Tag der Weißen Rose in Crailsheim – Gedenkrede für den ermordeten Hans Scholl

Der mit anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe “Weiße Rose” 1943 von Nationalsozialisten hingerichtete, deutsche Soldat Hans Scholl war am 22.09.1918 in Ingersheim an der Jagst geboren worden, das heute einen Ortsteil von Crailsheim bildet. Deswegen richtet ein engagierter Arbeitskreis “Weiße Rose” seit 2000 jährlich einen Erinnerungstag aus. Die Einladung, nach den langen Covid19-Einschränkungen zum 104. Geburtstag des mutigen Widerstandskämpfers zu sprechen, empfand ich als Ehre. Gleichzeitig wollte ich ernst nehmen, dass der Arbeitskreis eine aktuelle Rede zu Antisemitismus, Verschwörungsmythen und wehrhafter Demokratie wünschte – und sich über den Podcast “Verschwörungsfragen” mit der Frage befasst hatte, warum sich sogenannte Querdenker mit NS-Opfern gleichgesetzt hatten.

Stärke zum Zweifel nicht Schwäche zum Verschwörungsglauben: Hans Scholl (1918 – 1943). Grafik: Team Beauftragter der Landesregierung BW gegen Antisemitismus 2022

Hier finden Sie mein Redeskript zum Thema “Wehrhaft gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus – Wie wir unsere Demokratie schützen können” auch als pdf – und im Folgenden als Blogtext:

Sehr geehrte Frau Rügner vom AK „Weiße Rose“,

sehr geehrter Herr Bürgermeister Steuler,

sehr geehrte Frau Seibold, sehr geehrter Herr Förtsch,

lieber Kollege Timo Büchner,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen für die große Ehre, heute am „Crailsheimer Tag der Weißen Rose“ zu Ihnen sprechen zu dürfen. Bewusst begehen Sie seit vielen Jahren mit haupt- und besonders auch ehrenamtlichem Engagement nicht den Hinrichtungs- und Todestag, sondern den Geburtstag von Hans Scholl. Sie wollen mit ihm und für ihn das Leben, die Bildung und die Freiheit feiern – und nicht jenen das letzte Wort überlassen, die ihn, seine Schwester Sofie, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Prof. Kurt Huber und unzählige weitere ermordeten.

Als Familienvater und Ehemann in einer interreligiösen Ehe berührt mich beispielsweise auch das Schicksal der Crailsheimer Jenny und Eugen Grimminger; sie Jüdin, er Christ. Weil Eugen aufgrund seiner mutigen Unterstützung der „Weißen Rose“ inhaftiert worden war, verlor seine Frau ihren letzten rechtlichen Schutz und wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Eugen überlebte in Haft einen Suizidversuch – und engagierte sich nach dem Krieg auch im Tierschutz und in der Zoonoseforschung, warnte vor dem Auftreten von immer mehr Krankheitserregern, die auf den Menschen überspringen. Heute erinnert eine Schule an ihn; und daran, dass auch wir Heutigen uns schwer tun, rechtzeitig auf die berechtigten Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu hören.

Der Philosoph Hans Blumenberg, der aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Mutter nur knapp den NS-Morden entging, hat einmal [in „Arbeit am Mythos“] den mächtigen Satz formuliert: „Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen.“

Wenn das stimmt – und ich glaube, dass es stimmt – dann brauchen wir alle als Menschen also wirk-lich Namen, an denen wir uns orientieren, über die wir Vertrauen zur Welt und zueinander aufbauen können. Dann ist die Erinnerung an die Mitglieder der „Weißen Rose“ wie Hans Scholl nicht lästig, nicht ewiggestrig, kein sogenannter „Schuldkult“ – sondern wertvoll, wichtig, ja – für unsere Zukunft unverzichtbar.

Mehr noch: Dann nehmen Sie als Erinnernde eine Verantwortung einerseits für die Bewahrung der guten Namen wahr – und andererseits auch für die Geschichten, die zu den Namen erzählt werden.

Und dann spüren wir den Unterschied zwischen einem Vergleich und einer Gleichsetzung. Ja, es ist gut, wenn wir Menschen heute unser Leben mit dem der „Weißen Reise“ vergleichen. Wir sollen dabei Gemeinsamkeiten – wie die Freude am Lesen – und Unterschiede – wie das Leben je in einer Diktatur und einer Demokratie – erfassen.

Es ist jedoch falsch und gefährlich, wenn sich zum Beispiel eine Studentin auf einer angemeldeten und von der Polizei geschützten Demonstration allen Ernstes mit Sophie Scholl gleichsetzt; und damit die Demokratie mit einer Diktatur auf eine Stufe stellt.

Die Problematik der Gleichsetzung gilt übrigens auch für Namen von Autoritärer: Es ist klug und richtig, dass Verhalten von Nationalisten wie Wladimir Putin, Viktor Orban oder Donald Trump mit den Strategien historischer Faschisten zu vergleichen. Aber eine Gleichsetzung etwa mit Adolf Hitler verbietet sich auch hier und verbaut das Verständnis beispielsweise für die heutige Rolle digitaler Medien für das Verbreiten von Verschwörungsmythen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Deswegen ist das Gleichsetzen plump, das differenzierte Vergleichen aber klug.

Die historischen Faschisten nutzten die damals neuen, elektronischen Medien wie Radio und Film, um demokratische Persönlichkeiten, Roma und Sinti und vor allem Jüdinnen und Juden zu diffamieren, auszustoßen, der Vertreibung und Vernichtung preiszugeben. Widerständler wie die „Weiße Rose“ setzten dagegen auf das reflektierte Lesen und das dialogische Gespräch. Auch heutige Verschwörungsgläubigen versuchen in digitalen Medien wie Facebook und WhatsApp, Telegram und Twitter Hass zu verbreiten. Und wieder muss auch unsere Antwort multimedial sein.

Erst vor wenigen Tagen wurde auch hier in Crailsheim eine Bundesvorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, von Verschwörungsgläubigen aufs Übelste diffamiert und mit höhnischen, hasserfüllten Rufen und Pfeifen überschüttet.

Frau Lang stammt aus der gleichen Filder-Stadt wie ich, wir gehören unterschiedlichen, demokratischen Parteien an und haben zu manchen politischen Punkten eine unterschiedliche Meinung. Und, wissen Sie was? Ich finde das gut. Ich finde sogar, das muss in einer Demokratie so sein – erst Vielfalt ermöglicht die Freiheit der Diskurse und Wahlen!

