Verdächtige Frauen, unsichtbare Väter – Von Lesesüchten und Soap-TV
BLOG: Natur des Glaubens
Der FOCUS fand für eine demografische Beobachtung und Hypothese mal wieder eine besonders knackige Überschrift: “Glotzen oder gebären – das ist hier die Frage”. Ausgangspunkt war ein Post des Stanforder Forschers Martin Lewis auf seinem Blog “Geocurrents”, in dem er auf empirische Hinweise verweist: Wo Fernseh-Soaps verfügbar werden, brechen die Geburtenraten ein. Der FOCUS schließt daraus:
Wenn Lewis nicht komplett falsch liegt, ist ein gewaltiges politisches Umdenken angesagt. Noch so viele Mittel können dann hierzulande in eine flächendeckende Kleinkindbetreuung oder in familienfreundliche Betriebe investiert werden; es wird nichts nutzen, solange die umworbenen Frauen weiterhin intensiv fernsehen. Und umgekehrt lassen sich sämtliche Aufklärungs- und Präventionskampagnen in den armen Ländern der südlichen Erdhalbkugel einsparen. Stellt den Menschen Fernsehgeräte in die Slums und Favelas, und schon sinkt die Geburtenrate wie von Zauberhand.
So einfach ist das also! Wirklich?
Zunächst einmal sei der Hinweis erlaubt, dass Befunde in diesem Bereich nicht wirklich völlig neu sind. Lesende von Natur des Glaubens konnten bereits bei einer Buchbesprechung von “Poor Economics” von Banerjee und Duflo 2011 lesen:
Das Fernsehen [wirkt] als Traummaschine und Statussymbol für die ganze Familie. Und übrigens auch [als] ein Weg, um mittels neuer Vorbilder Geburtenraten zu senken, wie Banerjee & Duflo an den Auswirkungen brasilianischer Telenovelas ebenso verdeutlichen.
Im Gegensatz zur FOCUS-Aufmachung betrachteten die empirischen Ökonomen aber nicht nur das Verhalten von Frauen.
Wer sich auf dieses Buch einlässt, sollte sich auf Schocks gefasst machen: So auf Familienväter, die kaum genug zu Essen auftreiben können, aber auf einem Fernseher mit Satellitenschüssel bestehen.
Vielleicht hat es sich noch nicht allgemein herumgesprochen: Auch Männer nutzen Medien gerne – und verändern ihre Weltbilder, Selbstwahrnehmungen und ihr Verhalten dadurch. Der FOCUS-Artikel hätte also auch getitelt werden können z.B. mit:
Zappen oder zeugen – warum ist das nicht auch die Frage?
Was hier aber leider wieder durchschlug, war die Perspektive, Kinder ausschließlich als “Frauensache” zu thematisieren – und damit auch das Medienverhalten (nur) von Frauen zu problematisieren.
Neu ist das ganz und gar nicht: Im sciebook über “Die Psyche und Fantasie des Menschen” hatte ich die Debatte um die “weibliche Lesesucht” thematisiert, die im 18. Jahrhundert in Europa geführt wurde.
Lesende Frauen, so hieß es damals aufgeregt, drohten von ihren “eigentlichen Aufgaben” abgehalten zu werden, zu “verweichlichen” und “zu hohe Erwartungen an ihren zukünftigen Gemahl” zu entwickeln. Im bald bekannten, lustvoll skandalisierten Gemälde “La Lecture” (Die Lektüre) von Pierre-Antoine Baudouin um 1760 wird eine Leserin entsprechend nicht nur verträumt in einem kinderlosen und unaufgeräumten Zimmer dargestellt – der über die Brüste gelockerte Mieder und die unter den Rock geschobene Hand deuten auch sexuelle Selbstbefriedigung an. So durfte sich das geneigte Publikum zugleich erregen und empören: Nehmt den Frauen die Bücher (heute eben: die Fernseher) weg!
Gemälde: “La Lecture”, P.-A. Baudouin, um 1760. Bild: wikimedia
Unsichtbare Väter – wo bleibt der #aufschrei?
Ich möchte klarstellen: Die These, dass Medienkonsum unser – auch soziales, sexuelles und reproduktives – Verhalten zutiefst verändern, teile ich ausdrücklich. Auch bin ich der Meinung, dass diese komplexen Auswirkungen dringend besser erforscht und diskutiert werden sollten (vgl. “Wir Wildbeuter im Web 2.0 – Die soziale Macht des Internet”). Nur werden wir dabei kaum weiter kommen, solange das Thema nur als “Frauensache” abgehandelt wird und nicht z.B. gesehen wird, dass Männer heute durchschnittlich (noch) weniger Kinder als Frauen wünschen und viele Frauen als Begründung für Kinderlosigkeit das Fehlen eines “geeigneten Partners” angeben.
