Sind religiös aufwachsende Kinder “fieser”? Eine empirische Studie mit einem fatalen Fehler

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Wieder mal zieht ein Aufreger durch die Netzwelt, angefeuert durch einen Guardian-Artikel: Wissenschaftler haben herausgefunden (also muss es unbezweifelbar wahr sein), dass religiös aufgezogene Kinder “fieser” seien als Kinder aus säkularen Familien! Zwar würden die religiöse Eltern ihren Kindern eine durchschnittlich höhere soziale Kompetenz bescheinigen – aber “im Experiment” würden diese Kinder “weniger teilen”!

MeanerReligiousChildrenGuardian2015

Natürlich sieht die Sache schon etwas differenzierter aus, wenn man die Studie von Jean Decety, Jason M. Cowell, Kang Lee, Randa Mahasneh, Susan Malcolm-Smith, Bilge Selcuk und Xinyue Zhou in Current Biology selbst genauer anschaut: Hier wurde in einer internationalen Studie mit Kindern aus christlichen, islamischen und nichtreligiösen Familien ein spieltheoretisches Experiment durchgeführt – die Kinder durften aus Stickern ihre Favoriten auswählen, erhielten diese dann als Geschenk – verbunden mit dem Angebot, anderen, unbekannten Kindern davon welche abzugeben. Und hier ergab sich also der vermeintlich “sensationelle” Befund: Religiöse Kinder gaben im Durchschnitt etwas weniger Sticker ab, handelten also nach Auffassung der Forschergruppe “weniger altruistisch”.

CurrentBiologyNegativeReligiousAltruism

Müssen also die bisherigen, sozialpsychologischen Befunde zur gesteigerten In-Group-Kooperation unter Religiösen (nicht zu verwechseln mit moralischer Überlegenheit!) verworfen werden? Ist nun – aus einiger Sicht sicher: endlich – erwiesen, dass religiöse Menschen eigentlich “schlechter” seien als ihre säkularen Zeitgenossen?

Nein, dies ist nicht der Fall – denn leider kontrolliert die Studie für eine ganze Reihe von Faktoren, nicht jedoch für eine offensichtliche: Die Zahl der Geschwister.

Religiöse Familien haben im Durchschnitt mehr Kinder, religiöse Kinder also im Durchschnitt mehr Geschwister!

Es ist ja nun auch wissenschaftlich wirklich kein “Geheimwissen” mehr: Im Durchschnitt haben religiös praktizierende Menschen (auch und gerade nach Kontrolle von weiteren Faktoren wie Bildung und Einkommen) mehr Kinder als ihre nichtreligiösen Nachbarn. Und das bedeutet damit eben auch: Kinder in religiösen Familien haben im Durchschnitt mehr Geschwister…

ReligionDemografieHomoreligiosusCredit: Gehirn & Geist 04/2009, “Homo religiosus”

In einer bemerkenswerten Ironie “weiß” das übrigens auch die Guardian-Redaktion – zumindest wird direkt unter dem “Gemeine-Kinder-Artikel” auf die Berichterstattung zum massiven Wachstum jüdisch-orthodoxer Gemeinden verwiesen. Haredische Familien wiesen demnach rund 7 Kinder pro Frau auf, gegenüber dem britischen Mittel von 1,93. Aber offensichtlich hat bislang niemand die beiden Faktoren auch mal gedanklich verbunden…

GuardianOrthodoxDemography2015Denn die Alternativhypothese liegt – zumindest für einen Vater mehrerer Kinder – auf der Hand: Wenn ein Kind mit (vielen) Geschwistern aufgefordert wird, Sticker auszuwählen und dann auch noch über deren Verteilung zu entscheiden, wird dieses Kind mit-kalkulieren (müssen), wie viel an die Brüder und Schwestern abzugeben ist. Dies gilt gerade auch für Kinder, denen ein höheres Gerechtigkeitsempfinden attestiert wird und die eine stärkere Orientierung an gesellschaftlichen Regeln bekunden – wie es obenstehend den Kindern aus religiösen Familien (im Durchschnitt) empirisch zugeschrieben wird!

So bleibt also nur zu hoffen, dass künftige Forschende gerade auch bei der empirischen Erforschung von Religiosität nicht im methodologischen Individualismus steckenbleiben, sondern auch das soziale und konkret familiär-demografische Umfeld ihrer Probandinnen und Probanden berücksichtigen. Jede Wette: Schon eine Berücksichtigung der Zahl der Sticker, die an Geschwister gehen, hätte das Studienergebnis wahrscheinlich deutlich verändert…

ReligionundDemografie2014

* Eine englische Übersetzung dieses Blogposts findet sich auf scilogs.com.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

78 Kommentare

  1. Pingback:Are religious Children meaner than their secular counterparts? Report of a study with a fatal flaw › The Nature of Faith

  2. Zitat: “…der vermeintlich “sensationelle” Befund: Religiöse Kinder gaben im Durchschnitt etwas weniger Sticker ab, handelten also nach Auffassung der Forschergruppe “weniger altruistisch”.

    Ein “Schelm, der böses bei sich denkt.”! Statistische Ergebnisse in Studien sind immer “tricky”. Ich “glaube” schon seit längerem, nur mehr jener Statistik die ich selbst “gefälscht” (erstellt) habe. 🙂

    Deshalb die Frage zurück, (da ich kein Statistiker bin): Ist das Ergebnis der Studie so zu verstehen, dass die absoluten Zahlen der Studie anders ausfallen würde, wenn der Faktor Geschwisterhäufigkeit (vielleicht auch noch: Geschwisterkonstellation) mit berücksichtigt würde? Handelt es sich also zwar um kein fehlerhaftes, dafür aber um eine unterkomplexes Ergebnis?
    Wäre hier nicht eine Gegenstudie, welche diese Faktoren mit berücksichtigt aufschlussreich?

    Nichtsdestotrotz ist es ja Binsenweisheit, dass sich mit Statistik manipulationsfördernd aufbereiten lässt – ohne deshalb gleich als “Schummler” zu gelten, wenn einem das Ergebnis gelegen kommt. Wen wundert also der Rückgriff in die statistische Trickkiste um den “Wunsch zum Vater des Gedanken gemacht” mit Zahlenspielereien zu untermauern.

    Das Problem so mancher Studien, scheint mir – wie so oft – ein ideologisches zu sein. Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Ergo gibt es Mittel und Möglichkeiten das auch mit Z.D.F. (Zahlen, Daten, Fakten) zu “untermauern” um den Schein der Wissenschaftlichkeit zu wahren.

    Als weiteres Beispiel, der Effekt von “absoluter” und “relativer” Häufigkeit:
    http://www.focus.de/wissen/mensch/tricks-und-manipulationen-absolutes-oder-relatives-risiko_id_4700289.html

    “Wenn Regionen mit vielen Störchen viele Geburten melden und solche mit wenig Nestern nur wenige, gibt es eine deutliche Korrelation beider Datenreihen.
    Aber wer würde das als Beweis betrachten, dass der Storch viele Kinder bringt? Entscheidend sei vielmehr eine dritte Variable: Ein großes Dorf mit vielen Dächern habe mehr Nester – und in der Regel auch mehr Frauen in gebärfähigem Alter.”

    • Ja, @Ingo D. – das Problem an empirischen Studien ist tatsächlich stets, dass sie erstmal nur Korrelationen (statistische Zusammenhänge) ermitteln, die wiederum durch Theorien zur Kausalität (Ursache-Wirkung-Faktoren) verstanden werden müssen.

      Zum Beispiel: Dass Religiöse im Durchschnitt mehr Kinder haben, könnte an dritten Faktoren wie Bildung liegen, oder auch daran, dass sich kinderreiche Familien häufiger Religionsgemeinschaften anschließen! Also mussten wir durch eine Vielzahl von statistischen Studien wie auch durch Fallbeobachtungen (Amish, Haredim, Hutterer, Yeziden etc.) diese Alternativhypothesen klären.

      Im vorliegenden Fall ist das nicht geschehen: Die Kolleginnen und Kollegen haben das Verteilverhalten von (häufiger säkularen) Einzelkindern mit dem von (häufiger mit vielen Geschwistern verbundenen) religiös Aufwachsenden verglichen, also eine potentiell mächtige Variable übersehen.

      Bösen Willen will ich dabei jedoch nicht unterstellen – und vielleicht geben ihre Datensätze ja noch eine Nachfolgeanalyse her. Ich denke, sie haben einfach unbewusst den methodologischen Individualismus absolut gesetzt, nachdem wir alle im Einzelwettbewerb zueinander stehen (und Familien oder Gemeinschaften keine größere Rolle spielen (sollen)).

  3. Geschwister haben – je nach Studie – entweder keinen – oder den umgekehrten Effekt auf Fairness-Verhalten von Kindern.

    Peter Blake (professor of psychology and director of the Social Development & Learning Lab, Boston University) forscht zur Entwicklung pro-sozialen Verhaltens bei Kindern. Er testet die Diskrepanz zwischen selbstberichtetem Altruismus und tatsächlichem Altruismus anhand genau solcher Sticker-sharing-Szenarien und dem Dictator-Game.