Meine Eltern sind in der ehemaligen DDR noch unter dem Regime einer „Einheitspartei“ und einer „Nationalen Front“ aufgewachsen, die Vielfalt und Zweifel eben nicht zuließ. Der Name „Deutsche Demokratische Republik“ missbrauchte die Bezeichnung „demokratisch“, um Vertrauen zu erschleichen und Propaganda-Geschichten zu erzählen. Ich möchte in einem Land leben, in dem die Vielfalt der Religionen, Weltanschauungen und auch demokratischen Parteien nicht als Problem, sondern als Chance begriffen wird. Ich würde mir mehr Menschen in demokratischen Parteien – in allen demokratischen Parteien – wünschen. Aufgeklärte Demokratinnen und Demokraten sind zueinander keine Feinde, sondern miteinander Suchende auf dem Weg zu nie perfekten, aber immer besseren Antworten.

Eine der klarsten Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur zeigt sich im Umgang mit Meinungsfreiheit: Dürfen auch Gegner – auch zum Beispiel sogenannte Querdenker – sprechen, demonstrieren und Flugblätter verteilen?

Ja, sie dürfen es – und schon deswegen ist jede heutige Gleichsetzung mit Hans und Sophie Scholl eine fürchterliche Anmaßung.

So trete auch ich für eine Gesellschaft ein, in der sich auch weiterhin sogenannte „Querdenker“ versammeln und demonstrieren dürfen, in der aber auch eine Demokratin wie Ricarda Lang ungestört sprechen darf.

Denjenigen, die für sich selbst das demokratische Recht auf Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen, um aber wiederum Demokratinnen und Demokraten voller Hass zum Schweigen zu bringen, nehme ich den Einsatz für Meinungsfreiheit nicht ab.

Und der digitale Hass betrifft, meine sehr geehrten Damen und Herren, auch die heutige Veranstaltung, die ebenfalls auf einschlägigen Telegram-Kanälen „angekündigt“ wurde. Auch zu meinem Leben und dem Leben meiner Frau und Kinder gehören inzwischen Sicherheitsmaßnahmen, die es früher nicht gebraucht hätte. Ich mache dies öffentlich, weil ich mich nicht daran gewöhnen möchte – ebenso wenig wie daran, dass unsere Synagogen wieder Brand- und Polizeischutz benötigen.

Ein demokratisch reflektierter Monismus, der Wissenschaft und Vielfalt anerkennt einerseits und ein feind-seliger Dualismus andererseits, der Andersdenkende und Andersglaubende mit Verschwörungsmythen attackiert, unterscheiden sich grundlegend. Zwischen ihnen steht der oft mehrheitsfähige Relativismus, den schon die „Weiße Rose“ in ihrem 4. Flugblatt verurteilte als „den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt“ habt. Demokratische Monist:innen dürfen sich also niemals sicher sein, eine stabile Mehrheit gewonnen zu haben; normalerweise bilden sie eine Minderheit. Und wann immer sich die Gleichgültigkeit des Relativismus durchsetzt, kehrt der dualistische Hass brüllend und triumphierend in die Gesellschaft zurück.

Und viele, sehr viele Menschen sind auch heute noch gegenüber Demokratie und Freiheit gleichgültig, gegenüber Extremismus feige und damit eine leichte Beute für diejenigen, die auf Krisen geradezu hoffen, um ihre Verschwörungsmythen verbreiten zu können.

Deswegen mein Dank an Sie! Sie tun sich freiwillig die Rede eines Landes-Beauftragten gegen Antisemitismus an, was darauf hindeutet, dass Sie bereit sind, sich unangenehmen Themen zu stellen und Ihnen die Gesellschaft und das Miteinander „nicht“ gleichgültig sind!

Wie wir unsere Demokratie schützen können

Deswegen habe ich wie erbeten drei Vorschläge, wie wir Demokratien gegenüber Verschwörungsmythen und Antisemitismus „wehrhafter“ machen.

Erstens kämpfe ich gemeinsam mit dem Würzburger Rechtsanwalt Chan-jo Jun darum, dass wir uns nicht daran gewöhnen, dass sogenannte „soziale Medien“ mit Geschäftsmodellen von Hass und Hetze funktionieren. Schon viel zu viele Menschen wurden Opfer digitaler Gewalt – bis hin zu Terror-Morden wie in Halle, Hanau und Idar-Oberstein, zu durch Facebook befeuerten Vertreibungen wie in Myanmar und zu Suiziden wie bei Dr. Lisa-Maria Kellermayr (1985 – 2022). Das Internet ist voller Chancen, doch ich habe seine Schattenseiten im Irak selbst erlebt: Die Terrormiliz des selbsternannten, auch antisemitischen „Islamischen Staates“ funktionierte wesentlich als „digitales Kalifat“.

Chan-jo Jun und ich gehen derzeit gegen Twitter vor, weil wir eine Zukunft wollen, in der die Menschenwürde auch digital genauso gut geschützt wird wie das Urheberrecht. Wir machen uns keine Illusionen: Hass, Sexismus, Rassismus und Antisemitismus werden auch dann nicht völlig verschwinden, wenn endlich auch Internetkonzerne dagegen vorgehen müssen. Aber es werden sich weniger Hater und Trolle radikalisieren und der demokratische Diskurs wird sich endlich wieder ent-rohen und versachlichen können.

Zum zweiten gab und gebe ich den dringenden Rat, bei dualistischen und antisemitischen Bewegungen nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die Geldströme zu schauen: „Follow the Money!“. Ich kenne kein einziges Beispiel einer antisemitischen Verschwörungssekte der Vergangenheit oder Gegenwart, in der nicht auch die eigene Anhängerschaft abgezockt und betrogen worden ist. So konnte der deutsch-amerikanische Nationalsozialist Fritz Julius Kuhn (1896 – 1951) noch 1939 im Madison Square Garden New York über 20.000 lautstarke NS-Anhänger mit Berufung auf die Meinungsfreiheit versammeln, antisemitische Verschwörungsmythen verbreiten und Stimmung für Adolf Hitler machen. Roosevelts sozialpolitischen „New Deal“ verhöhnte er dabei als „Jew Deal“.

Doch Kuhns selbsternannte „Führer“-Karriere endete, als ihm die Staatsanwaltschaft nachweisen konnte, dass er Gelder seiner eigenen Anhänger veruntreut hatte. Er wurde eingesperrt, verurteilt, ausgebürgert und nach Ende des Krieges nach Deutschland ausgewiesen. Wenn wir die Geschäftsmodelle der Verschwörungsunter-nehmer knacken, wehren wir der Gefahr von Verschwörungsmythen insgesamt.

Auch heute möchte ich die Anhängerinnen und Anhänger von Querdenken, QAnon und des sogenannten Corona-Ausschusses aufrufen, anhand von Medien, Justiz und gerne auch eigenen Recherchen kritisch zu prüfen, was mit ihren Spendengeldern geschehen ist.