Parallel zu den Daily Soaps werden ja auch “Männerfilme” sichtbar, in denen eben auch fast nie verläßlich-engagierte Familienväter gefeiert werden. Selbst noch in Filmserien wie “Die Hard” darf Bruce Willis dagegen sein wiederholtes Versagen als Ehemann und Vater dadurch “kompensieren”, dass er halt immer wieder Horden von Terroristen massakriert und damit seine Familie beeindruckt. Nun ja…
Eine Fixierung von Demografie- auf Frauenfragen verstärkt sexistische Vorurteile – und entwertet auch Männer und insbesondere Väter. Auf uns kommt es ja angeblich gar nicht an.
Und so konnte in diesen Tagen der Hamburger Ethnopharmakologe Dr. Christian Rätsch, 56, im SPIEGEL auch verkünden: “Man ist entweder Forscher oder Vater.”
Der SPIEGEL fragte nicht einmal nach. Dagegen hätte es sicher einen #aufschrei gegeben, wenn Rätsch die gleiche Aussage über Mütter gemacht hätte…
Zitat:
“Auch bin ich der Meinung, dass diese komplexen Auswirkungen dringend besser erforscht und diskutiert werden sollten…”
-> Ja, “besser” forschen ist eben besser. Anstatt man sich natürlich zu gerne mit ein paar statistischen Daten zufrieden gibt und … schnellschüsse konstruiert, die wieder nur naive Urteile enttarnen.
Meine starke These:
Das Fernsehen (wie andere Medien auch) ist Ersatzbefriedigung in Form von Ausrichtung seiner Liebe auf ein Ideal, dass dadurch erfüllt wird, dass unrealistisch idealisierte Szenarien gesehen werden, weshalb es im eigenen Leben und dem Partner dann nicht mehr zufriedenstellend sei (betreffend fehlende “passende” Partner)…
Das “ablenkende” an der Unterhaltung per Fernseher ist die Versuchung einer idealen Scheinrealität, die eigene Realität herabwürdigt und “alt” aussehen lässt.
In einer Kontrastsituation ist man mit relativer Sicherheit ohne Fernseher glücklicher, als (kurz) vorher mit.
Freilich davon ausgegangen, man kann eine Bindung zu seinem realen Umfeld aufbauen.
Neulich alberte ich herum, indem ich Angelina Julie als “Mutter der (am Ödipussyndrom leidenden) Nation” bezeichnete. Das geht so allgemein mit allen (A+)Promis zu deuten. Allerdings ich dazu noch eine organische Bedingung unterstelle und dem weniger ideologische Vision im Sinne von einfacher geistiger Verwirrung anmaße.
Die Rolle der Väter
Hier wurde ein interessantes Thema angesprochen. Die Leserin auf dem Gemälde von Baudouin, die sich “in einem kinderlosen und unaufgeräumten Zimmer” der Lektüre eines Buches hingibt, ist jedoch nicht repräsentativ. Auf dem Bild ist nämlich ein sogenanntes Boudoir (heute sagt man dazu Ankleidezimmer) zu sehen, in das sich die Dame des Hauses zurückziehen konnte. Ein Boudoir gab es nur in Schlössern oder in den Häusern der Oberschicht.
Allerdings scheinen manche Frauen in der Tat ein Faible für Schmachtschinken zu haben. Der Standard brachte kürzlich einen Artikel über Cybersexsucht, darin steht zwar, dass die Süchtigen fast ausschließlich männlich seien. Die wenigen betroffenen Frauen legen jedoch weniger Wert auf Bilder und lassen sich eher durch Geschichten anregen und die findet man ja auch in Büchern.
http://derstandard.at/…ll-keiner-stecken-bleiben
Es stimmt auch, dass Kinder immer noch als reine Frauensache angesehen werden. Die Rolle des Vaters tritt in den Hintergrund. Obwohl viele Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen möchten gelingt dies kaum, da die gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsbedingungen dafür keinen Raum lassen. Bereits 1963 veröffentlichte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich seine Studie über den “Weg zur vaterlosen Gesellschaft”. Seitdem scheint sich nicht viel geändert zu haben, weil die Studie immer noch kommentiert wird. Hier ein Beispiel:
http://www.dradio.de/…tischesfeuilleton/1635586/
Neuere Forschungen zur Rolle der Väter sind zudem Mangelware. Offensichtlich haben es die Männer schwer sich in eine neue Rolle einzufinden, denn in 4 von 10 US-Haushalten sind Mütter bereits die Hauptverdiener.
