TED-Talk: Jonathan Haidt zur Evolution der Religion und Spiritualität aka Selbst-Transzendenz

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens
Vor einiger Zeit hatte ich in einem Blogpost einmal moniert, dass psychologische Religionstheorien oft zu individualistisch angelegt und empirisch verkürzt seien. Ich hatte damals dafür plädiert, den Dialog interdisziplinär und auf Basis der Evolutionsforschung voran zu treiben.
Nun, genau das ist – insbesondere in den USA – geschehen. Erst vor wenigen Tagen hatte ich den Evolutionsbiologen David Sloan Wilson zum Thema interviewt. Und währenddessen berief sich auch der Psychologe Jonathan Haidt in seinem TED-Talk “Religion, evolution, and the ecstasy of self-transcendence” eben nicht mehr nur auf den (Religions-)Psychologen William James, sondern ordnete die von ihm beschriebenen “religiösen Erfahrungen” in die Evolutionstheorie von Charles Darwin, die Religionssoziologie von Emile Durkheim und die Evolutionsbiologie von E.O. Wilson ein. Dass er dabei Religiosität (als Hinwendung zu überempirischen Akteuren) und Spiritualität (als Selbsttranszendenz) mehr oder weniger in einen Topf rührt will ich jetzt mal nicht bekritteln. Dafür ist es grafisch gut gemacht. Schon einen Tag nach Erscheinen wies das Video auf YouTube über 20.000 Zugriffe und eine (für YouTube-User überraschend hohe) Zustimmungsrate auf.
Aber machen Sie sich doch einfach selbst ein Bild:

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

7 Kommentare

  1. Sinn von Religionen

    Die ersten 6:00 Minuten waren zustimmungsfähig, natürlich hat Religion – Extrembeispiel: Kriege – Bündelungscharakter.

    Zudem hat man es mit dem individuellen Wissen um das letztliche Unwissen zu tun, das Metatheorien, auch der Metaphysik, die Tür öffnet. Wobei hier in der Regel Humor entsteht, den konkurrierende Religionen demzufolge gerne ausschließen. Zumindest wenn sie streng und gefährlich sind.

    Witzig auch die Religiösitäts- und die Spiritualitätsquote der Lauscher.

    MFG
    Dr. Webbaer (der Meta-Überlegungen und Spiritualität ansonsten gerne von den Religionen, die ja doch sehr standardisiert sind, trennt – Philosophie soll gar nicht so schlecht sein und hier sinnvoll ergänzen können)

  2. Self Transcendence

    Der Beitrag ist interessant, aber arbeitet nicht genug heraus, dass Self-Transcendence heute immer mehr zu einem individuellen Weg wird, bei dem man sich eben nicht in einer Gruppe auflösen will. Das bezeugt auch das Votum der Zuhörer, eher spirituell als religiös zu sein. Self Transcendence ist eben überhaupt nicht zwingend an Gruppenerhalt oder Gruppenstärkung gebunden, war es vielleicht auch in der Steinzeit nicht. Es drückt eher das Staunen darüber aus, Teil eines grösseren, rational nicht durchschaubaren Ganzen zu sein, das interessanterweise eher Glücks- als Angstgefühle erzeugt. Tanz und Musik beinhalten ja auch solche Gefühle, auch Sex. Vielleicht entsteht das Glücksgefühl dadurch, dass das “Self” oder “Ich” sonst oft als Druck, Gefängnis, Zwang, Panzer, Zurichtung erlebt wird und der Mensch gerne mal wieder “fliegen” oder “schwimmen” will. Getragen von einem höheren Ganzen, dem man interessanterweise vertraut, dass es einen hält. Wie es der Drachenflieger oder Schwimmer auch tut. Freud nannte dies deshalb das “ozeanische Gefühl”, hatte aber auch ein bisschen Angst davor. Darwinisten müssen aufpassen, dass sie dieses Stück Freiheit und Undeterminiertheit nicht auch sofort wieder funktionalisieren, rationalisieren, einzwängen in ihre Kategorien – womit sie seine Schönheit, seinen Glanz und seinen Zauber gerade zerstören.

  3. @Webbaer & Rüdiger

    Die Probleme ergeben sich m.E. vor allem aus der begrifflichen Vermischung von Religiosität (personale Verehrung & gemeinschaftsbildend) und Spiritualität (auch apersonal und auch individualisierend möglich). Schon in Einführungsvorträgen differenziere ich das, aber als ‘Paket’ verkauft es sich halt viel interessanter.

  4. Religiosität und Gesundheit

    Es soll Studien geben die zeigen, dass religiöse Menschen meist gesünder sind und länger leben als nicht-religöse Menschen. Hast Du da Quellen? Ob das ein Epiphänomen ist oder wirklich auf die Religiosität zurückzuführen ist natürlich die andere Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass religiöse Menschen mehr Zuwendung und Pflege von ihrer religiösen Gemeinschaft im Krankheitsfall erfahren, weil es Werte sind die von dieser Gemeinschaft hochgeschätzt werden.

  5. Religiosität vs. Lebenserwartung

    Steigert Religosität die Lebenserwartung?

    http://www.welt.de/…aesst-Glauben-schwinden.html

    und

    http://www.aerztezeitung.de/…-se-gluecklich.html

    lässt eher vermuten, dass mit steigender Lebenerwartung die Relgiosität fällt.

    Auch dürfte der Anteil “Ungläubiger” in Industriestaaten höher sein, als in der 3. Welt z.B. – und hat offensichtlich keinen messbaren negativen Effekt auf die deutlich höhere Lebenserwartung in den Industrienationen.

  6. @Joe & einer

    Lieber Joe,

    ja, die entsprechenden Forschungen beginnen ja inzwischen ganze Bibliotheken zu füllen. So gibt das Institute for the Biocultural Study of Religion (IBCSR) inzwischen eine vierteljährliche Übersicht über Religion-Gesundheits-Studien heraus, siehe hier:
    http://www.ibcsr.org/…og&id=55&Itemid=86

    @einer

    Das widerspricht sich doch gerade nicht, sondern ergänzt sich: Wo Funktionen religiöser Vergemeinschaftungen auch durch andere Anbieter (Sozialstaat, sälulare Medizin etc.) abgedeckt werden sinkt die durchschnittliche Nachfrage (und die Geburtenraten gleich mit…). Schon immer war Religion stärker eine Angelegenheit der “Mühseligen und Beladenen” – und auch heutige, empirische Befunde belegen klar, dass “Not beten lehrt”. Wohlstand und Sicherheit begünstigen dagegen Individualisierung samt Folgen. Hier ein Artikel mit einer ganzen Reihe an Daten, Grafiken und Infos dazu:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…e.pdf

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