Als Religions- und Politikwissenschaftler kann ich Ihnen die schmerzhafte Einsicht nicht ersparen: Die Menschen, die Ihnen Verschwörungsmythen auftischen, wollen meistens nicht Ihr Bestes, sondern immer wieder nur Ihr Geld! Und umso mehr davon Sie diesen Leuten für wolkige Versprechen, für esoterische Produkte und Finanzanlagen ausgehändigt haben, umso schmerzhafter wird es, die eigenen Irrtümer doch noch einzusehen. Auch Xavier Naidoo hat ja erklärt, sich vom Antisemitismus abwenden zu wollen. Ich will ihm das glauben, will ihn ermutigen, gerade weil ich weiß: Dieser Weg wird kein leichter sein!

Überprüfen des eigenen Menschenbildes

Aber auch diejenigen von uns, die keinem Verschwörungsglauben anhängen, müssen sich – drittens – schmerzhaft fragen: Wer von uns hat wissenschaftliche Erkenntnisse über die digitale Radikalisierung, über die Klimakrise, den Ressourcenfluch und unsere Abhängigkeit von autoritären Erdöl- und Erdgas-Rentierstaaten nicht allzu bequem ignoriert? Wieso haben wir den Aufbau Erneuerbarer Energien nur so zögerlich vorangetrieben und damit auch antisemitische Regime wie Russland, den Iran, Aserbaidschan und Katar finanziert?

Auch wir sind lange nicht so rational und aufgeklärt, wie wir uns das gerne selbst einreden. In der Volkswirtschaft der Universität Tübingen musste ich noch das unwissenschaftliche, esoterische und zum Dualismus neigende Menschenbild vom „Homo oeconomicus“ lernen und „Wandel durch Handel“ war oft nur eine bequeme Ausrede, um einträgliche Geschäfte mit Tyrannen und Antisemiten zu machen. Und ich habe lange genug in einer Bank gearbeitet, um festzustellen: Den so auf Kosten unserer menschlichen und nichtmenschlichen Mitwelt erzeugten Profit haben wir dann auch noch ungerecht verteilt!

Und wie viele Menschen haben in Russland den mörderischen Verschwörungsmythos von der angeblichen „Entnazifizierung“ der Ukraine begrüßt, bis es nun auch sie selbst und ihre eigenen Söhne betrifft? Wie viele Menschen plädieren auch in Deutschland noch und wieder für die feige Unterwerfung unter eine antisemitische Diktatur? Wie viele wollen nicht mehr wahrhaben, dass auch die Nationalsozialisten am Ende nicht durch Feigheit und Relativismus, sondern durch tapfere Armeen und auch ukrainische Soldaten bezwungen wurden?

Vertrauen in Hans Scholl – warum?

Ich möchte Ihnen begründen, warum mein Vertrauen in den Namen von Hans Scholl heute größer ist als in den von manchen Intellektuellen oder auch eines Professor Sucharit Bhakdi, der Israel wegen seiner Impfkampagne mit dem NS-Regime gleichsetzte.

Formale Bildung ist es alleine nicht. Hans Scholl wurde hingerichtet, bevor er die Chance hatte, akademische Titel zu erwerben. Gerade auch die Wannsee-Konferenz, auf der Massenmorde des NS-Regimes geplant wurden, unterstreicht doch, dass formale Bildung alleine nicht vor Verschwörungsmythen schützt – viele der Teilnehmenden trugen Doktortitel vor allem der Rechtswissenschaften.

Dies alleine bewahrte sie nicht vor Relativismus, Dualismus, Antiziganismus, Antisemitismus. Auch Martin Heidegger, einer der weltweit bekanntesten Philosophen, die je in Baden-Württemberg gelebt haben, stürzte mit all seiner akademischen Bildung und Sprachmacht in die Verschwörungsmythen einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung; und fand selbst nach dem Untergang des NS-Regimes nicht mehr daraus hinaus.

Bildung

Ich meine: Erst wenn wir auf die Wortwurzel des auch für die „Weiße Rose“ zentralen Begriffes der „Bildung“ zurückgehen, dann werden wir plötzlich findig.

Diese Wurzel finden wir in DEM großen Buch des Judentums, der Thora. Dort heißt es in 1. Mose 1, 27, dass der Mensch – jeder Mensch – „im Bilde G’ttes“ geschaffen sei. Daraus entstand über den jüdischen Arzt und Gelehrten Maimonides und den christlichen Dominikaner und Mystiker Meister Eckhart der deutschsprachige Begriff der „Bildung“.

Jeder Mensch – jedes Mädchen, jeder Junge, jedes Kind – hat demnach von allem Anfang an eine einzigartige Würde und ein einzigartiges Potential – und es ist die Pflicht nicht nur der Eltern, sondern der gesamten Gesellschaft, für eine Bildung nicht nur der Köpfe, sondern auch der Herzen zu sorgen. Bis heute wird in Synagogen die Bar Mitzwa und Bat Mitzwa dann gefeiert, wenn der Sohn oder die Tochter des Lesen der hebräischen Alphabetschrift gemeistert hat und willens ist, die Gebote des mosaischen Bundes ins eigene Leben zu nehmen.

Ein Doktortitel garantiert gelungene „Bildung“ also noch nicht und schließt sie schon gar nicht ab; ich spreche hier aus Erfahrung. „Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen!“ ruft Martin Buber in seinem „Ich und Du“; und ich meine, ebenfalls aus vielfacher Erfahrung, er hat Recht.

Eine Thorarolle – jede rabbinisch-koschere Thorarolle – besteht aus 304.805 handgeschriebenen Alphabet-Buchstaben. Das Judentum war die erste Religion der Alphabetisierung und der allgemeinen Bildung, in der jedes Kind lesen und schreiben lernen sollte. Heute gehören nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung – 15, 16 Millionen Menschen – dem Judentum an; aber über 20 Prozent aller Nobelpreisträger:innen. Antisemit:innen reagieren darauf mit Neid, Hass und Verschwörungsmythen.

Doch Monist:innen wie Hans und Sophie Scholl neideten Jüdinnen und Juden die Tradition der Bildung nicht, sondern hatten Teil an ihr, lasen und schrieben in Alphabetschrift sogar dort, wo es verboten war.

So schrieben sie in Flugblatt II über, – Zitat -: „…die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet sind. Hier sehen wir das fürchterliche Verbrechen an der Würde des Menschen.“ – Zitat Ende –

Meine sehr geehrten Damen und Herren: Hans Scholl und weitere Mitglieder der „Weißen Rose“ wurden allein dafür zum Tode verurteilt, weil sie Flugblätter mit wahren, überprüfbaren Inhalten im Medium der Alphabetschrift verfasst und verteilt hatten! Das alleine war das aus Sicht der Nazis ein Verbrechen, das den Schnellprozess und die Hinrichtung auch von jungen Menschen recht-fertigte!

