme, aber andererseits auch spannende Chancen und möchte da gerne tiefer einsteigen.
Gibt es irgendeine Ausarbeitung, ein Buch, einen Artikel o.ä. dazu?
Michael
Eine Ausarbeitung des Unterschieds zwischen impliziten und expliziten Wissens im Bezug auf Evolutions- und Motivationspsychologie kenn ich nicht – obwohl mir die Anwendbarkeit dieser Unterscheidung auf die Psychologie und den Umgang mit Menschen beinahe selbstevident zu sein scheint. Eine Beschreibung der Unterscheidund hab ich zuerst in “Gödel, Escher, Bach” von Douglas Hofstadter gelesen, dass ich Ihnen zur Lektüre sehr empfehlen würde (falls Sie das Buch noch nicht kennen).
In der letzten Zeit habe ich ein bisschen über ihren evolutionsbiologischen Ansatz zur Erklärung der Religion gebrühtet. Als Phyiker bin ich trainiert darin, abtrakte Konzepte in mathematische Modelle zu übersetzen und diese dann zu untersuchen. Bisher kenn ich wohl nur einen Ausschnitt aus ihrem Modell und deswegen fehlen mir wichtige Details um dieses mathematisch zu modellieren. Haben sie zufällig ihre Modell im Detail ausgearbeitet und können Sie mir Zugang zu diesem verschaffen?
@Peter
Danke für den Buchtip! Über Gödel habe ich bereits gelesen, aber dieses Buch sieht sehr spannend aus – ich werde es gerne lesen und mich danach mit der vorgeschlagenen Wissensunterscheidung befassen.
Zur Frage nach mathematischen Theoriebildungen: Obwohl ich gar nicht aus dieser Forschungsperspektive gestartet bin, gibt es in der Tat einige erste Ansätze, das Ganze in mathematischen Modellen zu modulieren.
So hat Robert Rowthorn auf Basis (auch) meiner Studien Modelle durchgerechnet:
http://rspb.royalsocietypublishing.org/…af04cefd
Eine ganze Reihe von uns (z.B. Ara Norenzayan) arbeiten mit spieltheoretischen Modellen, die die kooperativen Potentiale vom gemeinsamen Glauben an überempirische Akteure experimentell erkunden.
http://norenzayan.socialpsychology.org/…ications
In die gleiche Richtung und Argumentation ausdrücklich auch im Bezug auf Religionen (aber noch nicht mit direkter Zusammenarbeit auf die Evolutionsforschung zur Religion) argumentiert der Biomathetiker Martin Nowak, vgl.
http://www.scilogs.eu/…onary-studies-of-religion
Übrigens: An anderer Stelle hast Du ja im Hinblick auf die hohe Zahl von Atheisten und Skeptikern bereits angemerkt, dass die vorliegenden Befunde zu Religiosität, ihres adaptiven Potentials und ihrer Verteilung eigentlich mit einer Gauss-Kurve modelliert werden müssten.
Ohne von der mathematischen Perspektive her zu denken, bin ich vor einiger Zeit zu analogen Schlüssen gekommen, vgl.
http://www.blume-religionswissenschaft.de/…9.pdf
Ich kann mir also gut vorstellen, dass sich gerade auch aus mathematischer Perspektive da grundlegende Fragen klären lassen und hoffe, dass sich Gelegenheiten zum kritisch-konstruktiven Dialog ergeben.
Religion als Adaption
besten Dank für Deine Lesetipps. Leider verbirgt sich die für mich interessanteste Publikation (Rowthorn) hinter einer Paywall. Ich muss mal schaun, ob ich willens bin, das Geld auch auszugeben.
Unbeachtet der Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Wissens, möchte ich schonmal einen Kritikpunkt bzgl. Deines Modell äußern. In dem von Dir verlinkten pdf schreibst Du: “Warum also wurden nicht alle Vögel in der gleichen Weise optimiert? Die Antwort ist: Weil sich ihre Umwelt immer wieder verändert.” Übersetzt: die Glaubensintensität in der Bevölkerung ist deswegen gaussförmig, weil es immer wieder Umweltbedingungen gab, die glaubenskritische Strömungen bevorzugten. Des wegen brauchst Du eigentlich erfolgreiche säkulare Gesellschaften, damit Dein Modell überhaupt funktioniert. Nun zeigst Du ja, dass es solche nicht bekannt wären und damit argumentierst Du gegen Dich selbst. Du müsstest (alleine deswegen schon) zum Schluss kommen, dass Religion, definiert als der Glaube an unterempirischen Akteuren, nicht adaptiv ist.
Das wäre ein Problem und es gibt noch weitere, die ich gerne zur Diskussion stellen würde (Ich könnte Dir zB zeigen, dass Dein Modell, soweit ich das verstanden habe, vorhersagt, dass Glaubensverlust adaptiv ist, aber lassen wir das erstmal).
@Peter
In beiden Fällen kann ich wohl helfen.
🙂
Zur Gauss-Kurve: Hier geht es m.E. ja gerade nicht um getrennte Populationen, sondern um Vielfalt innerhalb einer Population! So wird z.B. auch ein Parlament dadurch flexibler, dass idealerweise nicht nur Vertreter einer Partei und Weltanschauung darin vertreten sind, sondern miteinander debattierende, ringende, koalierende Flügel.
Und entsprechend erklärt sich auch, warum eben “rein” säkulare Gemeinschaften ebenso wenig Bestand haben wie es religiöse Traditionen vermeiden können, sich in unterschiedliche (klassisch: säkularisierend-liberale, konservative, orthodoxe) Flügel aufzufalten. Auch z.B. die Old Order Amish können nur in einem gemischten Umfeld erblühen, als Mehrheits- oder gar Monopolkultur wäre mit ihnen buchstäblich kein Staat zu machen. Und: Ich halte Religion zwar für adaptiv, aber nicht für eine Adaption. Aber schau Dir die Rowthorn-Studie einfach mal in Ruhe an, ggf. setzen wir uns dann einfach mal auf ein Essen und einen Abend intensiver Diskussion zusammen, okay?
Beste Grüße!
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