http://derstandard.at/…-Prozent-der-US-Haushalte
Für Deutschland gibt es keine entsprechenden Zahlen, aber nachdem man hier die Hausfrauenehe weitestgehend abschaffte sind die Frauen gezwungen nach der Geburt eines Kindes so schnell als möglich wieder zu arbeiten (Ziel des Elterngeldes). Die Kinder werden nicht gefragt, ob sie von fremden Leuten großgezogen werden möchten. Die staatliche Planung geht vielerorts an der Lebensrealität vorbei, vor allem wenn manche Mütter fast den ganzen Verdienst für die Betreuung ihrer Kinder ausgeben müssen – bloß um sich eine eigene Altersversorgung zu sichern (Die Witwenrente wurde stark zusammengekürzt. Manche Politiker scheinen da noch die sozialistische Planwirtschaft im Kopf zu haben. Dabei wird vergessen, dass das Kindergartennetz in der ehemaligen DDR kostenlos war. Bei uns aber sind Betreuungsplätze knapp und teuer. Im Jahre 2003 führte das Institut für Demoskopie eine Umfrage durch, um “Einflussfaktoren auf die Geburtenrate” herauszufinden. Als Grund sich gegen Kinder zu entscheiden wurde an erster Stelle die große finanzielle Belastung genannt. Dazu kommt noch die Unsicherheit am Arbeitsmarkt. Also flüchten sich die Leute in ein “Second Life” um hier ihre Träume aufzuleben, die sich im “Real Life” nicht verwirklichen lassen.
Zunächst mal…
… fast völlig unabhängig von Geschlechterfragen würde mir was anderes am Focus aufstoßen:
Heißt doch: wären die Leute nicht so unaufgeklärt, würden sie nicht so viele Kinder machen und wären dann nicht so arm. TV-Konsum würde den Kinderreichtum und damit die Armut bekämpfen.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Leute in den Slums und Favelas setzen viele Kinder in die Welt, weil ihnen zu viele wegsterben und sie diese doch brauchen – als Mitverdiener (auf den Plantagen und in den Fabriken für die reichen Länder), zum Verkaufen als Schuldsklaven usw. und zur eigenen Altersvorsorge.
Bei uns haben Bismarcks Reformen sich als Gegenmittel erwiesen. Dass man solche Mechanismen vergessen und unterschlagen kann, das zeugt von einer entsetzlichen Entpolitisierung. Und das nennt man im Focus “gewaltiges politisches Umdenken“: Wie macht man Politik mit Entpolitisierten?
Nun ja, bei uns müsste man in unerwünschten bevölkerungspolitischen Trends vielleicht auch das Zweckrationale erkennen:
Hierzulande sind die anderswo möglichen, angestrebten Verwendungszwecke von Kindern ziemlich eingeschränkt. Deshalb bedeuten Kinder Angst vor finanziellen Verlusten.
@Mona hat da auf einige Zusammenhänge hingewiesen. Danke!
Dass in solchen Familien entsprechender TV-Konsum (möglichst entpolitisiert, aufregende „Action“… ) um sich greift, muss einen auch nicht wundern: eine neue, frei Haus gelieferte Variante von Volksbetäubung, Opium des Volkes…
@Hermann Aichele
Sie schreiben: “Die Leute in den Slums und Favelas setzen viele Kinder in die Welt, weil ihnen zu viele wegsterben und sie diese doch brauchen – als Mitverdiener (auf den Plantagen und in den Fabriken für die reichen Länder), zum Verkaufen als Schuldsklaven usw. und zur eigenen Altersvorsorge.”
Das stimmt zwar auch, aber das Hauptproblem ist der Machismo, darin sind sich sämtliche Hilfsorganisationen einig. Hier nur ein paar Beispiele, die Liste ließe sich endlos fortsetzen:
http://www.adveniat.de/…ten/wider-die-armut.html
http://ofmbolivien.blogspot.de/…lich-einmal.html
http://blog.blogs.plan-deutschland.de/…en-insel/
http://www.medicalmissionnetwork.net/…rtinez-lc/
Der Machismo ist typisch für die “Kultur der Armut” in der dritten Welt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Kultur_der_Armut
Insofern ist es wichtig, dass auch die Mädchen zur Schule gehen und einen Beruf erlernen. Ansonsten sind sie einem übersteigerten Männlichkeitskult ausgeliefert, der sich nur über Potenz definiert und diese findet nun mal in möglichst vielen Kindern ihren Ausdruck.