Denn für Dualist:innen und insbesondere Antisemit:innen gilt: An jedem Problem, jeder Krise, jeder Angst muss jemand Anderes schuld sein. Wer dem widerspricht, wer auch nur zweifelt und beispielsweise nach der Verantwortung der eigenen Gruppe fragt – ist des Todes.

Und während im Verschwörungsglauben jede andere Menschengruppe – seien es Frauen, Sinti und Roma, Migranten, Politikerinnen, Virologen, Journalistinnen, Homosexuelle, Musliminnen – ent-würdigt und abgewertet werden, wird über den Antisemitismus nur und immer wieder Juden als erstem Volk der Alphabetschrift unterstellt, Weltverschwörungen anzuführen. Deswegen ist der Antisemitismus auch, aber nicht nur „irgendein“ verabscheuungswürdiger Rassismus – sondern darüber hinaus der Eintritt in eine dualistische Radikalisierung zwischen Hass und Selbstmitleid, die immer wieder in Abzocke, Gewalt, schließlich Mord und Selbstmord führt.

Das erkannten die Mitglieder der „Weißen Rose“ – wenn auch nicht gleich! – und das haben viele relativistische oder gar dualistische Intellektuelle bis heute nicht begriffen.

Und mehr noch: In diesem ersten Buch Mose, dem Beginn der Thora, wird die „Bildung“ direkt mit ihrem höchsten Wert verknüpft: dem Zweifel. Nicht nur der Mensch, sondern auch G’tt selbst irrt und korrigiert sich laut der Bibel wieder und wieder!

Das gilt für die großartige Paradieserzählung, in der sich der schmerzhafte, krisenhafte Übergang von der Wildbeutergesellschaft auf die Landwirtschaft mythologisch verewigt haben. G’tt lässt zumindest zu, dass seine Gebote übertreten werden und niemand dafür die Verantwortung übernehmen will.

Dies gilt aber auch für die Noahgeschichte, aus dem auch der Titel meiner Beauftragung entspringt: Der Noahsohn Sem wie in Anti-Sem-itismus gilt in der jüdischen Auslegung gerade nicht als Begründer einer „Rasse“ oder Sprachgruppe. Nein, schon der Talmud kennt ihn als ersten Begründer einer Schule in Alphabetschrift! Die Weisen überliefern, auch Sem habe sich sehr auch um das Wohl der Tiere in der Arche gesorgt und die Schulgründung gemeinsam mit seinem Enkel Eber, dem ersten „Hebräer“, vollzogen. Der Bund des Regenbogens über der ganzen Mitwelt steht für einen Dialog zwischen Gott und Menschen, in dem alle (!) fehlgehen und sich gegenseitig korrigieren. Die Möglichkeit, miteinander zu leben, erwächst aus der Bereitschaft zum Zweifel.

Sogar die Bedeutung der Namen für jedes Weltvertrauen findet sich in dieser kleinen, unglaublich großen Noah-Mythologie: Sem, hebräisch „Schem“ heißt „Name“ – der Name heißt Name. Wenn der Gottesname gewürdigt werden soll, so nennt man ihn jüdisch „HaSchem“ – der Name. Eine der schlimmsten, antijüdischen Schriften von Martin Luther verhöhnt den „Schem Hamphoras“, eigentlich „Ha-Schem Ha-Mephorasch“, den „unverstellten Namen“. In diesem wüsten Text zur sogenannten „Judensau“ von Wittenberg verhöhnt Luther, der als Reformer und Übersetzer bedeutend geworden ist, dann übrigens auch die Alphabetschrift.

Und an die Ermordeten des Nationalsozialismus erinnert die Gedenkstätte Yad va Shem, Denkmal und Name. Wie auch immer man eine Beauftragung gegen Antisemitismus definieren will – der Schutz der Namen vor Missbrauch gehört dazu. Dies trifft auf die Namen der Geschwister Scholl zu, aber auch zum Beispiel auf Georg und Amalie Struve, auf Hannah Arendt, Elie Wiesel und Simon Wiesenthal. Wir müssen aktiv dagegen vorgehen, dass Namen und das mit den Namen verbundene Vertrauen durch Dualist:innen missbraucht werden.

Denn Relativistinnen und Dualisten behaupten gerne zynisch: „Gefühl ist alles / Namen sind Schall und Rauch“. Doch Goethe hat auch diesen Satz nicht zufällig dem Faust in den Mund gelegt, während dieser Margarethe täuscht und verführt. Wo die Namen ohne Widerspruch missbraucht werden, ist niemand mehr sicher. Auch deswegen dient der „Crailsheimer Tag der Weißen Rose“ nicht nur der Vergangenheit, sondern auch einer besseren Zukunft.

Und so rufe ich beispielsweise unreflektierten Fans von Martin Luther ebenso wie dem Ludendorff-„Bund für Gotterkenntnis“ hier in dieser Region zu: Als Demokrat schütze ich auch Eure Freiheit der Religion und Weltanschauung. Doch ich schulde Euch auch dazu die Ansage, dass antisemitische Traditionen niemals, wirklich niemals zu echter Gotteserkenntnis führen werden. Lasst ab von Verschwörungsmythen und feind-seligem Dualismus, mit denen Ihr andere und auch Euch selbst gefährdet!

Was also ist es, was wahre Bildung von falscher Bildung unterscheidet? Was macht einen Hans Scholl in meinen Augen so besonders glaubwürdig, dass wir ihn heute ehren?

Es ist in meinen Augen die Stärke zu zweifeln. Ich vertraue Hans Scholl nicht, weil er immer Recht gehabt hätte, sondern weil er immer wieder gezweifelt hat. Auch er hatte sich in der Hitlerjugend radikalisieren lassen, war begeistert mitgelaufen, hatte eine Radierung des Diktators in seinem Zimmer aufgehängt. Auch der junge Hans Scholl empfand durchaus nationalsozialistisch und also dualistisch und antisemitisch.

Doch noch in seiner Vernehmung vor der Hinrichtung berichtete er vor den, Zitat „qualvollen Überlegungen“, die in „zu der Ansicht“ gebracht hatten, „dass es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges.“ Auch den naheliegenden Rückzug in den Relativismus wählte er nicht, denn es gehöre sich nicht, Zitat „als Staatsbürger dem Schicksal meines Staates gegenüber zu stehen. […] So kam ich auf die Idee Flugblätter zu verfassen und zu verfertigen“. – Zitat Ende –

Als Christ habe ich nicht zuletzt von Mitgliedern der „Weißen Rose“ gelernt, dass zu jedem wirklichen Glauben auch der ernste, manchmal quälende Zweifel gehört. Wenn sogar Gott gleich im ersten Buch der Bibel Irrtum und Korrektur kennt, so sollten wir skeptisch gegenüber jedem Menschen sein, der keine Zweifel mehr zugibt. Erst wer durch den Zweifel gelernt hat, Glauben und Wissen zu unterscheiden, darf von „Bildung“ sprechen.