    Ergebnisse: In vielen Studien hat das Vorhandensein von Geschwistern keinen Einfluss auf das Sharing-Verhalten.

    “Blake found it interesting that there was no difference in children’s sharing habits when factoring in their gender or birth order, debunking common assumptions that girls are more altruistic than boys or that kids with siblings are better sharers.”

    http://www.bu.edu/bostonia/2013/i-should-but-i-wont/

    In anderen Studien hat das Vorhandensein von Geschwistern hat sogar einen positiven Einfluss – es fördert die Einhaltung pro-sozialer Normen.

    “the number of siblings a child had also predicted a smaller gap between children’s stated norms and what they actually gave. This effect applied specifically to older siblings. The more older siblings children had, the more likely they were to follow the norm for giving. One possible explanation for this effect is that children with older siblings have had more opportunities to engage in allocations and learned to abide by the norms. This experience could lead children to internalize prosocial norms which they then apply to novel circumstances such as the Dictator Game.”

    Blake, “Prosocial norms in the classroom: The role of self-regulation in following norms of giving”, 2014, Journal of Economic Behavior & Organization 115 (2015) 18–29

    Wenn Du hier eine relevante Verzerrung entdeckt haben solltest, dann bestärkt sie sogar sie Schlussfolgerung der Autoren. Etwa so:

    “Obwohl religiös aufgewachsene Kinder mehr Geschwister haben, was laut Untersuchungen das Einhalten pro-sozialen Verhaltens fördern soll, konnte dieser pro-soziale Confounder den anti-sozialen Einfluss der Religion nicht kompensieren.”

    Findest Du Daten, die religionsunabhängig mehr Altruismus bei Einzelkindern zeigen?

    Nebenbei: Ist das Ergebnis wirklich so verwunderlich?
    In den USA kämpfen Liberale für eine pro-soziale Politik des Teilens und Ausgleichs (Obamacare, social benefits) während Konservative , also Religiöse, das strikt ablehnen.

    In D treiben die christlich-konservativen Parteien einen Rückbau des Sozialstaats voran, was am heftigsten von den religionsfernsten Kräften (der Linken) opponiert wird.

    Auch was das Sanktionsverhalten angeht, setzt sich das Studienergebnis in das Erwachsenenalter fort. Konservative, religiöse Menschen befürworten üblicherweise viel harschere Bestrafungen (sogar Todesstrafe) als liberale, nichtreligiöse Menschen. Denen wird oft unrealistischer Idealismus und naiver Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen vorgeworfen.

    • Danke, @Jori Wehner.

      Wie bereits andernorts diskutiert misst auch die von Dir verlinkte Blake-Studie nur das Teilen gegenüber Fremden. Die naheliegende Vermutung, dass Kinder mit (vielen) Geschwistern auch diesen Sticker abgeben, wird weder diskutiert noch erhoben, sondern methodologisch ausgeklammert.

      Alle bisherigen, sozialpsychologischen Befunde deuten darauf hin, dass Religionen die In-Group-Kooperationen stärken. Das individualistisch-anonyme Setting o.g. Studien blendet aber genau “diese” Effekte von vornherein aus…

      • Bezüglich “Teilen gegenüber Fremden”: misst dies nicht viel eher den Grad des Altruismus
        als “In-Group-Kooperation”?

        Wenn die sozialpsychologischen Befunde zeigen, dass Religionen die In-Group-Kooperationen stärken, deutet das für mich nicht unbedingt auf erhöhten Altruismus hin. Man könnte die Befunde sogar dahingehend deuten, dass erhöhter Egoismus vorliegt (denn ich kann nur bei In-Group-Kooperation etwas davon haben, nicht aber bei Out-Group-Kooperation).

        Ihre generelle Argumentation, dass Kinder mit vielen Geschwistern weniger zum Teilen bereit sind (ob nun mit Fremden oder Freunden oder Familienangehörigen), finde ich äußerst kontraintuitiv und scheint ja auch der Blake-Studie zu widersprechen. Wie sieht es denn mit dem zweiten Befund, dem erhöhten Sanktionsverhalten, aus? Würden Sie auch hier argumentieren, dass Kinder mit mehr Geschwistern Sanktionen generell eher befürworten? Auch das fände ich nicht besonders intuitiv. Aber vielleicht gibt es ja auch hierzu Studien?

        Und zuletzt würde mich eine Antwort auf Joris Frage interessieren?

        “Nebenbei: Ist das Ergebnis wirklich so verwunderlich?
        In den USA kämpfen Liberale für eine pro-soziale Politik des Teilens und Ausgleichs (Obamacare, social benefits) während Konservative , also Religiöse, das strikt ablehnen.

        In D treiben die christlich-konservativen Parteien einen Rückbau des Sozialstaats voran, was am heftigsten von den religionsfernsten Kräften (der Linken) opponiert wird.”

        • Hallo @Diana,

          danke für die interessierten Fragen!

          Zunächst vorab: Ich habe ausdrücklich nicht argumentiert, dass Kinder aus kinderreichen Familien weniger teilen – sondern dass sie habituell lernen, ihre Geschwister mit einzubeziehen. Ein fairer Vergleich würde also nicht nur schauen, wie viele Sticker an Fremde gingen – sondern auch an die Familie.

          Inwiefern In-Group-Kooperation “Altruismus” sei, ist natürlich eine Definitionsfrage. Wenn Eltern ihre Kinder versorgen, Nachbarn sich aushelfen oder Menschen andere Menschen unterstützen (auf Kosten z.B. von Rindern), so liegen jeweils verschiedene Modi von “In-Group-Kooperation” vor. Es ist m.E. jedoch methodologisch bedenklich, eine Form dieser Kooperation als “altruistisch” zu werten und andere zu verschweigen.

          Dass Religionsgemeinschaften tendenziell stärker auf Eigenorganisation setzen, Säkulare dagegen auf einen umfassenden Sozialstaat, sehe ich ganz genau so!

          Ich habe das Thema hier auch einmal mit Bezug auf die Amish beschrieben, die nach innen stark kooperieren (z.B. Sammlungen und Barn Raisings), die Einbeziehung in den Bildungs- und Sozialstaat aber entschieden ablehn(t)en…
          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/warum-old-order-amish-sozialstaat/

          Wobei mich das Ganze hier (inkl. der letzten Blogdebatten) gerade auf einen neuen Gedanken bringt: Ob man “Links” und “Rechts” ggf. über verschiedene (In-Group/Out-Group-)Kooperationsstile definieren könnte?

          • Lieber Michael,

            vielen Dank für Ihre Antwort.

            Ich bin nicht überzeugt von Ihrer (meiner Ansicht nach etwas indirekten) Hypothese, dass Kinder automatisch gedanklich/planerisch ihre Geschwister einbeziehen, wenn sie ein Geschenk angeboten bekommen. Gibt es dazu konkrete Hinweise/Studien?

            Ich möchte Ihnen nicht auf die Füße treten, aber für mich ist Ihre Argumentation etwas wackelig, bzw., um es etwas schärfer auszudrücken, weder direkt plausibel (das heißt stärker als die Gegenanahme: Kinder mit mehr Geschwistern sind eher zum Teilen bereit, auch mit fremden Kindern) noch ausreichend gedeckt durch die Literatur.
            Im Kontrast dazu sind Ihre Antworten (nicht nur auf meine Kritik, sondern insbesondere auf die von Jori) recht ausweichend. Sie scheinen mir die Kritiken so umzudrehen, als ob sie mit Ihren Ideen durchaus vereinbar seien. Diese stehen aber im direkten Widerspruch zu den ursprünglichen Aussagen Ihres Beitrags.

            Auch haben Sie noch nicht die Frage beantwortet, wie der zweite wichtige Befund der Studie, das erhöhte Befürworten von Sanktionen bei Religiösen, mit Ihrer Hypothese in Verbindung stehen könnte.

            Um mit etwas Positiven zu enden: der Gedanke, das Unterschiede im In/Out-Group-Verhalten in Verbindung stehen zur politischen Einstellung ist sicherlich richtig.

            Ich würde mich freuen, wenn Sie die Einwände – auch wenn sie vielleicht etwas offensiv sind, aber das tut ja der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sicher nur gut – etwas konkreter behandeln würden.

            Herzlichst,
            Diana

          • Liebe Diana,

            gerne erläutere ich es noch einmal: Wie oben verlinkt türmen sich seit Jahren die empirischen Befunde zu gesteigerter In-Group-Kooperation unter Religiösen verschiedenster Altersstufen (z.B. Studien von Norenzayan, Bering, Sosis… – in Publikationen und Blogposts auch hier umfassend vorgestellt). Auch die deutlich erhöhte Fertilität gehört ja in diesen Kontext.

            Und schließlich erlebe ich auch als Vater von drei Kindern deren Umgang mit “Verteilungskonflikten” täglich – das ist unter Geschwistern ein keinesfalls triviales Alltagsphänomen.

