Sind die USA noch eine Demokratie? Und warum ist das ein griechischer Begriff?

Heute endete eine Mastodon-Umfrage, zu der 379 Accounts abgestimmt hatten und die weiterhin für rege Fediversum-Dialoge sorgt. Ich hatte gestern (am 21.02.2025) gefragt:

Gibt ja gerade einige Begriffsverwirrung, daher die Frage: Sind die USA nach Deiner Wahrnehmung noch eine rechtsstaatliche Demokratie oder schon eine neo-faschistische Thymokratie / fossile Diktatur?

Nur noch 3 Prozent der Befragten hielten die Vereinigten Staaten von Amerika für eine Demokratie. 37% sehen in ihr bereits eine oligarchische Thymokratie oder Diktatur. Die absolute Mehrheit von 58% sieht sie “im Übergang”.

Mastodon-Umfrage von Dr. Michael Blume vom 21.02.2025 zur Frage, ob die USA noch eine Demokratie oder schon eine Thymokratie sind.Eine Mastodon-Umfrage zur derzeitigen Staatsform in den USA, 21.02.2025. Screenshot: Michael Blume

Selbstverständlich können wir diese spannende Frage auch hier weiter diskutieren, doch da ich immer wieder zu Begriffsarbeit und sog. “Fremdwörtern” gefragt werde, möchte auch eine andere dazu aufwerfen:

Warum verwenden wir für moderne Regierungssysteme eigentlich noch immer vor allem Begriffe der griechischen Philosophie?

So bedeutet Demokratie auf griechisch eigentlich Volksherrschaft. Der große Begründer der Dialog-Philosophie, Sokrates, wurde von einer demokratischen Versammlung von Männern knapp zum Tode verurteilt. Allgemeine Menschenrechte oder eine Gewaltenteilung mit der Unterscheidung von Regierung (Exekutive), Parlament (Legislative), Justiz (Judikative) und Medien (Publikative) gab es damals noch kaum. Nach diesem Demokratie-Verständnis der griechischen Klassik wären die USA noch eindeutig eine Demokratie, schließlich hatte das Volk Donald Trump gewählt. Fast alle großen Philosophen der Antike lehnten daher die Demokratie als Verfallsform oder Pöbelherrschaft ab. Und offensichtlich finden auch die allermeisten Heutigen, dass Wahlen und Abstimmungen ohne Menschenrechte und Gewaltenteilung keine echte Demokratie ergeben.

Auch der Begriff der Politik selbst wie auch Tyrannei (Herrschaft eines Tyrannen, Gewaltherrschers), Monarchie (Herrschaft eines Königs), Oligarchie (Herrschaft der Wenigen), Aristokratie (Herrschaft der Edelgeborenen), Timokratie (Herrschaft durch Geld) oder eben Thymokratie (Herrschaft durch Internet) wurden und werden aus der griechischen Klassik abgeleitet.

Einige weitere Begriffe leiten sich aus der römischen Staatslehre ab, wie etwa Republik (von lateinisch res publica = öffentliche Angelegenheit), Kaiser, Zar (von Cäsar), Faschismus (aus lateinisch Fasces = Rutenbündel) oder Diktator (Alleinherrscher). Auch hier haben enorme Veränderungen stattgefunden – so bejahte die Römische Republik die Sklavenhaltung und die Todesstrafe durch Kreuzigung. Ein moderner Faschismus mit elektronischen oder gar digitalen Medien konnte dagegen erst im 20. und 21. Jahrhundert entstehen.

Eine Frau steht mit zwei weißen Bechern vor zwei Gemälden: Links Sokrates vor dem Trinken des Schierlingsbechers, rechts römische Legionäre vor drei aufgerichteten Kreuzen.Links nimmt Sokrates den Schierlingsbecher mit tödlichem Gift, rechts stehen vier römische Legionäre vor aufgerichteten Kreuzen. In der Mitte eine Frau, denen sowohl in den frühen Demokratien wie Republiken die Mitbestimmung versagt blieb. Michael Blume mit Leonardo.ai, Juni 2024

Die Antwort: Die Medienpsychologie der vollvokalisierten, jafetitischen Alphabete

Während meiner Doktorarbeit zu Religion & Hirnforschung (der damals sog. Neurotheologie) war ich auf eine faszinierende Erklärung des Neuropsychologen Detlef Linke (1945 – 2005) gestoßen. Diese fand ich seitdem vielfach bestätigt u.a. in Arbeiten des kanadischen Medienwissenschaftlers Derrick de Kerckhove.