Eines meiner politischen Vorbilder ist daher der ehemalige Oberbürgermeister von Stuttgart, Manfred Rommel. Auch er hatte als junger Mann die Begeisterung von Dualismus und Nationalsozialismus gekannt und wurde dann durch den späten Widerstand und erzwungenen Suizid seines Vaters Erwin grausam ent-täuscht. Ich habe noch einige Male in der jüdischen Gemeinde Stuttgart erlebt, wie sich die Jüdinnen und Juden respektvoll und bewegt erhoben, wenn „ihr“ OB Rommel mit einer Krücke oder später im Rollstuhl als Ehrengast zu den Hohen Feiertagen kam. Dies nicht, weil er immer alles richtig gewusst oder getan hätte; sondern weil er bereit gewesen war, auch noch durch die schmerzhaftesten Lektionen zu gehen und zum demokratisch reflektierten Monisten zu werden.

Auf der Basis dieses Vertrauens konnten die jüdische Gemeinde und die Stadt Stuttgart seit 1985 die Otto-Hirsch-Auszeichnung verleihen, die wiederum den Namen eines großen, jüdischen, vom NS ermordeten Stuttgarters trägt. Sie können sich vorstellen, wie mich diese Auszeichnung in 2022 ehrt, aber auch verpflichtet. Lasst uns gerade auch gegen den digitalen Hass in jeder Stadt und Gemeinde die Namen jener Aufrechten ehren, die uns die Geschichte anvertraut. Und lasst uns im gesunden Sinne bezweifeln, ob wir dieser Namen auch heute noch und wieder würdig sind.

Auch wissenschaftliche Erkenntnis braucht Zweifel

Auch als Wissenschaftler habe ich vom ebenfalls NS-verfolgten Karl Popper gelernt, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis vorläufig und Zweifel unvermeidlich, ja notwendig ist. Wir haben das doch in der Covid19-Pandemie geradezu körperlich erlebt: Welche Maßnahmen sind angemessen, wann gehen sie zu weit? Was haben wir vor allem den jungen Generationen angetan? Ab wann können und sollen wir einem neuen Impfstoff trauen? Welche Varianten erwarten uns noch, was wird aus den Abertausenden, die derzeit unter LongCovid und ME/CSF leiden?

Lasst uns also mit Hans Scholl an der Seite derer stehen, die immer wieder zweifeln und Ängste haben. Ja, auch ich habe diese nicht zuletzt als Familienvater auch. Ich habe die Zerstörungen der Klimakrise und die daraus folgende Hitzemord-Gewalt im Irak gesehen und habe Zweifel, ob wir als Menschheit wenigstens noch einige Regionen der Erde bewohnbar halten können.

Meine Einwände richten sich nicht gegen Ängste und Zweifel, sondern gegen jene, die ihren Ängsten und Zweifeln dualistisch auszuweichen versuchen, indem sie sie in Verschwörungsmythen über die Rothschilds, Bill Gates oder das World Economic Forum verwandeln. Ich verstehe schon, dass die Welt einfacher erscheint, wenn man eine Menschengruppe für das Virus oder die Klimakrise beschuldigen kann. Doch wenn wir ehrlich und mutig sind, steht keine Verschwörergruppe, sondern unser eigener Umgang mit unserer Mitwelt einschließlich der Tiere und Pflanzen darin zur Disposition!

Antisemiten bieten immer wieder nur falsche und gefährliche Schein-Antworten, wo wir auf längst auf Tierschützer und Zoonose-Experten wie Eugen Grimminger hätten hören sollen! Auch wir reden immer noch herablassend vom „Umweltschutz“, als wäre unsere Mitwelt mit allem Leben darin eine Kulisse, die wir austauschen könnten. Mitweltschutz wäre das ehrlichere, monistischere, noch in der Weimarer Republik diskutierte Wort.

Ebenso kenne ich auch als ehemaliger, deutscher Soldat die Angst vor dem Krieg. Ich verlängerte meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr, WEIL ich daran glaubte und glaube, dass Demokratien und der Frieden notfalls auch mit der Waffe verteidigt werden müssen. Und seitdem ich im März gegenüber dem Magazin Chrismon die Prognose vertreten habe, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine verlieren und die russische Armee zerfallen wird, frage ich mich jeden Tag bange, ob ich einen wichtigen Faktor übersehen und mich vielleicht doch geirrt habe.

Geschockt war ich dagegen von der Antwort eines Philosophen, von dem ich Bücher gelesen und geschätzt habe, auf die Frage: „Wie oft haben Sie sich in den vergangenen Tagen gefragt, ob Sie in Bezug auf den Krieg in der Ukraine Unsinn geredet haben?“

Die Antwort von Richard David Precht: „Nicht einmal. Wieso sollte ich?“

Ich möchte dafür eintreten, dass wir Hans Scholl dafür erinnern und würdigen, dass er uns gezeigt und vorgelebt hat, dass zu Wissen und Glauben immer auch der Zweifel gehört. Wer andere angreift, ohne sich auch selbst zu hinterfragen, übt keine „Kritik“, sondern dualistische Selbsttäuschung.

Verschwörungsmythen sind keine wissenschaftlichen Theorien, sondern feige, dualistische Ablenkungen von den eigenen Schwächen. Sie zerstören Diskurse und Kompromisse, die beiden Herzkammern jeder lebendigen Demokratie.

Bildung im besten und vielleicht einzigen Sinne finden wir nicht ohne den Zweifel, sondern durch ihn. Das haben uns Hans Scholl und alle Mitglieder der „Weißen Rose“ gelehrt. Und deswegen danke ich Ihnen, dass Sie auch weiterhin ihrer aller Namen ehren und einander vertrauen.

  • Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Im Anschluss an die Rede gab es nicht nur intensive Gespräche und Signierwünsche für mitgebrachte Bücher (gerade auch für das neue Dialog-Buch mit Prof.in Barbara Traub), sondern auch eine “Weiße Rose”.

Eine Erinnerungs-Weiße Rose des Arbeitskreises aus Crailsheim. Foto: Michael Blume

 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

20 Kommentare

  1. Eine beeindruckende Rede, Herr Blume, vielen Dank dafür. Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass Sie in den letzten Absätzen von “Karl David Precht” sprechen. Vermutlich meinen Sie “Richard David Precht” (schnell ändern, bevor es noch jemand merkt!)

    • Danke, @Ruth Eisenblätter! Nun weiß ich, dass wirklich jemand die Rede gelesen hat! 🙂

      (Und kann es also korrigieren.)