            Die Gemeine-Kinder-Studie schließt aber von vornherein jede Beobachtung von familiärer In-Group-Kooperation aus, sondern definiert Altruismus von vornherein nur als Verteilung an Fremde. Und diese Studie wird dann auch noch medial als Abwertung religiös aufwachsender Kinder kommuniziert. Das ist bestenfalls schlampig und schlimmstenfalls manipulativ. Und auf diesen fatalen Ansatz-Fehler weise ich freundlich hin.

            Zur Frage von “defensiv”: Ja, ich mache leider immer wieder die Erfahrung, dass Menschen gerade auch im Netz einen freundlichen und dialogorientierten Stil als “schwach” missverstehen. Zu Religion(en) hat ja jede(r) seine ganz persönliche Meinung – und die vielen Beschimpfungen und ad hominem-Attacken beschränkter Geister schalte ich inzwischen einfach nicht mehr frei.

            Nein, liebe @Diana – ich empfinde mich nicht als defensiv, habe aber eben als Religionswissenschaftler auch keine Verkündigungs-Agenda. Mir reicht es völlig, Menschen zu informieren und zum Mit-Denken einzuladen, dabei auch selbst immer wieder dazu zu lernen. Selbsternannte Alphamännchen trollen m.E. doch bereits in ausreichender Zahl durch das Netz. Wenn ich unbedingt mal Emotionen ausleben und geschätzt werden will, dann nehme ich mir dafür, bei allem Respekt vor dem Netz, doch lieber Zeit für die Familie. 🙂

  4. noch einen Hinweis: es wurden in der Studie ja auch demographische Daten erhoben, eventuell also auch die Anzahl der Geschwister. Sie könnten doch die Autoren anschreiben und nachfragen, ob diese Daten vorliegen, und wenn ja, ob sie Ihnen diese Daten vielleicht schicken könnten. Dann ließe sich ja Klarheit über Ihre Hypothese schaffen.

    • Ja, das ist (durch @Jori Wehner) auch bereits geschehen. Es wäre tatsächlich überaus spannend zu sehen, ob auch das Teilen-mit-Geschwistern erhoben wurde! Im Studientext findet sich leider nichts dazu…

  5. Mythos Wettbewerb
    Ist bereits jemandem in den Sinn gekommen, daß Menschen nur so tun können, als ob sie Gegner/Feinde wären?
    Glaube ist die Voraussetzung von Wettbewerb, denn es kann nur eine wahre Wahrheit geben. Wissen gibt es jedoch über diese nicht.

    Die Voraussetzung ist tatsächlich das Miteinander, selbst um scheinbar konkurrieren zu können. Wettbewerb ist eine Illusion, an die der Mensch erst glauben muß.

    Zugegeben diese Sicht ist sehr abstrakt, aber erst dann wird verständlich, warum der Mensch sich in seinen Weltbildern verlaufen hat.

  6. In jedem Fall ist die Anzahl der Kinder der sozialen Situation anhängig. Wie heißt das Sprichwort? Bumsen, ist des kleinen Mannes Auto. Demzufolge hat dieser auch eine größere Anzahl von Kindern. Dazu braucht er keine Religion um seinen Trieb auszuleben.

    • @K.-P. Hieke

      Tja, es scheint manchen doch schwer zu fallen, das Thema Demografie sachlich zu bedenken…

      Tatsächlich finden sich kinderreiche Familien häufiger beim unteren – wie auch beim oberen Teil der Einkommensverteilung. Beispiele für häufiger wohlhabende und dennoch kinderreiche Traditionen bilden z.B. Mormonen, konservative (nicht haredische) Juden und einige lutheranische Strömungen.

      Umgekehrt kennt die Forschung bislang keine einzige nichtreligiöse Population – ob arm oder reich – die auch nur ein Jahrhundert die Bestandserhaltungsgrenze von zwei Kindern pro Frau hätte halten können.

      Falls Sie das Thema ernsthaft interessiert, finden Sie zahlreiche Blogposts und Publikationen hier und auf der Homepage. 🙂

  7. Kennt die Forschung denn nichtreligiöse Populationen, die ein Jahrhundert unter der Bestandserhaltungsgrenze von zwei Kindern pro Frau gelebt haben? Wieso sollten sich areligiöse Menschen überhaupt als Population räumlich zusammenschließen? Und ist nicht Atheismus überhaupt ein junges Phänomen?
    Wer sagt überhaupt, dass Kinderreichtum ein Wert an sich ist?

  8. Also Religion steigert Kooperation innerhalb der Gruppe, wer hätts gedacht.
    Die Kinder, später die Erwachsenen, horten erst Sticker, dann Ressourcen und Waffen für die Familie, den Clan, die Sekte, die Ethnie, und teilen eher ungern mit Nichtdazugehörigen.
    Exakt die Sorte Verhalten , die die Menschheit braucht 😀

      • Die Frage ist leicht beantwortet: keine Welt “braucht” intelligente Lebewesen.
        Das lernt man schon aus der Naturgeschichte: die meiste Zeit kam das Leben prima ohne Intelligenz aus. Sogar ohne Mehrzelligkeit.
        Nur pflegt sich die Welt nicht zu dem Thema zu äußern 😉
        Damit man sowas wie ‘Anthropodizee’ für notwendig hält, muss man wohl religiös sein, oder quasi-religiös (grüner Naturkult).
        Ich behaupte mal rotzfrech, dass Empirie zumindest hilfreich bei moralischen Fragen ist.
        In einer Welt mit zunehmender Interdependenz sind Denkweisen, die immer auch zur Ab- und Ausgrenzung benutzt werden, potenziell gefährlich, und sollten in ihrer Wirkmächtigkeit beschränkt werden.

  9. Womöglich kam dieser Absatz nicht soo gut an hier:

    Muslim children judged “interpersonal harm as more mean” than children from Christian families, with non-religious children the least judgmental. Muslim children demanded harsher punishment than those from Christian or non-religious homes. (Guardian, Quelle)

    Was nachvollziehbar wäre.

    Ansonsten muss hier niemand über das Studien-Ergebnis überrascht sein, es ist wohl schon so, dass sich Gruppen nicht gleich verhalten müssen, was “Altruismus” und Bestrafung, also Kultur betrifft.
    Die ‘Alternativhypothese’ drängt sich zumindest nicht direkt für Erklärungszwecke auf, auch wenn die Überlegung, dass Sticker mit anderen vermehrt zu teilen sind, unter den geschilderten Bedingungen, naheliegt; wie dem auch sei, auch dann leidet der “Altruismus” der Testgruppe.

  10. Leider, wie so häufig bei Studien, sind die Rohdaten nicht verfügbar.

    Denn zwei Dinge haben mir beim Testaufbau nicht gefallen:
    – Die Klassengrößen für die verschiedenen Glaubensbekenntnisse sind unterschiedlich groß und dabei relativ klein.
    – Leider wurde keine Varianzanalyse durchgeführt um zu prüfen ob die Stichproben sich untereinander tatsächlich signifikant unterscheiden.

    Was mir positiv aufgefallen ist:
    – Es wurde eine Kovarianzanalyse durchgeführt um zu prüfen ob man Vorhersagen machen kann. Das ist eine starke Aussage allerdings kann aus oben angeführten Gründen ein Bias eingeführt worden sein. Faktoren wie Geschwister wurden dadurch ausgeblendet. Die Varianzanalyse hätte das validieren können. Wurde leider nicht gemacht.
    – Die Vorhersagen gelten angeblich über Kulturgrenzen hinweg. Für mich persönlich eine überraschende Feststellung.

    Wäre interessant ob das noch von einem andere Team überprüft wird.

  11. Die vorgestellte Alternativhypothese ist sehr interessant. Mich würde auch interessieren, ob es die Anzahl der Geschwister einen Einfluss auf den gemessenen Grad von Altruismus gab. Ich bin allerdings kein Fachmann. Ich weiß allerdings, das Current Biology einen sehr strengen review Prozess durchführt. Ich gehe davon aus, dass, wenn diese Frage so offensichtlich ist, wie dies in diesem Beitrag kommuniziert wird, dieser Punkt doch aufgefallen sein sollte. Dieser Artikel sollte Fachleuten präsentiert worden sein, die sich in diesem Gebiet sehr gut auskennen. Wie schon andere Kommenttoren angemerkt haben, gibt es möglicherweise gute Einwände gegen Ihre Gegenhypothese. Wenn man einen einen solchen Angriff fährt, erwartet man doch zumindest Verweise auf wissenschaftlich überprüfte (peer reviewed) Arbeiten. Stattdessen nur Eigenwerbung..

    Schauen Sie doch mal in andere (englischsprachige) Besprechungen des Artikels. Wie kommt es dass dort, dieser Punkt nicht diskutiert wird? Die Frage bleibt für mich offen, aber mir ist etwas unwohl bei Ihrem Beitrag, da für mich nicht klar ist, wie objektiv Sie mit der Arbeit umgehen.