Demnach wirke sich die vollvokalisierte, nach dem Noahsohn Jafet benannte Alphabet-Tradition in der psychologischen Wirkung bis hinein in die Schriftrichtung völlig anders aus als die vokalarme Alphabet-Tradition nach dessen Bruder Sem. Knapp gesagt begünstigen jafetitische Alphabete wie Griechisch und Latein Definitionen (Begriffe), semitische Alphabete wie Hebräisch und Arabisch Narrative (Geschichten). Weitere Auswirkungen betreffen die Haltung zu Bildern und Musik (semitische Alphabete: Nein, jafetitische: Ja) oder die Länge der Glaubensbekenntnisse (semitische Alphabete: kurz, jafetitische: lang) usw.

Nach meiner Auffassung am Schönsten beschrieb dies bisher der große Philosoph und Religionsgelehrte Lord Rabbi Jonathan Sacks (1948 – 2020) in seinem Buch “The Great Partnership. God, Science and the Search for Meaning”, Hodder & Stoughton 2011. Ich übersetze im Folgenden je einen Absatz der Seiten 40, 41 und 44:

“Ich beginne mit dem, was für mich der “Heureka”-Moment war. Es war eine Entdeckung von vermeintlich belangloser Trivialität, aber es entzündete ein Netzwerk neuraler Verbindungen, von denen ich einige in diesem Kapitel erkläre. Es war der Hinweis, der alle anderen entschlüsselte. Die Entdeckung war diese: Alphabete ohne Vokale, wie Hebräisch oder Arabisch, werden von rechts nach links geschrieben; Alphabete mit Vokalen, wie Englisch, werden von links nach rechts geschrieben.” (S. 40)

“So kann eine Schriftsprache mit Vokalen, in der die Worte einzeln verstanden werden können, in der linken Gehirnhälfte verarbeitet werden. Wir lesen diese Sprachen von links nach rechts, unseren Kopf nach rechts drehend, die linke Gehirnhälfte beanspruchend. Schriftsprachen ohne Vokale stellen Anforderungen an die Kontext-verständigen, integrativen Funktionen der rechten Gehirnhälfte, also lesen wir sie von rechts nach links, unseren Kopf nach links drehend  und die rechte Gehirnhälfte beanspruchend.” (S. 41)

“Es ist unmöglich, die Bedeutung von all dem für die Entwicklung der westlichen Zivilisation zu überschätzen. Wir verdanken nahezu alle unserer abstrakten Konzepte den Griechen. Die Hebräische Bibel weiß nichts von solchen Ideen. Es gibt dort eine Schöpfungsgeschichte – tatsächlich mehr als eine – aber keine theoretische Diskussion darüber, welche die Basis-Elemente des Universums sind. Es gibt dort eine faszinierende Geschichte über die Geburt der Monarchie in Israel, aber keine Diskussion wie bei Platon oder Aristoteles, über die vergleichenden Verdienste von Monarchie gegenüber Aristokratie oder Demokratie.” (S. 44)

Fazit: Wir führen eine Regierungsform-Diskussion in jafetitischen Alphabetschriften, mit Stärken und Schwächen

Was “Demokratie”, “Oligarchie” oder eben “Thymokratie” bedeuten, können und sollen wir uns über Texte und Bilder erschließen. Aber keine dieser Definitionen kann jemals endgültig sein, da sich Begriffe immer wieder durch neue Geschichten und Auslegungen verändern. Deswegen macht es Sinn, bei jedem Begriff auch auf die Geschichte und die Geschichten zu schauen.

Demokratie bedeutete vor zweieinhalbtausend Jahren etwas Anderes als heute – und wird auch in Zukunft seine Bedeutung verändern. Wir finden Wahrheit nicht in einer vermeintlich ewigen Vergangenheit platonistischer Ideen, sondern in der gemeinsamen Zukunft von zwischenmenschlichem und interdisziplinärem Dialog. Gerade auch in diesen international aufgeregten Tagen zwischen Logos (Vernunft) und Thymos (Statuswillen, Empörungssucht).