      Nein, ernsthaft: Das Interesse an der Rede und die Rückmeldungen sind sehr erfreulich. Danke, dass Sie so aufmerksam gelesen haben! 🙏☺️🖖

  2. @Blume
    Ich halte Ihre strenge Trennung von Monismus und Dualismus für schwierig.
    Wie ich bereits mehrfach geäußert habe,vertrete ich einen Komplementären Monismus.
    Die Komplementarität beinhaltet per Definition ebenso die Polarität,Dichotomie Gegensätzlichkeit wie der Dualismus.
    Wie kommt das?
    Ich sehe es wie Sie,dass der Zweifel Wesen des -komplementären- Monismus ist,eben des Selbst.
    Abgrenzung und Verhärtung kennzeichnet dagegen den Dualismus im/zum Anderen.
    Wie sehen Sie die Trennung von Monismus zum Dualismus bzw. mögliche Übergänge?

    • Lieber @Mussi,

      wenn Sie wahrnehmen würden, dass ich – auch in dieser Rede ausführlich – drei Grund-Weltanschauungen unterteile, könnten wir sinnvoller diskutieren.

      Monismus – Relativismus (gerne auch als „Pluralismus“) – Dualismus.

      Drei, nicht zwei. Es ist wirklich nicht so schwer. ☺️✍️📚

  3. @Hauptartikel

    „Ich habe die Zerstörungen der Klimakrise und die daraus folgende Hitzemord-Gewalt im Irak gesehen und habe Zweifel, ob wir als Menschheit wenigstens noch einige Regionen der Erde bewohnbar halten können.“

    Als Erfahrung sicherlich extrem, diese Situation. Ölbedingte Autokraten im religiösem Wahnsinn und ständigem Krieg gegeneinander, und dann eine Gegend, die sowieso so heiß und trocken ist, dass sie schon ohne Klimawandel an der Grenze des Bewohnbaren liegt.

    Ich denke aber mal, dass es neben einer wirklich erfolgreichen Energiewende auch darum geht, wie gut wir uns als Menschheit verstehen und uns gegenseitig unterstützen. Auch in Pakistan mit 45° im Schatten kann man mit grünem Strom und Klimaanlage ganz gut wohnen, wenn man hinreichend Lebensmittel importieren kann, soweit die eigenen Ernten nicht reichen. Und wo Überschwemmungen drohen, da muss man ja nicht unbedingt neue Häuser bauen.

    Ich denke, dass sogar ein vernünftiges Miteinander sogar noch grundlegender als die Energiewende ist. Letztlich braucht die Energiewende doch auch ein Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung dem Leben auf diesem Planeten gegenüber.

    Wie kommen wir da aber hin? Damit ernst machen und anfangen, und gucken, dass immer mehr andere mitmachen. Wenn dann irgendwann kaum noch fossile Energieträger nachgefragt werden, dann geht es vielleicht auch mit den Ölautokratien vorwärts, dass sich da die Verhältnisse nachhaltig bessern.

    Aber was machen wir jetzt dagegen? Welche Möglichkeiten haben wir? Die beiden Irakkriege haben in der Tat verhindert, dass sich Saddam Hussein die ganzen kleinen Golfstaaten incl. Saudi-Arabien einverleibt, und der militärische Aufwand hielt sich sogar in Grenzen.

    „..dass Putin den Krieg gegen die Ukraine verlieren und die russische Armee zerfallen wird, frage ich mich jeden Tag bange, ob ich einen wichtigen Faktor übersehen und mich vielleicht doch geirrt habe.“

    Entsprechend sieht es auch im aktuellem Ukrainekrieg so aus, das Russland sich verschätzt hat, und diesen Krieg nicht gewinnen wird. Offen ist aus meiner Sicht, ob die 300.000 Reservisten, die gerade aktiviert werden, das Blatt nochmal wenden. Wenn nicht, und die Ukraine mit unseren Waffenlieferungen weiter erfolgreich ist, ist es wiederum unklar, wie weit sich Russland zurückdrängen lässt, bis es bereit ist taktische Atomwaffen einzusetzen, um einen weiteren Vormarsch der ukrainischen Truppen zu beenden.

    Ist das der aktuelle Frontverlauf, die faktischen Grenzen von nach 2014 oder die völkerrechtlichen Grenzen von vor 2014, wer weiß das? Womöglich nicht mal Putin, kann er sich ja auch immer noch überlegen.

    Und dann ist wieder die große Frage, was machen wir denn dann?

    Ein feiges Zurückreichen vor irren Diktatoren ist sicher unrühmlich. Aber nach Atomkriegen fragt keiner mehr, wer Schuld war. Weil dann keiner mehr lebt, der das fragen könnte. Mit gutem Grund hat keiner den kalten Krieg heiß werden lassen.

    Ich würde also vorschlagen, zunächst mal mit keinem weiterem Vormarsch russischer Truppen sicherheitshalber zufrieden zu sein. Und wenn dieses weiterhin gewährleistet ist, dann kann man gerne mit Putin über ein Ende der Sanktionen verhandeln, die uns offenbar nicht weniger Schaden als Russland.

    Russland ist nun mal nicht nur eine Ölautokratie, sondern eine wirklich ernst zu nehmende Atommacht. Sollten auch atomare Auseinandersetzungen unvermeidlich sein, dann haben wir eben verloren und Europa wird nur noch Geschichte sein. Aber wenn es möglich ist, derartiges zu vermeiden, dann wäre es ja wohl einen Versuch wert.

    Den Atomkrieg können wir immer haben, da reicht ja schon der berühmt rote Knopf, und nach einer halben Stunde ist es auch schon fertig damit. Demokratische Werte wiederum sind das eine, Verantwortung für den Planeten nicht dasselbe. Die Freiheit mit der Brechstange ist nicht zu haben, Russland wird Autokratie bleiben. Wir können offenbar nur die Ukraine unterstützen. Die Vernichtung des Planeten dagegen, die ist ganz klar machbar, das ist das Einfachste. Die Energiedichte von spaltbarem Uran und Plutonium ist eben phänomenal.

    • Tobias Jeckenburger

      Ich würde also vorschlagen, zunächst mal mit keinem weiterem Vormarsch russischer Truppen sicherheitshalber zufrieden zu sein.

      Wir sind nicht damit zufrieden, wenn Putin zunächst nur einen Teil der Ukraine okkupiert, und zunächst nur dort täglich Gräueltaten begeht. Auch die Ukrainer sind damit nicht zufrieden.
      Und auch Putin ist nicht mit nur einem Teil der Ukraine zufrieden.
      Er wäre nichtmal mit der Besetzung nur eines ganzen Land zufrieden. Die Ukraine sollte ja nur der Anfang sein.

      Vorschlag also von allen Seiten abgelehnt.
      Haben Sie keinen Besseren?