    Zum Artikel selbst: machen Sie den Gegentest! Auch mit einer kleineren Stichprobe (oder versuchen Sie, an die Daten der Autoren zu kommen)! Meine Intuition – aber die zählt nichts, so wie Ihre Vermutung erst einmal nicht zählt: Es gibt eine Interaktion (keinen Haupteffekt, wie Sie vermuten): Religiöse Einzelkinder sind am wenigsten altruistisch, nicht religiöse Kinder mit vielen Geschwistern sind am meisten altruistisch.
    Machen Sie dieses Experiment! Sie könnten es vielleicht ähnlich hoch publizieren. In jedem Fall wäre es dann eine wirkliche Bereicherung in der Wissenschaft.

    • Ja, @Thomas Fester – mich würde auch interessieren, wie es dazu kam, dass “Current Biology” so einen offensichtlichen Faktor übersehen könnte, zumal Kooperation im Nahbereich und Kin Selection doch gerade aus biologischer Perspektive zu erwarten wären!

      Und ja, weitere, empirische Studien werden (gerade jetzt) wohl notwendig sein. Das ist schade, denn schon die Erhebung der Geschwisterzahl zu Beginn und die Frage am Schluss, wieviele Sticker an die Geschwister verteilt würden, hätte die vorliegende Studie zu einem Datenschatz der Kooperations- und Religionsforschung gemacht!

      • Wie gesagt, es kann auch sein, dass der Faktor sehr wohl bedacht, aber schließlich verworfen wurde, weil es für einen Einfluss dieser Variable keine Anhaltspunkte gibt. Die Wortlimits bei Curr Biology sind ja leider recht begrenzt. Man hätte dies natürlich in die Supplementary Materials packen können . Andererseits kann man auch nicht jede Variable kontrollieren und berichten. Anzahl der Geschwister ist ja sicher nicht die einzige Variable, die potentiell interagieren könnte. Die wichtigsten wurden aber meiner Ansicht nach durchaus bedacht. Kurz, ich sehe nicht, warum bei dieser Studie ein offentlicher Fehler gemacht wurde. Die Ergebnisse sind klar und eindeutig, eine vollständige Erklärung der Ergebnisse durch Geschwisteranzahl ist doch eher sehr unwahrscheinlich.

        Was ist denn mit der erhöhten Sanktionszustimmung? Wird die auch durch die Geschwisteranzahl erklärt? Und wenn nein, spricht dies dann nicht auch gegen Ihre Hypothese bzgl Altruismus?

  12. Als Elternteil ist mir bewusst, dass Sie Ihre Kinder positiv darstellen möchten uns ihre Erziehungsmethodik und -entscheidung nicht in Frage gestellt sehen möchten. (Wobei sich mir die Frage stellt, ob es da eine bewusste Entscheidung gibt oder nur eine Selbstverständlichkeit).

    Sie kritisieren die Studie, in dem sie ihr eine unbelegte These, die Geschwisterthese, entgegenstellen. Sie behaupten, Gechwister hätten ein anderes Teilverhalten als Einzelkinder, belegen dies allerdings mit keiner Zeile, keinem Verweis auf eine Studie…

    Hinweise, dass es im Teilverhalten von Geschwistern keine Unterschiede gibt (wie von Jori Wehner) missverstehen Sie.

    In meinen Augen belegen Sie vor allem eine andere Aussage der Studie. Die kognitive Dissonanz der religiösen Eltern aufzeigt, die eher der Meinung sind, ihre Kinder seien empathisch, als die Anderen, obwohl es nicht stimmt.

    • @_Flin_

      Hmm, ich hatte die Studie eigentlich gar nicht zuerst als Elternteil, sondern eben als Religionswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Evolutionsforschung gelesen. Und da findet sich eben seit Jahren der Befund, dass Religiöse im Nah-, nicht aber im Fernbereich stärker kooperieren, zudem im Durchschnitt größere Familien begründen (vgl. Norenzayan, Bering, Sosis, Kaufman u.v.m.). Da ist es schon verblüffend (und traurig), dass eine in “Current Biology” veröffentlichte Studie ausgerechnet die Kooperation im Familienbereich ausblendet, die doch gerade aus evolutionsbiologischer Sicht naheliegen sollte… Und andererseits findet sich der Hinweis, dass die Adressaten der Sticker im Diktatorspiel den “gleichen ethnischen Hintergrund” gehabt hätten, was das ganze Studiendesign noch rätselhafter macht…

      Und, nein, “Hinweise, dass es im Teilverhalten von Geschwistern keine Unterschiede gibt (wie von Jori Wehner [angeführt]) missverstehe” ich nicht – sie sind noch vielschichtig und unsicher. So fand z.B. Ellie Limback in einer Studie zu “Altruismus bei Vorschulkindern”:
      http://ethos.bl.uk/OrderDetails.do?uin=uk.bl.ethos.576485

      “Chapter 3 extends these findings by examining whether adults behave similarly to children and whether the influence of older siblings remains in adulthood. A shift in the influence of siblings was observed, with adults with siblings being more generous than those without siblings, rather than older siblings in particular being beneficial. How these findings further inform models of sibling influence is discussed.”

      Fazit: Schon die Erhebung der Geschwisterzahl zu Beginn und die Frage am Schluss, wieviele der “gewonnenen” Sticker an die Geschwister verteilt würden, hätte die vorliegende Studie zu einem Datenschatz der Kooperations- und Religionsforschung gemacht. Stattdessen wurde geschlampt und wurden schnelle, schmissige Schlagzeilen auf Kosten von Menschengruppen produziert. Als ob es nicht eh genug Mißtrauen gegen vermeintlich unfaire Wissenschaft & Medien gebe… :-/

      • adults with siblings being more generous than those without siblings, rather than older siblings in particular being beneficial.
        Interessant. Ich bin mit 3 jüngeren Geschwistern aufgewachsen und das war manchmal viel Stress, wenn die Nervensägen immer was abhaben wollten. Ich glaub, ich war eher geizig 🙂

          • Wahrscheinlich. Ich war super-geizig gegenüber meinen Geschwistern, und turbo-super-mega-geizig gegenüber den Anderen. Dazu bin ich wohl ein milder Fall von ASD.

  13. Mir fällt noch etwas ein bzw. auf. Die Autoren schreiben:
    “Of additional note is that the sharing of resources was with an anonymous child beneficiary from the same school and similar ethnic group. Therefore, this result cannot be simply explained by in-group versus out-group biases that are known to change children’s cooperative behaviors from an early age, nor by the known fact that religious people tend to be more altruistic toward individuals from their in-group.”
    Ich denke, das kann man so pauschal nicht sagen. Die Kinder kommen alle aus Großstädten, wo es (zumindest in den meisten Ländern) tendenziell eine stärkere Durchmischung von Religionen und Atheisten (oder “Gering”-Gläubigen) gibt. Gerade religiöse Kinder erleben dadurch im Elternhaus vielleicht häufiger Abgrenzungsversuche und lernen so, eher mit Personen aus dem eigenen Religionsumfeld zu interagieren. Für die anonymen anderen Kinder ist aber die Zugehörigkeit zur eigenen Peer-Group damit unklar.

    Außerdem: Das sind noch Kinder. Vielleicht sind religiöse Kinder einfach nur etwas später dran damit, Altruismus zu entwickeln? Und wer sagt denn, dass sich der Effekt nicht im Erwachsenenalter umkehrt?

    • @Jan, passend zu Ihrer letztgenannten Vermutung fand z.B. Ellie Limback in einer Studie zu “Altruismus bei Vorschulkindern”:
      http://ethos.bl.uk/OrderDetails.do?uin=uk.bl.ethos.576485

      “Chapter 3 extends these findings by examining whether adults behave similarly to children and whether the influence of older siblings remains in adulthood. A shift in the influence of siblings was observed, with adults with siblings being more generous than those without siblings, rather than older siblings in particular being beneficial. How these findings further inform models of sibling influence is discussed.”

      Es geht hier eben um ein sehr komplexes Thema – und schon daher verbieten sich Schnellschüsse und Sensationsschlagzeilen darüber, welche Menschengruppen nun “altruistischer” oder “gemeiner” seien. Ein Titel “Schwarze Kinder sind gemeiner als ihre weißen Altersgenossen” wäre doch mutmaßlich auch erstmal kritisch geprüft worden, bevor sie rausgehauen würde. Hier aber wurde im Studiendesign, im Review-Prozess und dann in der sensationsheischenden Berichterstattung eindeutig gepfuscht. Als ob es nicht schon genug Vorbehalte gegen “die Wissenschaft” und “die Medien” gäbe…

  14. @Michael Blume
    Folgt man Ihrer Argumentation, dann wurde wohl auch beim biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter glatt übersehen, dass der Priester und der Levit, die dabei schlecht wegkommen, als religiöse Menschen vermutlich doch viele Geschwister hatten und zu sehr auf ihre In-Group-Kooperation fokussiert waren, um den hilfsbedürftigen Nächsten vor ihren Augen überhaupt wahrzunehmen.