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

14 Kommentare

  1. Was nach heutiger Auffassung eine Republik und Demokratie ausmacht unterscheidet sich deutlich von der Auffassung der Griechen. Das liest man ja auch hier. Bei den alten Griechen war ein starker Treiber für die Demokratie der bei den Griechen weit verbreitete Glauben an den freien, autonomen Bürger, der sich die Gesetze selbst gibt und der anstatt an den Willen des Herrschers an den Willen der Gesetze gebunden ist. Das ist tatsächlich heute noch genau so wichtig wie damals. Nur genügt dieser Wunsch nach Autonomie nicht um eine Demokratie aufrechtzuerhalten. John Locke und Baron de Montesquieu erkannten beide, dass es eine Tendenz in jeder Machtausübung gibt, die Macht auszudehnen und immer mehr bestimmen zu wollen. In einer direkten Demokratie mit Ämterrotation wie im alten Athen war der Machtausdehnung allerdings Grenzen gesetzt, doch in einer repräsentativen Demokratie ist es nicht mehr so und der für einige Jahre gewählte und eingesetzte Repräsentant des Volkes hat genügend Zeit um das System in seinem Sinne umzuformen. Es braucht deshalb Macht, um die Macht zu kontrollieren und es braucht eine im System verankerte Begrenzung des Machtbereichs im Sinne einer Gewaltenteilung in Exekutive, Judikative und Legislative. Montesquieu war zudem ein starker Befürworter eines Föderalismus und eines 2-Kammersystems. Der Föderalismus sollte eine zentralistische Einheitsgewalt verhindern und das 2-Kammersystem sollte unterschiedliche Perspektiven einbringen.
    Trump und die US-Demokratie: Die Gewaltenteilung ist auch unter Trump noch vorhanden, wenn auch vielleicht etwas geschwächt durch politische Wahlen der obersten Richter. Eine dauerhafte Veränderung des politischen US-Systems durch den aktuellen US-Präsidenten ist am ehesten durch die strikte Amtszeitbeschränkung erschwert. Diese Amtszeitbeschränkung kann Trump nicht selbst aufheben ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren. Donald Trump ist seinem Wesen nach kein Demokrat, doch auch Donald Trumps Regierungsperiode ist beschränkt und läuft unerbittlich ab.

    • Lieben Dank, @Martin Holzherr 🙏

      Ich finde, Sie haben gut geschildert, wie sich der Begriff der Demokratie mit den jafetitischen, also vollvokalisierten Alphabeten Europas verbreitet und immer wieder verändert hat. Unser heutiges Verständnis von gewaltenteiliger Demokratie und Bundes-Republik ist weit von ihren Wurzeln, also von der griechischen Philosophie und römischen Staatslehre entfernt.

      Genau deswegen finde ich es wichtig, einerseits die medienpsychologische Wirkung der verschiedenen Alphabete und andererseits die Begriffsgeschichte zu verstehen. Dann können wir bewusst und erkenntnisfördernd die alten Debatten beispielsweise zwischen Vernunft (Logos) und Identitätspolitik (Thymos) in unserer Zeit besser verstehen.

  2. Guten Abend @Michael,

    Vielen Dank für das reinstellen der Ergebnisse!

    Sind dann Begriffe nicht einfach von dem selben stätigen Änderungsprozess betroffen wie alle anderen Dinge? Somit wandeln sich Worte und ihre Bedeutung und was man damit meint im Laufe der Zeit. Auch auf die Kritik, mit Fremdwörtern die unteren Bildungsschichten nicht zu erreichen (war glaube ich bei einem Kommentar Thema war) ist meines Erachtens Blödsinn. Ja, manche Begriffe sind nicht geläufig, aber jedes Wort definiert einfach einen Zustand oder ein Ding, einfach ein Code für irgendetwas eben. Es gibt eben den feinen Unterschied, Worte geläufig zu machen oder sich mit einer abgehobenen Sprache von anderen zu distanzieren. So wie eben Anglizismen eben auch nur von einer gewissen Gruppe vielleicht verstanden wird(oder so tun als würden sie es). Gerade beim lesen erfahrt man einen Haufen neuer Begriffe, dank dem Internet kann ich jeden begriff nachschlagen und schnell erfassen was damit gemeint ist.
    Ich würde also meinen das es einfach nicht zutrifft. In einer Wissenschaftswirtschaft ist jeder und jede mit Wissen ausgestattet. Wer da auf Bildungsschichten verweist spielt da eher eine Pseudo Kritik.
    Meines Erachtens, wohlgemerkt.