  4. @Mussi 23.09. 20:38

    „Wie sehen Sie die Trennung von Monismus zum Dualismus bzw. mögliche Übergänge?“

    In der Tat mag es hier Übergänge geben. Gerät ein Mensch in die Fänge der Reichsbürger, dauert das ein paar Wochen, in denen der Mensch nach und nach immer mehr Mythen aufnimmt und annimmt, bis er da nicht wieder von weg kommt. Und andersrum auch. Wenn immer mehr Zweifel aufkommen, kann das auch irgendwann kippen, und der Mensch kehrt zum Monismus zurück.

    Hier sind Übergangsformen unvermeidlich, obschon durchaus eine Dynamik von Kippelementen vorkommen kann, dass eben Übergangsformen weniger stabil sind, und entsprechend weniger häufig sind.

    Auch kann ein Relativismus immer beigemischt sein. Gerade der Relativismus eignet sich ja für Themenbereiche, in denen man sich sowieso schlecht auskennt, und sich auch recht wahrhaftig eines Urteils enthält. So gibt es etwa ziemlich viele religiöse Vereine, die alle durch die Religionsfreiheit geschützt sind. Die meisten Menschen halten sich da dann auch einfach raus, hier ist ein Relativismus angebracht, gerade weil man sich wenig auskennt. Hier kann bestenfalls ein Religionswissenschaftler sich Urteile erlauben, und so mancher, der sich in das Thema eingearbeitet hat.

    Man kann sich auch einen Ökodualismus vorstellen. Wenn man das gesamte Leben auf die Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen reduziert, kommt man zwangsläufig zu eindimensionalen Lösungen. Besser, man guckt sich den Rest des Lebens auch an, und guckt, wie man insgesamt vernünftig leben kann. Man will ja auch noch gut Essen, in Freiheit leben, sich Raum für Religion lassen, die Natur nicht nur schützen, sondern auch erleben wollen oder auch einfach gerne Autofahren. Und man will auch nicht vor lauter Stress krank werden.

    Es gibt hier klar eine Aufgabe für die ganze Menschheit, aber die ist eben nicht der ganze Kosmos dessen, was uns Menschen interessiert und bewegt. Was jetzt wiederum nicht heißt, das man nicht auch Glaubensfragen mit der Frage nach ökologisch vernünftigem Handeln verbinden kann. Eine echte Beziehung zu Geisteswelten mag jetzt gerne auch eine konsequente Beziehung zu ökologischer Vernunft haben.

  5. @Jeckenburger

    Danke für die Aufnahme des Gedankens.

    @Herje…Michael Blume

    Ich lese und höre alles,was Sie hier veröffentlichen.
    In meinen Augen steckt mir darin aber eben auch in Augenblicken zu sehr persönliche Distinktion und Verteidigung zum Dialogischen Monismus.
    Alleine die Frage,was Dialog bzw. Diskurs ist,beinhaltet das ‘Di=Zwei”. Ich wollte nur wissen,wie Sie das im Hinblick auf den Monismus sehen,wenn die Entscheidung zwischen Freund-Feind ja-nein eine des nach meinem Verständnis des monistischen Selbst ist?

    • @Mussi

      Ein dialogischer Monismus geht nicht mehr von einem einheitlichen „Selbst“ aus, sondern seit Martin Buber von einer Wahrheit. Die Annäherung an diese sei nur durch Dislog möglich.

      Auch in der obigen Gedenkrede finden Sie diesen Gedanken: „Ich möchte in einem Land leben, in dem die Vielfalt der Religionen, Weltanschauungen und auch demokratischen Parteien nicht als Problem, sondern als Chance begriffen wird.“

      Hinzu kommt das poppersche Falsikatioksprinzip – der auch selbst-kritische Zweifel.

      Ganz ausführlich dazu „Rückzug oder Kreuzzug?“ u.a. zur Krise des Christentums sowie dieser Blogpost:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/der-deutschsprachige-monismus-nach-ernst-haeckel-martin-buber-und-karl-popper/

      Es geht also im aktuellen, dialogischen und aufgeklärten Monismus nicht mehr um ein „Selbstgespräch“, sondern um gelingende Rahmen für den dialogischen, auch wissenschaftlichen Austausch der Vielen.

      Ihnen einen schönen Sonntag!

  6. @Blume

    Wenn ich das richtig herauslese,dann läuft das möglicherweise,kann-soll-darf,das auf eine monistische Wahrheit hinaus.
    Das sehe ich gerade in Ihrer letzten Antwort nicht so.
    Jede der Philosophischen Hauptrichtungen hat ihr Fundament. Meines Erachtens besteht eher die Frage,wo diese Fundamente Berührungspunkte haben.
    Ich bin Agnostiker,also nicht Gläubiger wie Sie. Das macht einen Unterschied in Interpretationen und daraus folgenden Schlüssen und Aussagen.

    Ihnen auch einen gesegneten Sonntag.

    • Ja, @Mussi – insofern “diese Fundamente Berührungspunkte haben” würden sie sich in einer gemeinsamen – also monistischen, wenn auch nie völlig erschließbaren – Welt befinden. Diese Haltung entspräche einem dialogischen Monismus und pragmatischen Rationalismus, wie ihn Karl Popper in seiner “Offenen Gesellschaft” definierte: “Die >Welt< ist nicht rational. Es ist aber die Aufgabe der Wissenschaft, sie zu rationalisieren."

      Wenn Ihr Verständnis von Agnostizismus jedoch bedeutet, anzunehmen, dass es gar keine allen gemeinsame Welt und erforschbare Wahrheit gäbe, dann wäre das Relativismus (keine Wahrheit). Als Dualist erlebe ich Sie ganz klar nicht.

  7. @Michael 24.09. 22:59

    „Es geht also im aktuellen, dialogischen und aufgeklärten Monismus nicht mehr um ein „Selbstgespräch“, sondern um gelingende Rahmen für den dialogischen, auch wissenschaftlichen Austausch der Vielen.“

    Es gibt auch innerhalb monistischer Kultur Meinungsverschiedenheiten und Streit. Insbesondere wenn verschiedene Interessen im Spiel sind. Und es gibt natürlich auch Umtriebe, die der Monist wirklich ablehnt.

    Wenn sich wer Unfug, Lügen und destruktive Mythen zusammenbastelt, um andere zu manipulieren, und die Manipulierten dass aufnehmen, weil es für sich einfach erscheint, und sie sich so auch selber aus der Verantwortung ziehen können. Aus der Verantwortung gegenüber den Folgen des eigenen Handelns wie auch gegenüber der Notwendigkeit, sich umfassender zu informieren.

    Dies kann man wiederum mit Relativismus mehr oder weniger vernebeln.

    Letztlich geht es hierbei doch auch um Wahrhaftigkeit. Es ist meistens recht definitiv zu klären, was jetzt Sache ist und was wissenschaftlicher Konsens sein kann. Und was auch innerhalb der Wissenschaft unsicher ist, oder gar eine Modeerscheinung ist. Entsprechend skeptisch kann und muss man auch gegenüber Aussagen von Wissenschaftlern sein. Es ist aber leistbar, die gesicherten Erkenntnisse von den ungesicherten Modeannahmen zu unterscheiden.