    Vorbildliche In-Group-Kooperation findet man auch bei der Cosa Nostra, der ‘Ndrangheta, der Camorra, oder der Sacra Corona Unita. Als altruistisch gelten diese Organisationen erstaunlicherweise trotzdem nicht.

    • Ja, @Chrys – es gibt sogar eine Reihe von sog. Samaritaner-Experimenten, die genau das aufgezeigt haben (was das Gleichnis ja auch mutig aussagt!): Religiöse kooperieren eben “nicht” besser gegenüber der Out-Group, Religiosität stärkt “nur” die In-Group-Kooperation. Und, ja, auf dieser Basis lassen sich dann Hospitäler oder Universitäten errichten, aber ebenso Menschenopfer oder Terrorgruppen. Religion ist, wie ich seit Jahren wieder und wieder schreibe und lehre, eben “nicht einfach gut”! (Offensichtlich fällt es aber schwer, dieses nicht-binäre Denken zu vermitteln… :-/ )

      Hier z.B. der Abschluss meiner “Homo religiosus”-Titelgeschichte aus Gehirn & Geist in 2009 (!):
      “Doch evolutionärer Nutzen allein ist noch kein Werturteil – Betrügereien oder Aggressionen können biologisch ebenfalls erfolgreich sein, ohne dass wir sie deswegen begrüßen oder auch nur akzeptieren müssen. Und die Beobachtung religiösen Verhaltens zeigt eben auch, dass in besonders engen Gemeinschaften nicht nur Vertrauen und Kooperation zunehmen, sondern genauso die Abgrenzung gegenüber Andersgläubigen und Atheisten, die Ablehnung von Toleranz und Humor und teilweise sogar die Bereitschaft, eigene Interessen gewaltsam durchzusetzen.
      Auch extremistische und kriminelle Gemeinschaften nutzen religiöse Lehren und Rituale, um den inneren Zusammenhalt gegen die Außenwelt zu stärken. Bisweilen werden die Ungleichbehandlung von Frauen und Kindern sowie Freiheitsberaubung, Gewalt, Genitalverstümmelungen und sogar Mord mit dem Hinweis auf religiöse Gebote gerechtfertigt. Und der Reproduktionserfolg religiöser Gemeinschaften kann in Regionen, die unter Überbevölkerung leiden, die Lebensbedingungen noch verschlimmern.
      Statt erbitterte, letztlich fruchtlose Diskussionen darüber zu führen, ob religiöser Glaube insgesamt eher »gut« oder »schlecht« für die Menschheit ist, sollten wir besser nach den richtigen Weichenstellungen fragen, die die positiven Wirkungen von Religionen entfalten und negative Entwicklungen zu überwinden helfen.”

      Kostenloser Download hier: http://www.spektrum.de/magazin/homo-religiosus/982255

      Das war schon vor über 6 Jahren – und dennoch sind die alten Annahmen und Vorurteile offensichtlich nicht totzukriegen… :-/

      • @Michael Blume
        Wenn doch unstrittig ist, dass Altruismus nicht pauschal gegen In-Group-Kooperation aufgerechnet oder gar damit verwechselt werden darf (was auch schon weiter oben schon angesprochen wurde, e.g. Diana, 8. November 2015 12:57), warum sind Sie dann so versessen darauf, den Autoren der Studie jetzt “fatale Fehler” zu unterstellen? Dabei bemängeln Sie, dass In-Group-Kooperation nicht einkalkuliert wurde, was als beabsichtigter Bestandteil des Designs der Studie jedoch gerechtfertigt sein kann, wie Sie andererseits grundsätzlich offenbar selbst bestätigen. Dass die Autoren ihre Studie nicht so angelegt haben, wie Sie es möglicherweise an deren Stelle getan hätten, ist doch noch längst kein fataler Fehler.

        • @Chrys

          Die Autoren nehmen eine sehr spezielle Form der Kooperation als Standard für “den Altruismus” – und blenden alle anderen Formen aus. Darunter jene, die bei den bisherigen Forschungen eine zentrale Rolle gespielt haben und die auch biologisch besonders relevant sind. Das ist sehr schade – und darauf habe ich hingewiesen.

          Unter uns: Wäre es denn wirklich so schwer gewesen, einfach einmal freundlich einzuräumen, dass Sie mir fälschlich eine Position unterstellt haben? Die Online-Umgangsformen sind hart genug, da kann man doch auch mal anerkennend sein, oder?

        • @Michael Blume
          Manches kommt hier vielleicht im Tonfall schärfer rüber, als es beabsichtigt war, speziell wenn etwas kritisiert wird. Ihre Beurteilung der Studie fällt mit der Formulierung “fatale Fehler” ja auch nicht gerade moderat aus. Und einigen hier kommt es wohl so vor, dass Sie dabei ziemlich frei aus der Hüfte geschossen haben.

          Für Kooperation innerhalb sozialer Gemeinschaften gelten andere Regeln als nach aussen, und wer intern kooperiert, tut das vielleicht weniger aus moralischer Gesinnung, sondern vielmehr aus Angst vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung. Zu altruistischem Verhalten lassen sich durch Untersuchung oder Einbezug von In-Group-Kooperation so gut wie keine unstrittigen Statements erhalten, das sehe ich anscheinend ganz ähnlich wie @Diana — und gegebenenfalls die Autoren der Studie.

          Das mag schon sein, dass innerhalb religiöser Gemeinschaften ein Gebot der Nächstenliebe gerne zu einem Gebot der In-Group-Kooperation umgedeutet wird. Dies wäre dann aber gewiss nicht im Geiste des Neuen Testamentes, denn Nächstenliebe wird dort als absolut verstanden und in keiner Weise relativiert. Die ja bereits im Gleichnis vom barmherzigen Samariter angesprochene Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ethischen Verhaltens im Selbstverständnis gelebter Religiosität herauszuarbeiten, halte ich für legitim, und das scheint mir dann auch der intentionale Hintergrund dieser Studie zu sein.

          • Völlig einverstanden, @Chrys! Und wenn man genau diese von Ihnen beschriebenen Zusammenhänge erfasst hat, ist es fatal, eine Studie so zu designen, dass sie die (erwartbaren) Effekte ausblendet.

            Auch Ihre Kritik teile ich übrigens – Religiöse sind keine “besseren Menschen” – insbesondere dann nicht, wenn sie sich selbst dafür halten. Sie sind aber auch nicht pauschal “fieser”. Vielmehr werden wir dann weiterkommen, wenn wir Licht & Schatten (auch) von Religion ernsthaft erforschen und immer besser verstehen. “Schnelle Schlagzeilen” sind manchmal verlockend, aber die echte Suche nach Erkenntnissen trägt weiter (hoffe ich).

            Danke für die gute Debatte!

    • War nicht nett formuliert, werter “Chrys”, oder werte “Chrys”, aber diese Nebensächlichkeit könnte die ‘Alternativhypothese’ so auf den Punkt gebracht haben.
      Old Dr. W hat’s weiter oben freundlicher versucht, wobei unreagiert blieb.

      Herr Dr. Blume war in der Folge ja bereits so freundlich mit Aussagen wie dieser zu ergänzen – ‘Religiöse kooperieren eben “nicht” besser gegenüber der Out-Group, Religiosität stärkt “nur” die In-Group-Kooperation.’ – wobei bessere In-Group-Kooperation letztlich und indirekt auch bessere Out-Group-Kooperation bewirken könnte, irgendwie und indirekt, der Schreiber dieser Zeilen hegt keine Zweifel daran, dass dies möglich sein könnte, irgendwie.
      Diesbezüglich konnte also von Herrn Dr. Blume ergänzt werden.

      MFG
      Dr. W

        • O-Ton, wie von Ihnen, werter Herr Dr. Blume, webverwiesen:

          Der Religionswissenschaftler Michael Blume erklärt in seinem Blog Scilogs, bei der Studie sei ein entscheidender Faktor für die Entscheidung der Kinder, zu teilen oder nicht zu teilen, außer Acht gelassen worden: Die Anzahl der Geschwister. [Hervorhebung: Dr. Webbaer] (Quelle

          Zumindest Sie breiten sich aus, nichts Schlechtes daran, Opa W. hat bekanntlich nichts gegen das Kinder-Kriegen und steht sozialer Destruktivität entgegen (wobei er insbesondere den Neomarxismus für ursächlich erklärt), dennoch ist das Studienergebnis, die Fremdgruppe oder “Fremdgruppe” (es sollte ja irgendwie auch die Eigengruppe sein, unter Schülern und so) betreffend, so wie berichtet vglw. klar, auch wenn in der Eigengruppe vielleicht im Sozialen oder i.p. Altruismus (was immer das auch genau sein mag) kompensiert wird, was dann aber nebensächlich wäre.

          Insgesamt, es klang ja in der hiesigen Kommentatorik schon ein wenig durch oder wurde gar klar benannt, kann ein bestimmtes Ergebnis unter bestimmten Bedingungen zwar relativiert, auch schlecht-gesprochen werden, ändert aber durch diese Relativierung oder Schlecht-Sprechung nichts am Ergebnis.