    Zu der Demokratie der USA: Man sollte vielleicht einfach dazu sagen, das die USA ohnehin nie als vollwertige Demokratie gekennzeichnet waren. Da Präsidiale Republiken auf das gewählte Oberhaupt viel Macht fokussieren sind sie immer etwas undemokratisch. Witzigerweise stehen gerade Parlamentarische Monarchien an erster stelle beim Demokratie Index. Steile Sache.
    Dazu kommt das zwei Parteien System, der gewaltige Einfluss von Gedankenschmieden von Konzernen und deren Geldflüsse für die Parteien. Dazu eben der Wahltermin am Dienstag, wo eben gewisse Arbeitergruppen erschwert wählen können. Die USA hatten immer schon einen starken Geldadel, eben nur in Schach gehalten von einer riesigem Juristen Apparat und der Bürgerrechtsbewegungen.

    Scheinbar ähneln sich die Wirtschaftlichen Ausrichtungen der USA und Chinas in gewisser weise sehr stark und vielleicht ist das auch der Weg den die USA einschlagen wird. Eine Mischung aus Oligarchie und Ideologischen Gedanken Aufbau.

    Soweit meine Gedanken dazu.

    Viel Glück morgen bei der Wahl in Deutschland 🙂

    • Vielen lieben Dank, @Berthold 🤓👍

      Ja, mir sagt am Wort „Begriff“ – das Zu-Be-Greifende – stärker als bei „Definition“ – das Zu-Be-Grenzende – die Dynamik zu. Weder jafetitisch- noch semitisch-alphabetisierte Worte bleiben in ihrer Bedeutung und ihren Begriffsnetzen stabil. Deswegen stören mich auch kritische Nachfragen wenig – schlimmer ist es, wenn es gar keinen Dialog mehr gibt und die Sprachtraditionen völlig auseinander treiben. Diese Gefahr sehe ich gerade auch im politischen Bereich, vgl. die Bedeutungen „liberal“ je im Deutschen und Englischen.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/begriffsarbeit-in-der-stz-andreas-geldner-zu-liberalismus-versus-libertarismus/

      Ebenso macht es medien- und religionspsychologisch selbstverständlich riesige Unterschiede, ob jemand die semitisch-alphabetisierten Schriften von Tora oder Koran liest, oder aber eine jafetitisch alphabetisierte Bibel. Sehr viel auch religiöse Erfahrung, Haltung gegenüber Bildern und Musik, Auslegungen, Denk- und Sehgewohnheiten ergeben sich aus den Alphabet-Traditionen. Gerade auch in den oft aufgeregten Debatten um Tagespolitik wäre mehr Medienwissen nach meiner Einschätzung wertvoll! 🤔💡

      Danke für Dein starkes Interesse!

      • Guten Morgen @Michael,

        Eine neue Sprache lernen heißt ja auch, neu denken zu lernen. So gibt es ja auch Sprachen die ohne Begriffe wie Rechts und Links auskommen, was ja bei unserer Sprache wiederum eine sehr steile Umänderung wäre.
        Und da Lesen das denken eines anderen Menschen wiederum vermittelt müsste das nicht ein ganz schönes Neuronen Feuerwerk auslösen?

        Mir kommt da noch eine Frage, aufgrund von Dialekten, klein sprächen usw.
        Dank der großen Vernetzung ist jeder Mensch in direkter Nachbarschaft zu mir, solange er die Technologie dafür benutzt. Durch Medien wird damit viel Wissen verbreitet aber eben auch vereinheitlicht. Wie sehr hängen eigentlich Ideen und Entdeckungen auch mit der Sprachvielfalt zusammen wo durch gegenseitig Befruchtung ein intensiverer Erkenntnisstand entsteht. Oder ist das vielleicht gar nicht auschlaggebend?