    So ist zum Beispiel das Ausmaß des zu erwartenden Klimawandels mit richtig großen Unsicherheiten verbunden. Dennoch macht es Sinn, sich an die Mittelwerte zu halten, den die Klimamodelle hergeben. Zu Hoffen und zu Bangen bleibt aber eine Menge Raum.

    Monismus ist eben keine besondere Form des Dualismus, auch wenn der Monist Feinde kennt und Gegner bekämpft. Der Unterschied besteht in einer guten Informiertheit und in der Wahrhaftigkeit, die sich vor allem darin zeigt, dass Monisten ihre Streitfragen ausdiskutieren. Zumindest, soweit das möglich ist.

    Verschiedene Interessen wie auch ganz verschiedene eigene Welterfahrungen z.B. können aber durchaus eine Diskussion auch unter Monisten erschweren. So gibt es dann eben auch verschieden Monismen, scheint mir. In der Realität des wilden Lebens, und doch ist es immer noch Monismus. In klarer Abgrenzung zum manipulativem Dualismus und verantwortungslosem Relativismus.

    Das Ziel, das man hat, ist vielleicht der entscheidende Punkt. Will ich einfach nur Verhältnisse, von denen ich selber profitieren kann, oder bin ich auf der Suche nach wirklicher Erkenntnis und nach einer wahrhaftigen Diskussion. Die den anderen mit seiner Sicht und seinen Interessen zunächst respektiert, und dennoch ein Ergebnis bezüglich gemeinsamer Sicht und beiderseitiger Interessen sucht.

    • Wie @Tobias Jeckenburger sagt. Ein reflektierter und also dialogischer Monismus weiß, dass Vielfalt nicht nur bleiben wird, sondern sogar notwendig ist. Eine weltweite Einheits-Religionsgemeinschaft oder Einheitspartei wäre also weder erreichbar – noch überhaupt erstrebenswert. Schon der “Monistenbund” scheiterte ja Anfang des 20. Jahrhunderts u.a. daran, eine gemeinsame Haltung zum Ersten Weltkrieg zu finden. Es geht also um den gelingenden Umgang mit Vielfalt – nicht um deren Leugnung oder gar Zerstörung.

  8. @Frankfurter 25.09. 13:25

    „Vorschlag also von allen Seiten abgelehnt.
    Haben Sie keinen Besseren?“

    Im Moment nicht. Dann geht die Schießerei erstmal weiter, bis sich die Frontlinien so verändern, dass alle zufrieden sind. Oder, weil das ja gar nicht möglich ist, bis nach Jahren allen Beteiligten die Lust vergeht. So viele Tote, und Kosten, und Wirtschaftskrieg, und das darum, ob jetzt wer irgend jemand anderen verwalten darf, der dazu gar keine Lust hat, sich verwalten zu lassen.

    Das geht zunächst an die Adresse Putins. Selbst wenn er längst gewonnen hätte, wäre die Auswirkung auf das eigene Gemeinwesen Russlands minimal. Ebenso wäre eine Befreiung der Krim ein Bärendienst für die Krimbewohner. So weit ich das mitbekommen habe, wollen die tatsächlich lieber zu Russland gehören.

    In den anderen besetzten Gebieten ist die Lage diesbezüglich nicht ganz klar, scheint mir.

    Immerhin ist das Ergebnis von militärischer Gewalt eben wenigstens faktisch, und kann Fragen einfach entscheiden. Ob zum Besseren oder nicht, jedenfalls entscheiden.

    Nicht gut wäre, wenn Russland zu taktischen Atomwaffen greift, weil es sich anders nicht mehr halten kann. Das Ausmaß von Zerstörung würde dann die Kosten auf beiden Seiten derart erhöhen, das auch das Ausmaß an Unsinn dieser Verwaltungsstreitigkeiten völlig ausufern würde.

    • Tobias Jeckenburger

      Dann geht die Schießerei erstmal weiter, bis sich die Frontlinien so verändern, dass alle zufrieden sind.

      Der Krieg, den Sie hier so läppisch mit “Schießerei” umschreiben, wird so lange weitergehen, bis Putin begreift, dass er ihn nicht gewinnen wird. Nicht so lange bis er zufrieden ist.

  9. Ob Hans Scholl die heutige BRD wohl gut finden wuerde?

    Demokratie ist toll, aber die kann leicht unterwandert werden durch erpressbar gemachte Politiker.

    Epstein war sicherlich nur die Spitze des Eisberges.

    Meinen Sie nicht auch es wuerde weniger Antisemitismus geben wenn die Juden mit dieser widerlichen Politik aufhoeren wuerden?

    Ich meine Politik auf dem Ruecken von geschaendeten Kindern zu betreiben ist wahrhaftig krank und fuehrt zwangslauefig zu Antisemitismus.

    Mal darueber nachdenken.

    • Sie setzen die antisemitischen Verschwörungsmythen bereits voraus, indem Sie für den Antisemitismus „die Juden“ mit ihrer angeblichen „widerlichen Politik“ verantwortlich machen. Epstein steht für Sie für „die Juden“, wogegen Sie von dessen Buddy Trump oder von Putin nicht auf „die Christen“ schließen würden.

      Sie vertreten, @Sebastian, einen antisemitischen Dualismus. Und ich hoffe auch für Sie, dass Sie eines nahen Tages noch daraus herausfinden mögen…

  10. @Frankfurter 26.09. 21:59

    „Der Krieg, den Sie hier so läppisch mit “Schießerei” umschreiben, wird so lange weitergehen, bis Putin begreift, dass er ihn nicht gewinnen wird.“

    Das wäre sicher das Beste. Offenbar sind wir aber soweit leider noch nicht. Putin legt ja gerade erstmal nach mit 300.000 Einberufungen. Wieviele Panzer er für die hat, weis ich nicht. Entsprechend ist mir jetzt unklar, ob sich das Blatt nicht doch noch wieder wendet.

    So oder so, eine Situation, dass Putin und Selensky beide wirklich zufrieden sind, scheint unmöglich zu sein. Selbst wenn sich Putin nur mit der Krim und einem Friedensvertrag abfinden würde, dann würde Selensky vermutlich nicht wirklich zufriedend damit sein. Was bleibt, ist dass einer oder beide irgendwann wirklich keine Lust mehr haben, Krieg zu führen. Und entsprechend bereits sind, Kompromisse einzugehen.

    Wie viele Waffen wir noch an die Ukraine liefern und was wir mit den gegenseitigen Sanktionen machen, ist allerdings auch unsere Entscheidung. Eine Verhandlung darüber scheint mir eine Sache für sich zu sein zu können.

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