          Insofern ist ganz fein hinzuschauen, wie die Arbeitenden ihre Arbeit genau erklärt haben, Dritte (“The Guardian”) als Berichtende nicht so-o ernst nehmend.
          Hier erwartet der Schreiber dieser Zeilen dann durchaus auch mögliche Mängel, aus Erfahrung und als Abnehmer derartiger Leistung.

          MFG
          Dr. W

    • Vorbildliche In-Group-Kooperation findet man auch bei der Cosa Nostra, der ‘Ndrangheta, der Camorra, oder der Sacra Corona Unita

      Amen!

      • Genau – stimmt!

        Und nach einigen Definitionen von Altruismus wäre ein Märtyrer oder Selbstmordattentäter perfekt altruistisch…

        Woraus wir lernen: Ernsthafte Religionsforschung bedeutet auch, je eigene Vorurteile zu hinterfragen, deskriptive und normative Annahmen zu unterscheiden.

        Nur Mut! 🙂

  15. Klar ist ein Selbstmordattentäter perfekt altruistisch. Gore Vidal nannte 9-11 “a labor of love”.
    Und zwar zu Recht.

  16. Gerade bemerkt: sie machen einen Kardinalfehler:

    “Denn die Alternativhypothese liegt – zumindest für einen Vater mehrerer Kinder – auf der Hand: Wenn ein Kind mit (vielen) Geschwistern aufgefordert wird, Sticker auszuwählen und dann auch noch über deren Verteilung zu entscheiden, wird dieses Kind mit-kalkulieren (müssen), wie viel an die Brüder und Schwestern abzugeben ist”

    Ihre Alternativhypothese bezieht sich auf die Gründe, warum die religiösen Kinder “egoistischer” handelten. Dafür kann es viele Gründe geben. Der Artikel fokussiert aber darauf, dass nichtreligiöse Kinder altruistischer handeln – im Rahmen des Experimentes. Diese beiden Perspektiven sind nicht einfach nur zwei Seiten der gleichen Medaille. Für das schlechte Abschneiden der religiösen Kinder kann es viele Gründe geben – gerne auch den von Ihnen genannten Grund. Aber wäre Ihre Gegenhypothese wahr: würde das bedeuten, dass religiöse Kinder also doch altruistisch sind? Nach Ihrer Herleitung wäre das nicht der Fall: sie versuchen zu optimieren, vor allem durch das verstärkte in-group-Verhalten:

    “Dies gilt gerade auch für Kinder, denen ein höheres Gerechtigkeitsempfinden attestiert wird und die eine stärkere Orientierung an gesellschaftlichen Regeln bekunden – wie es obenstehend den Kindern aus religiösen Familien (im Durchschnitt) empirisch zugeschrieben wird”

    Also: Ich habe mehr Geschwister, also muss ich mehr Sticker bekommen, als die out-group-kids. Das ist nicht, was man unter Altruismus verbuchen würde.

    Das ist das eine. Das andere, noch einmal, ist ganz einfach der Unterschied zwischen In- und Out-group Verhalten für die Definition von Altruismus. In-group-Verhalten zählt nicht direkt als altruistisches Verhalten. Out-group-Verhalten – und dies wurde in dem Experiment getestet – schon viel eher. Also würde die Aussage des Artikels nicht durch Ihre Gegenhypothese entkräftet.

    Herzlichst,
    Diana

    • @Diana

      Leider kann ich Ihren Ausführungen nicht ganz folgen…

      “Altruismus” ist ein sehr schwammiger Begriff. Die Studie setzt dafür einen sehr beliebigen Maßstab – nämlich das Stickerteilen mit Dritten des “gleichen ethnischen Hintergrunds”. Es schließt andere Stickerverteilungen (z.B. an Geschwister) dagegen aus.

      Das Ergebnis ist ein verzerrter Befund, der dann auch noch medial als Aussage über “fiese (religiöse) Kinder” vermarktet wird.

      Das habe ich aufgezeigt – nicht weniger und nicht mehr. Wie das Bild aussehen würde, wenn auch die Verteilung der Sticker an Geschwister erhoben worden wäre, können wir ja nicht sicher wissen – weil sie eben nicht erhoben wurde… Auf der Basis reiner Spekulationen lassen sich m.E. “Alternativhypothesen” schlecht diskutieren und schon gar nicht entscheiden.

      Herzliche Grüße, Ihnen noch eine schöne Woche!

      • Gut, Ihre Hypothese also: Religiosität war nicht der Grund für den gefundenen Effekt. Der Effekt erklärt sich aus die Anzahl der Geschwister: Je mehr Gesschwister ein Kind hat, desto weniger Sticker will es teilen (warum spielt erst mal keine Rolle. Um mit den Geschwistern zu teilen, ist eine ganz andere Hypothese). Einzelkinder teilen mehr, weil sie keine Geschwister haben, mit denen sie teilen müssten. Soweit korrekt?

        • Nein, @Diana, noch einfacher: Meine Hypothese ist, dass es verschiedene Modi des Teilens gibt – unter Verwandten, unter Freunden, in der Religionsgemeinschaft, unter Landsleuten usw. Der bisherige Forschungsstand zeigt eine höhere Kooperationsbereitschaft von Religiösen im Nah-, nicht aber Fernbereich.

          Die vorliegende Studie erhebt nun aber nur eine sehr spezielle Form (unter Kindern “des gleichen ethnischen Hintergrundes” – warum das denn, wo es doch angeblich um Religion geht?), ignoriert alle anderen (z.B. unter Geschwistern) und erhebt dies auch noch zum Maßstab von “Altruismus”!

          Fatally flawed, this is…

          • Ja, und @Diana versucht Ihnen — leider anscheinend erfolglos — klarzumachen, dass nicht alle Modi des Teilens als uneigennützig gelten können. Wer gewohnheitsmässig erpresst wird und zahlt, teilt auch, aber gewiss nicht aus altruistischen Motiven.

            Es geht den Autoren der Studie eben nicht um Bereitschaft zum Teilen schlechthin, sondern um eine Bereitschaft zum Teilen unter Bedingungen, wo ersichtlich weder Bestrafung zu befürchten noch Belohnung zu erhoffen ist.

          • Und ich versuche – ebenfalls erfolglos – darauf hinzuweisen, dass genau “das” geklärt sein müsste, bevor man über “Altruismus” spricht. Wenn zutrifft, was Sie meinen – warum haben dann die Macher der Studie Wert darauf gelegt, dass die Sticker-Empfänger “den gleichen ethnischen Hintergrund” wie die Geber haben sollten? Warum nicht die gleiche Religionszugehörigkeit, oder einfach zufällige Andere?

            Merken Sie (und @Diana) es! 🙂

          • eigentlich eine seltsame Eingrenzung : “Kinder des gleichen ethnischen Hintergrundes” …

          • Ja, @zabki – wie die Studienmacher selbst andeuten, wurde diese seltsame Vermischung religiöser und ethnischer Kriterien sogar bewusst gewählt, um ein möglichst “schlechtes” Abschneiden religiös geprägter Kinder erreichen und kommunizieren zu können… :-/

          • “Meine Hypothese ist, dass es verschiedene Modi des Teilens gibt – unter Verwandten, unter Freunden, in der Religionsgemeinschaft, unter Landsleuten usw. Der bisherige Forschungsstand zeigt eine höhere Kooperationsbereitschaft von Religiösen im Nah-, nicht aber Fernbereich.”

            Na immerhin verwerfen Sie Ihre Idee, dass die Effekte konfundiert sind durch Geschwisteranzahl. Dass die Studie nur Kooperationsbereitschaft im Fernbereich, nicht aber im Nahbereich untersuchte, und damit einen Bereich ausgeklammert hat, in dem vielleicht ein anderer Effekt beobachtet worden wäre – geschenkt.

          • Warum sollte ich “eine Idee verwerfen”, @Diana? Ich halte es auf Basis der vorliegenden Studien für sehr wahrscheinlich, dass es Zusammenhänge gibt zwischen dem Teilverhalten im Nah- und Fernbereich.

            Wenn Sie unbedingt wollen: Ich gehe davon aus, dass Kinder mit Geschwistern insgesamt mehr Sticker an Geschwister + Dritte verteilt hätten.

            Dies hätte die Studie leicht erheben bzw. überprüfen können, hat sich jedoch – aus Schlampigkeit oder bewusst – stattdessen entschieden, nur das Teilen mit “Kindern des gleichen ethnischen Hintergrundes” zu erheben. Erfreulicherweise setzt nach dem ersten Medien-Hype nun zunehmend eine kritische Diskussion darüber ein, vgl. z.B.:
            http://www.patheos.com/blogs/accordingtomatthew/2015/11/no-atheist-kids-are-not-more-altruistic-than-religious-kids/

            (Übrigens auch hier das Attest – “fatal flaws”!)