@demolog
Ich denke, da ist einiges dran! Wir essen ja auch z.B. inzwischen (durchschnittlich) viel zu viel Industriezucker, weil wir evolutionär darauf abfahren. Ebenso verlieren wir uns in den bunten Welten schöner Körper, schöner Güter und spannender Geschichten – und merken kaum, dass sie uns teilweise aus dem echten Leben ziehen.
Die Menschheit hat Glück im Unglück
Heute gibt es mehr Lebensplanung/-erwartung und oft orientiert sie sich an überhöhten Idealen. Idealen, die man früher in der Literatur, heute in Film, TV und bei IT-Girls und -Boys findet. Wo es mehr Erwartungen ans Leben und mehr Lebensplanung gibt, gibt es automatisch weniger Kinder. Man kann sogar behaupten, bis vor kurzem wurden viele oder sogar die meisten Kinder ungeplant in die Welt gesetzt und die Eltern haben sich dann mit dem “Geschenk” abgefunden und ihr Leben zwangsläufig darauf eingestellt. Dass (Zitat)“Männer heute durchschnittlich (noch) weniger Kinder als Frauen wünschen” unterscheidet die heutigen von den “gestrigen” Männern in keiner Weise. Nur dass heute viel mehr Menschen ein Leben ohne (mehrere) Kinder planen während sich Kinder früher einfach ergaben.
Für die Menschheit als Ganzes ist das ein unverhoffter Glücksfall. Denn dass es insgesamt auf der Erde zuviele Menschen gibt wird jedem klar, der sich die Kluft zwischen den vielen Armen und den den erst wenigen wohlhabenden Erdenbürgern klarmacht. Diese Kluft wird sich schliessen – und wegen der abnehmenden Kinderzahl sogar schneller als erwartet. Doch 7 oder mehr Milliarden wohlhabende Menschen auf einem relativ dazu zu kleinen Planeten sind eine ungeheure Herausforderung.
Bei den saturierten Wohlstandsbürgern des Westens ist die Lebensplanung ohne Kinder allerdings inzwischen zu weit gegangen und stellt sogar die Zukunft ihrer Gesellschaft in Frage. Doch es kann gut sein, dass die nächste Generation wieder ganz andere Lebensziele hat und zu diesen auch Kinder gehören.
@ Blume
Zitat:
“…und merken kaum, dass sie uns teilweise aus dem echten Leben ziehen.”
-> Was ist das “echte” Leben? Ich als Handwerker habe da auch eine recht materialistische Perspektive (gehabt). Das “echte” Leben als Version vom “Hier und Jetzt” in Gänze “in” der Gegenwart und im Bewusstsein auf die Dinge konzentriert, die über unsere 5 Standartsinne erfassbar sind und sich redundant über sie beweisen lassen (ich kann es sehen, ich kann es hören und bei Kontakt sensorisch fühlen).
Jeder, der einen Nagel mit dem Hammer in die Wand schlagen will, kann gar nicht umhin, diese kriterien zu erfüllen. (Wie oft habe ich mir mit dem Hammer auf die Finger gehauen, weil ich dem nicht hinreichend genug nachgekommen bin)
Aber das ist leider nicht das ganze Leben – nicht alles, was ein Leben ausmachen kann. Weswegen eben auch der Starkult überhaupt möglich ist.
Und solcherart Vision vom Leben (das “wahre” Leben) schliesst Spiritualität kategorisch aus, weil jene eben nicht auf diese Standartsinne allein oder gar überhaupt nicht angewiesen ist.
Und ein Starkult hat einiges mit Spiritualität zu tun. Eine andere Vision sei diesbezüglich der Ödipuskomplex, weil vergleichbar mit der Beziehung zur Mutter/Vater ein in einer Art Liebe bestehendes Aufschauen, Hinschauen, Anschauen geschieht… wobei das spirituelle dabei nicht durch das reine “Anschauen” entsteht, sondern in der Vorstellung … in der Visualisierung innerhalb des Bewusstseins entsteht.
Man kann leicht auf die Idee kommen, es handle sich bei spirituellen Praktiken/Phänomenen um eine “Erste-Person-Krankheit” weil es so “aussieht”, als ob die Visualisierungen keinerlei Bezug zum “echten” Leben haben. Es scheint auch ein unausgesprochenes verbot zu bestehen, wenn man sich etwa die 99+1 Diagnoseschlüssel der ICD-10 “reinzieht” – deren übergreifende Zielsetzung jeder Therapie im Kern die “Ansprechbarkeit” ist, was bedeutet, dass hier genau das Gegenteil jeder spirituellen Praxis angestrebt ist (Kommunikation vs. Interaktion).