  3. Die Perspektive der Schriftrichtung mit der unterschiedlichen Ausformung des Zugangs zur Welt finde ich sehr überzeugend. D.h. sie hilft mir als jemand, der sich immer wieder mit Texten auseinander setzen muss, die ursprünglich mit einer anderen Schriftrichtung gelesen wurden, sich zurecht zu finden. Denn zeigt sich beim Umgang mit diesen Texten, dass es die Filter von Begriffen und Konzepten dort so nicht gibt, gleichzeitig, diese aber das eigene Denken ja formen.

    Die bewusste Aktivierung beider Gehirnhälften, um sich ganz auf die Wirklichkeit einzulassen, ist natürlich immer erstrebenswert.

    Für das Miteinander braucht es gleichzeitig eine Vergewisserung, ob Begriffe ähnlich gefüllt sind (so würde es für uns passen), oder ob wir eine kompatible Geschichte erzählen.

    Je nach Füllung des Begriffs Demokratie stimmt Mensch bei einer Umfrage, wie der, die hier zitiert wird, natürlich auch anders ab.

    Vermutlich kann man hier ja auch Fragen loswerden.
    Gibt es übrigens vergleichbare Überlegungen / Forschungen zu anderen Schriftsystemen? Wir sind ja in Kontakt mit China oder Japan und dort ist das System ja sehr anders. Würde mich schon interessieren, auch um manche Unterschiede in den Mentalitäten vielleicht besser einordnen zu können.

    Inhaltlich wundert mich etwas die Rahmung von Thymos. Wenn ich dazu die Begrifflichkeit in der Wikipedia nachschlage, wird diese Begrifflichkeit dort gefühlt offener gefüllt, als bei mir die Beschreibung Empörungssucht ankommt.

    Mich haben für meine Weltdeutung die Überlegungen von Victor Turner in seinem Buch ,The Ritual Process’ inspiriert, der darauf hinweist, dass es in vielen Kulturen Übergangsriten gibt, die das Statusdenken aufbrechen, als Communitas – Antistructure. In den Zeiten der Communitas erleben sich die Menschen als lebendig – miteinander auf Augenhöhe unterwegs. Viele Freundschaften, so kann ich immer wieder in meinem Umfeld beobachten, haben in solchen Erfahrungen ihren Ursprung.

    Außerhalb dieser Ausrichtung entsteht dann wie von selbst eine Struktur, ein gefühltes Oben und Unten – und hier wird ja der Anteil im Menschen eine Rolle spielen, den der Begriff Thymos beschreibt.

    Oder gibt es einen anderen Begriff, der nicht als Empörungssucht spürbar negativ gerahmt ist, der diese Tendenz zu einer Strukturierung des Miteinanders beschreibt?

    • Vielen lieben Dank, @HG Unckell 🙏

      Klar ist auch das Begriffspaar Logos und Thymos über die Zeit sehr unterschiedlich ausgedeutet worden. Ich versuche die positiven Assoziationen wie Mut und Standhaftigkeit mit „Statuswillen“ zu übersetzen. Aber insbesondere das autoritäre Streben nach Überlegenheit – nach Fukuyama die Megalothymia – wirkt sich außerhalb vom geregelten Sport doch meist destruktiv aus.

      Zu den Schriften und Schriftrichtungen gibt es zunehmend Forschungen, zumal die medienpsychologischen Wirkungen verschiedenster Medien zunehmend offensichtlich werden. Bei den semiotischen Alphabeten, besonders dem Hebräischen, entfaltet sich jeweils ein Netz aus Wortvarianten, die dann wiederum etwa den Talmud oder Bücher von Sacks bereicherten.

      Wir können eine Annäherung an die narrativen Möglichkeiten vokalarmer Alphabete etwa am Konsonantenwort „Wrt“ nachvollziehen. Es könnte je nach Vokalen Wert, Wirt, Wort, Warte, Werte usw. bedeuten. Sowohl das fokussierte Lesen, bis in die Trance bei Tora oder Koran, wie auch das Hervortreten immer wieder neuer Varianten und Geschichten werden dann sichtbar, mitunter gar erfahrbar.

      Hrzlchn Dnk fr hr ntrsse! 🤓📚🙌

  4. Demokratie in USA besteht nicht nur daraus, dass der Präsident in einer freien und geheimen Wahl bestimmt wurde. Wobei es wohl durchaus bei dieser Wahl Einschüchterung und sonstige Hemmnisse gegeben haben soll.