          • @ Chrys :

            Es geht den Autoren der Studie eben nicht um Bereitschaft zum Teilen schlechthin, sondern um eine Bereitschaft zum Teilen unter Bedingungen (…)

            So müsste es sein, es handelt sich um eine Versuchsanordnung, die einige Schlüsse erlaubt und andere nicht, der “Altruismus” hätte begrifflich auch zu Hause bleiben können.

            Der Guardian-Artikel mag natürlich unzureichend zusammengefasst haben, der Guardian gilt ja auch nicht als dezidiert um Objektivität bemüht, sondern hat anzunehmenderweise seine kleine Agenda.

            MFG
            Dr. W (der anrät genau in die betrachtete Arbeit zu gehen, sofern dies nicht bereits geschehen ist, natürlich nur)

          • @Michael Blume
            Die Autoren der Studie haben doch etwas dazu geschrieben:

            Of additional note is that the sharing of resources was with an anonymous child beneficiary from the same school and similar ethnic group. Therefore, this result cannot be simply explained by in-group versus out-group biases that are known to change children’s cooperative behaviors from an early age [15], nor by the known fact that religious people tend to be more altruistic toward individuals from their in-group [8, 16].

            Was soll daran so falsch sein?

            @Dr. Webbaer
            Klar, die Fachpublikation ist für ein Fachpublikum geschrieben, journalistische Bearbeitungen wie der Guardian Artikel aber für die sozialpsychologisch Unbedarften. Über die Angemessenheit des Begriffs ‘altruism’ in der Fachpublikation hat im Zweifelsfall dann auch das einschlägige Fachpublikum zu befinden und nicht die Umgangssprecher. Immerhin ist der Terminus fachsprachlicher Herkunft. (Introduced into English by George Henry Lewes in 1853, in his translation Comte’s Philosophy of the Sciences, 1, xxi.)

          • @Chrys

            Nun, damit räumen die Studienmacher sogar ein, dass sie wussten, dass Religiöse zur In-Group “altruistischer” (!) seien – und sie deswegen (!) diese Aspekte gezielt ausblendeten! Um auf dieser Basis ein negatives Werturteil über religiös geprägte Kinder zu kommunizieren!

            Das ist weder wissenschaftlich noch ethisch redlich, das ist schlichtweg manipulativ…

          • @Michael Blume
            Die begriffliche Verwendung von ‘altruism’ im Rahmen der Studie wird von den Autoen spezifiziert als “cost for the donor and benefit for the recipient“. Ein Werturteil über religiös geprägte Kinder treffen die Autoren damit keinesfalls, und zwar ganz unabhängig davon, wie die Befunde ausfallen. Dazu noch zwei Anmerkungen.

            Zum einen ist ‘Altruismus’ auch als wiss. Begriffsbildung nicht unumstritten, wie ein Griff in die google scholar Kiste zeigt. Allein die Evolutionsbiologen haben damit ihre offensichtliche Not, ganz zu schweigen von den Problemen, die eine Verständigung über fachdisziplinäre Grenzen hinweg ohnehin mit sich bringt. Ein herausgegriffenes Beispiel zur Illustration:

            Within evolutionary biology, the term ‘altruism’ is an example of such ambiguity. A common definition describes altruism as behavior that simultaneously entails fitness costs to the behaving individual and fitness benefits to individuals on the receiving end of the behavior [2,3]. Several authors have provided insight into how ambiguity creeps into such a definition [1,4 – 7].

            Kerr, B., Godfrey-Smith, P., & Feldman, M. W. (2004). What is altruism?. Trends in Ecology & Evolution, 19(3), 135-140. [PDF]

            Zum anderen, wo es um Altruismus in Hinblick auf religiöse Gemeinschaften geht, ist es in einer nachgeordneten öffentlichen Diskussion der Befunde praktisch unvermeidlich, dass dies mit Fragen zu religiösen Moralvorstellungen in Verbindung gebracht wird. Es ist auch durchaus plausibel, dass dies für die Autoren eine Motivation zur Durchführung der Studie gewesen sein mag und mithin beabsichtigt war. Hätte man die Angelegenheit dann aber nicht auch genau andersherum medial präsentieren können, nämlich dass die “Ungläubigen” nicht per se moralisch haltlos und suspekt sind, wie es zumal in den USA noch immer gerne und speziell im Bible Belt unterstellt wird? Warum haben Sie die Sache nicht einmal von dieser anderen Seite her zu betrachten versucht?

          • Lieber @Chrys,

            dass die Macher der Studien von Anfang an eine Abwertung ihrer religiös geprägten Probanden (der Kinder und ihrer Eltern) im Sinne hatten, machen sie in den Schlusssätzen sehr deutlich.

            Overall, our findings cast light on the cultural input of religion on prosocial behavior and contradict the common-sense and popular assumption that children from religious households are more altruistic and kind toward others. More generally, they call into question whether religion is vital for moral development, supporting the idea that the secularization of moral discourse will not reduce human kindness—in fact, it will do just the opposite.

            Zu Ihrer Frage, ob “man die Angelegenheit dann aber nicht auch genau andersherum medial präsentieren können, nämlich dass die “Ungläubigen” nicht per se moralisch haltlos und suspekt sind” – darf ich dagegen auf mein aktuelles Interview im diesseits verweisen. 🙂

            Dort sagte ich:

            Bis vor einigen Jahren wurde ja gerne behauptet, dass Religiöse die irgendwie „besseren Menschen“ wären. Seitdem hat eine Vielfalt von Studien – zum Beispiel sogenannte „Samariter-Experimente“ und spieltheoretische Settings – wieder und wieder gezeigt: Religiöse kooperieren zwar im Nahbereich enger, nicht aber im Fernbereich. Und mit In-Group-Kooperation kann man Hospitäler und größere Familien begründen, aber eben auch Abschottung und Terrorzellen. Religion ist also „nicht einfach gut“ und religiöse Menschen sind „nicht besser“ – man muss schon immer im Einzelfall hinschauen. Übrigens ist genau das ja auch die Pointe des Gleichnisses vom barmherzigen Samaritaner: Der vermeintliche Ketzer kann ein Vorbild an Nächstenliebe auch für die Frommen und Priester sein! Das trauen sich auch noch heute die wenigsten Prediger zu sagen…

            http://www.diesseits.de/menschen/interview/1447369200/daran-studie-spektakulaer-gescheitert

            Wenn Sie ehrlich sind, müssten Sie jetzt zugeben, dass ich Ihnen in dieser Diskussion jetzt zum zweiten Mal Aussagen zeigen durfte, mit denen Sie nicht gerechnet haben! 😉

            Ihnen ein schönes Wochenende! 🙂

          • @Michael Blume
            In der Hoffnung auf gnädige Nachsicht sei abschliessend noch angemerkt, dass mir weder in dem Zitat noch sonstwo in der Studie erkennbar wird, dass die Autoren eine Abwertung religiös geprägter Probanden im Sinne hatten. Woran genau machen Sie das denn fest?

            Auch ist mir der eingangs des Blogartikels angeführte Netzwelt-Aufreger (“Wissenschaftler haben herausgefunden (also muss es unbezweifelbar wahr sein), dass religiös aufgezogene Kinder “fieser” seien als Kinder aus säkularen Familien!“) angesichts der Studie absolut nicht nachvollziehbar. Als synonym zu ‘fies’ nennt beispielsweise wiktionary: ekelig, widerlich, unangenehm, unsympathisch, gemein. Dergleichen wird da also angeblich den religiös gepägten Probanden attestiert? Bei nüchterner Betrachtung bleibt mir nur der Eindruck, dass die Netzwelt hier einmal mehr einen Strohmann verdrischt — und Sie dreschen dabei munter mit, leider.

          • @Chrys

            Betrachten Sie bitte einfach die beiden Abschlusssätze der Studie – die implizieren, dass religiöse Menschen ein Hindernis auf dem Weg zur “kindness” und mehr sind…

  17. dann die nächste Frage: wie stark korrelliert denn Religiosität mit Geschwisteranzahl? Ist dieser Faktor stark genug um weitere Varianz aufzuklären?

  18. Pingback:Schnipsel vom 11-11-2015 | scarl

  19. @ Michael Blume

    “dass sie wussten, dass Religiöse zur In-Group “altruistischer” (!) seien – und sie deswegen (!) diese Aspekte gezielt ausblendeten!”

    Ist es nicht eher so: da die Studienmacher das wussten, haben sie von vorneherein nur In-Group-Altruismus untersucht. Die Kinder mussten ja nur mit Kindern der In-Group teilen: “sharing of resources was with an anonymous child beneficiary from the same school and similar ethnic group”.

    Dein Vorwurf an die Macher ist wohl, man müsse noch zwischen In-Group und In-Family differenzieren.

    Habe ich den Rest richtig verstanden?

    Es ist auch für Dich unstrittig, dass Religiosität zu asozialem Verhalten führt; genauer: zu weniger Altruismus außerhalb von Familie oder eigener Glaubensgemeinde. Dies hältst Du für empirisch ausreichend belegt. Es ist nur unklar, ob dies direkt geschieht, durch die religiöse Lehre selbst, oder indirekt, über die größer Anzahl von Kindern in religiösen Familien. Wobei Du Letzteres als das Wahrscheinlichere betrachtest.

    • @Joker – fast! 🙂

      Tatsächlich sehe ich das Problem genau da, wo Du In-Group-Kooperation als “asoziales Verhalten” interpretierst. Nach dieser Logik wäre z.B. ein Politiker dann “altruistisch”, wenn er sich völlig für die Öffentlichkeit verausgabt und dabei seine eigene Familie vernachlässigt. Eine Mutter wäre “asozial”, wenn sie sich für ihre eigenen Kinder mehr Zeit nehmen würde als für beliebige Kinder anderer Mütter. Ein Humanist wäre “asozial”, wenn er sich mit anderen zu einem Verband zusammenschlösse, statt sein Engagement in der ganzen Welt zu verteilen. Und der Schutz von Kartoffelknollen wäre “altruistischer” als der Schutz von Säugetieren – mit letzteren sind wir schließlich enger verwandt.

      Kurz und empirisch: Es gibt verschiedene Modi der Kooperation und sie sind unter verschiedenen Umweltbedingungen auch verschieden erfolgreich. (Was übrigens darauf hindeutet, dass eine Vielfalt (Variation) an Ansätzen auf Dauer adaptiver sein wird als jede starr festgelegte Norm.) Eine bestimmte Definition von “Altruismus” normativ vorzuwerten und diese weltanschaulichen Vorannahmen dann wiederum als empirische Wissenschaft zu verkleiden ist genau der Fehler, mit dem die Macher auch die o.g. Studie verbockt haben…

      • Wobei die frage noch nicht mal gestellt wurde, was wünschenswerter ist:
        – selbstloser Altruismus bis hin zur Selbstaufgabe, immer flankiert von Selbstverleugnung und Selbstbetrug oder
        – ein gepflegter, gesunder, selbstsicher und selbstbewußt gelebter Egoismus, unterfüttert mit Selbstvertrauen?
        Ayn Rand hat diese Frage in “Atlas Shrugged” (dt. “Der Streik”) ziemlich eindeutig und ketzerisch beantwortet…

  20. So, liebe Kommentierende – vielen herzlichen Dank für die lebendige Debatte!

    Auch andere Wissenschaftsblogger haben inzwischen einen kritischen Blick auf die erwähnte Studie geworfen – hier werden sogar in verblüffender Übereinstimmung ebenfalls “fatal flaws” attestiert:
    http://www.patheos.com/blogs/accordingtomatthew/2015/11/no-atheist-kids-are-not-more-altruistic-than-religious-kids/

    Inzwischen hatte auch das humanistische diesseits-Magazin um ein (sehr ausführliches) Interview zur “Gemeine-Kinder-Studie” gebeten:
    http://www.diesseits.de/menschen/interview/1447369200/daran-studie-spektakulaer-gescheitert

    Ich denke, damit wäre dann diese Studie hier wohl auch ausreichend kommentiert und würde diesen Faden aus Zeitgründen gerne schließen. Bis zum nächsten Blogpost gönne ich uns ein paar Tage Pause. – Vielen Dank und ein schönes Wochenende! 🙂

  21. Ich sehe nun nicht, dass die Studie gescheitert wäre. Begründung:

    (1) Der Hinweis auf die vermehrte Anzahl von Geschwistern widerlegt nicht das Studienergebnis, sondern liefert bestenfalls eine evolutionäre Begründung dafür: Bevorzugt unter Geschwistern zu teilen IST eine Form des Egoismus, die man durch Verwandtenselektion begründen kann. Der Titel der Studie lautet doch gerade “”The Negative Association between Religiousness and Children’s Altruism ACROSS THE WORLD” und NICHT “… across the family!”

    (2) Woher willst Du wissen, dass gerade jene religiösen Kinder aus der Studie mehr Geschwister hatten als die a-religiösen aus der Studie?

    (3) Woher willst Du wissen, dass religiöse Kinder Sticker für ihre Geschwister zurückgelegt haben? Dass sie diese mitberücksichtigten, ist doch gar nicht erwiesen.

    (4) Woher willst Du wissen, dass nichtreligiöse Kinder keine Sticker für ihre Geschwister oder engen Freunde zurück gelegt haben?

    Wie mir scheint, wählst Du aus mehreren Möglichkeiten dieser Variablen jene Kombination aus, die für Deine Argumentation am vorteilhaftesten ist – und setzst diese als Prämisse voraus. Das scheint mir nicht zulässig zu sein.

    (5) In der Studie ging es noch um ganz andere Aspekte, beispielsweise um die (In-) Toleranz gegenüber menschlichen Verfehlungen. Hier zeigte sich ebenfalls, dass Religiöse intoleranter zu sein scheinen und schneller mal die Todesstrafe fordern als Nicht-Religiöse.

    • @Martin Neukamm

      Im Interview habe ich mich ja ausführlich geäußert. Die Studie war gezielt so designed, um Religiöse abzuwerten – und hat deswegen auf die Prüfung von Alternativen verzichtet, die sehr leicht möglich gewesen wäre. Das kostet nun Jahre… :-/ #GescheiterteStudie

      Und bitte beachte, dass ich diesen Thread bereits geschlossen habe – wollte Dich jetzt aber nicht löschen…

  22. Nicht jede Form von sogenannter Christlichkeit fördert die Menschlichkeit: Dazu eine Beobachtung meiner kürzlich im Alter von 92 Jahren verstorbenen Mutter, die eine überaus gläubige Frau war: Vor einigen Jahren erzählte sie bei Exerzitien dem Exerzitien-Leiter, dass sie vor gut 60 Jahren in ein kleines landwirtschaftliches Anwesen eingeheiratet hatte, bei dem 8 Nachbarn mit ihren Grundstücken an das eigene Grundstück stießen – und zwischen diesen Nachbarn gab es jede Menge Feindschaften, Gehässigkeiten, Geschimpfe und üble Nachreden – aber am Sonntag gingen fast alle in die Kirche. In der heutigen Generation geht fast niemand mehr in die Kirche, aber die alten Feindschaften sind alle verschwunden. Die junge Generation ist überall freundlich und nachbarschaftlich hilfsbereit!
    Der Exerzitien-Leiter war etwas ratlos; deshalb wohl erzählte meine Mutter dies dann auch ihren (erwachsenen) Kindern.
    Ich sagte ihr: „Ich glaube, dass ich die Ursache kenne:
    – Die Verteufelung von Gefühlen wie Zorn und erotischen und sexuellen Gefühlen in der Kirche (war alles Sünde) führte zu einer ungesunden Gefühlsverdrängung, dann suchen sich die Gefühle unkontrollierte Wege, die oft in Form von Neid, Eifersucht und Aggressionen zum Vorschein kommen.
    – Die Verdrängung wichtiger Gefühle führt zu Minderwertigkeitsgefühlen, weil die innere Orientierung und der innere Friede dadurch beschädigt und verhindert wird. Auch dies kann Neid, Eifersucht und Aggressionen auslösen.
    – Zudem haben wir früher alle in der Beichtvorbereitung gelernt, dass Streit Sünde ist, deshalb lernten wir nicht, konstruktiv zu streiten und zu kritisieren. Dadurch wurden Meinungsunterschiede und Interessenskonflikte entweder unterdrückt oder destruktiv ausgetragen.
    Die junge Generation hat da enorm dazugelernt – aber meist nicht durch die Kirche; denn in der Katholischen Glaubenslehre scheinen die Erkenntnisse der Psychologie kaum eine Rolle zu spielen. Ja, bei nicht wenigen Gläubigen beobachte ich als Seelsorger eher eine Abwehrhaltung gegen eine Zurkenntnisnahme psychologischer Informationen.
    Deshalb wäre dringend eine neue Enzyklika notwendig mit dem Untertitel „Die Sorge um unser inneres Haus“.

  23. Was ist eigentlich der Kern der ganzen Debatte? Es gibt Menschen auf der Welt, die an eine Schöpfung glauben, warum auch immer. Diese Menschen organisieren sich in Hunderten von Religionsgemeinschaften, die alle für sich in Anspruch nehmen, recht zu haben.Diese Relionsgemeinschaften “bekriegen” sich (je nach Zivilisationsgrad oder Totalitarionsgrad) verbal, mit Waffen, immer aber mit moralischen Ansprüchen. Ein evolutionärer Humanist mit einer ethischen Grundhaltung ist immer wieder bereit, sich und seine Schlussfolgerungen in Frage zu stellen un stellen zu lassen. So wird er/sie auch seine/ihre Kinder erziehen. Das ist das Gegenteil von In-Group-Kooperationsdenken. Ich habe die Gesellschaft im Blick und nicht meine In-Group. Was immer die Methodik der Studie betrifft, die Ergebnisse sind logisch.

  24. Pingback:Religion - gut oder schlecht? - 92 - Forumla.de

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