    Das Volk hat in jeder demokratischen Gesellschaft nicht nur ein Wahlrecht, sondern auch die Pflicht für die Demokratie einzustehen. Aber Donald Trump äußerte im Wahlkampf unter dem Jubel seiner treuen Anhänger, dass sie nur noch dieses Mal wählen müssten. Das zeigt mir, dass das Prinzip der Demokratie heute nicht verstanden wird.

    Der amerikanische Präsident sieht sich selbst als König. Sie erwähnten die Staatsform der Monarchie. Es gibt diese auch heute noch, aber im Sinne einer konstitutionellen Monarchie. Auch die Menschen in Spanien oder im Vereinten Königreich bestimmen in demokratischen Wahlen, wer regieren soll. König Felipe VI. ist Staatsoberhaupt, ebenso wie Charles III., womit jedoch mW hauptsächlich Repräsentationsaufgaben verbunden sind.

    Für die Zukunft der Demokratie in USA wird sehr viel davon abhängen, ob es größere Proteste geben wird. Drohungen und Einschüchterung gegen Politiker und Journalisten durch Musk und Trump könnten eine abschreckende Wirkung haben.

    Wir haben morgen die Gelegenheit, über die Zusammensetzung des nächsten dt. Bundestages zu bestimmen.

    • Ja, @Marie H. – ich teile die Befürchtung um die womöglich irreparablen Eingriffe der Regierung Trump gegen die gewaltenteilige Demokratie. Und ich hoffe, dass sich aus den morgigen Bundestagswahlen stabile Mehrheiten ergeben und dass diese auch nicht wiederholt werden müssen.

      Denn wir alle sehen doch, wie zerbrechlich unsere Systeme sind, nicht nur in den Amerikas…

      • Auch ich wünsche mir eine stabile Mehrheit für die demokratischen Parteien.

        Die einzige stabile Mehrheit, die ich aufgrund der Umfragen sehe, gefällt mir nicht.

        Wir müssen damit rechnen, dass auf den Wahlsieger besonders starker Druck aus USA ausgeübt werden wird, genau diese Koalition einzugehen, die ich fürchte.

        • Ja, @Marie H. – auch mir gefallen die demoskopischen Umfragen und begleitenden Medienkampagnen derzeit nicht, zumal sie das Scheitern medialer und politischer Thymotisierungen zu unterstreichen scheinen.

          Andererseits bin ich froh und erleichtert, dass auch die österreichische ÖVP erkannt hat, wohin eine Koalition mit der FPÖ geführt hätte. Ein austrofaschistischer „Volkskanzler“ bleibt unserem Nachbarland und der Europäischen Union vorerst erspart.

          https://sueden.social/@BlumeEvolution/113992150653434631

          Und ich selbst habe mich ja bereits öffentlich und klar gegen jede Form der Zusammenarbeit mit nichtdemokratischen Kräften gestellt. Sie dürfen mir und vielen anderen schon vertrauen, dass wir meinen, was wir sagen. Wir sind keine Lemminge.

          Nun nehmen wir alle heute unsere demokratische Verantwortung konstruktiv wahr und beobachten die Parlaments- und Regierungsbildung aufmerksam, aber auch besonnen. Unsere gewaltenteilige Demokratie ist weiterhin intakt und die digitale Thymokratie in den USA trifft sogar an den Börsen bereits auf wachsende Skepsis.

          Ihnen Dank und herzliche Grüße 🖖

  5. Guten Morgen,
    Ich gehe heute demokratisch wählen.

    Ich hoffe sehr, dass es eine demokratische Koalition der Mitte geben wird, die in der Lage sein muss, Kompromisse zu finden.

    Ich hoffe sehr, dass das zuletzt im Wahlkampf laut vorherrschende populistische Getöse endlich aufhört.

    Ich hoffe sehr, dass sich nach dieser Wahl Menschen mit einem Migrationshintergrund wieder etwas sicherer fühlen.

    Ich hoffe sehr, dass der Klimaschutz wieder einen Stellenwert in der Politik bekommt, der im Wahlkampf verloren gegangen war.

    Ich hoffe sehr, dass unsere Demokratie durch diese Wahl gestärkt wird.

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