Rückzug oder Kreuzzug? Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus

Mit erschöpfter Stimme und – glücklicherweise – einem warmen, blauen Schal der liberalen, jüdischen Gemeinde stieg ich gestern in den Zug von Freiburg nach Hause. Einen Tag lang hatte ich mit meinem Lektor Burkhard Menke und Rainer Lenz von “Acoustic Media” die Hörbuch-Version von “Rückzug oder Kreuzzug? Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus” eingesprochen, die nach der Erscheinung der Papier- und eBook-Version am 2.11.2021 im Frühjahr 2022 erscheinen soll. Mit ihr schließt die Religionen-Trilogie zur Krise des Islams und zur Entstehung des semitischen Judentums nun mit einem Band zur Gegenwart und Zukunft des Glaubens an Jesus als Sohn Gottes. Ich hatte den langen Text bis zur Erschöpfung von einem pdf-Reader gelesen, weil ich der (vielleicht romantischen, falschen?) Auffassung bin, dass Sachbücher nach Möglichkeit vom Autor oder Autorin selbst eingesprochen werden sollten. Und selbstverständlich hatten wir beim Lesen auch wieder einen klassischen Erstausgabe-Fehler gefunden – mal schauen, wann er entdeckt wird! 🙂

Noch während der Rückfahrt erreichte mich jedoch ein Video meiner Frau Zehra: Das erste Druckexemplar von Rückzug oder Kreuzzug? war eingetroffen! Hatte ich es also schon “in Händen”, als ich mich über das Video freute? Und wie war das mit den mehreren Hundert Menschen, die es schon auf Instagram und Twitter sahen, während ich noch immer im Zug saß?

Scherzkeksen fiel auch gleich auf, dass die gelb-schwarze Farbwahl – die im Buch auf die miteinander verschränkte Krise des Liberalismus und des Christentums verweist – jener der BW-Werbekampagne von #TheLänd entsprach. Auch ich hatte diese vor Veröffentlichung nicht gesehen, musste aber selber schmunzeln, als ich den frisch “tapezierten” Hauptbahnhof Stuttgart erreichte.

Stuttgarter Hauptbahnhof am 29.10.2021, Foto: Michael Blume

Als ich zu später Stunde dann endlich daheim ankam, konnte ich das neue Buch endlich in die Hand nehmen wie die Tasse warmen Tee und die Butterbrezel. Da war das Gefühl des neuartigen (“klimaneutralen”, d.h. kompensierten) Drucks, also des Umschlages und des duftenden, zertifizierten Papiers. Bei allem Respekt gegenüber digitalen Versionen – für mich hat jedes Buch immer auch eine spezifische Haptik (“Fühlbarkeit”) und einen Geruch, eine einzigartige Materialität.

Das Erstexemplar von “Rückzug oder Kreuzzug?“, erscheint als Papier- und eBook-Version am Dienstag, 2.11.21.
Foto: Michael Blume

Die neue Multi-Medialität von Büchern

Nun behandelt das Buch selbst den Medienwandel vor allem vom Juden- zum Christentum: Den Wechsel vom hebräisch-semitischen zum griechisch-japhetitischen Alphabet, von der auf Doppelstab gerollten Schriftrolle der Synagogen zum eckigen Codex der Kirchen. Schon dieser Medienwandel vermag sehr viel zu erklären: Etwa, warum das Judentum – wie auch der Islam – mit ganz knappen Glaubensbekenntnissen auskommen, wogegen das Christentum Dutzende ellenlange “Credos” hervorbrachte und -bringt.

Aber das gerade ausgelieferte Buch “ist” selbst auch Teil eines Medienwandels: Viele darin enthaltene Beobachtungen und Argumente wie die Hitzemord-These wurden bereits hier auf dem Blog vor-diskutiert und es lag mir bereits im digitalen Format vor, bevor ich es in der Hand halten durfte. Und möchte wirklich irgendwer behaupten, es sei doch “das Gleiche”, ob ein Buch in gedruckter Form, als pdf auf einem Reader oder dann als Hörbuch erscheint?

Schon bei “Islam in der Krise” war mir aufgefallen, dass ein erfolgreiches Buch auch digital “weitergeschrieben wird”: Leserinnen und Leser besprechen, kommentieren, empfehlen, deuten es. Als Autor darf man dabei noch mitwirken, doch im Grundsatz wird es der Alleinverfügung des Schriftstellers entzogen. Es gewinnt ein Eigenleben und wird teil von Diskursen, die sich der Kontrolle oder auch nur Übersicht entziehen.

Das Adorno-Paradox

Völlig neu ist dabei auch dieses Phänomen selbstverständlich nicht – es beschleunigt sich nur immer weiter. So hatte bereits Theodor Adorno (1903 – 1969) damit zu kämpfen, dass seine eigenen Bücher seine Thesen von der vermeintlich stumpfsinnigen “Kulturindustrie” des “Kapitalismus” falsifizierten: Die immer preisgünstigere Herstellung von Taschenbüchern und die schnelle Ausweitung der studentischen Universitätszugänge nach dem 2. Weltkrieg führten zur sogenannten “Paperback Revolution” des Westens: Einer massiven Zunahme des vollvokalisierten Lesens und der Infragestellung von Autoritäten. Bald erreichten die Werke der “Frankfurter Schule” mit Auflagen von Zehn- und Hunderttausenden selbst den Status von “Massenmedien” der “Kulturindustrie” wie des Suhrkamp Verlages. Und die Studenten und zunehmend auch Studentinnen erwiesen sich dabei keineswegs nur als passiv Lernende, sondern stürmten dann auch Vorlesungen und das Institut – bis der linke, staats- und kapitalismuskritische Adorno schließlich die Polizei der Bundesrepublik zur Hilfe rief.

Sie und ich sind Teil des Medienspieles

Am Wechsel aus Sprechen und Sehen und Berühren wurde mir also gestern wieder drastisch bewusst, dass wir – als Schreibende und als Lesende – Teil des Medienwandels sind, den wir auch selbst vorantreiben und beschreiben. So teile ich im o.g. Buch ausdrücklich die These von Hans Blumenberg (1920 – 1996), wonach Bücher gegenüber elektronischen Medien Zeit und Aufmerksamkeit verlangen dürfen, ja müssen. Dennoch habe ich bislang auf längere Bände mit über 200 Seiten bewusst verzichtet, da ich glaube, dass Riesen-Monografien gegenüber Interessierten unanständig wären. Schon 1956 hatte Adorno in einem Brief an Hans Magnus Enzensberger über den “Kulturkonservatismus” gespottet, der sich “auf handgeschöpftem Büttenpapier tummeln wollte.” Womöglich hätte ihn die Öffnung von Büchern ins Digitale also zwar überrascht, aber nicht nur geärgert. Ich bekenne mich zu der neugierigen Freude, einen Medienwandel miterleben, ja mitgestalten zu dürfen.

 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

12 Kommentare

  1. Selber schaue/lese ich gerade Besprechungen von Steven Pinkers neuem Buch Rationality: What It Is, Why It Seems Scarce, Why It Matters
    Besprochen wird das Buch einerseits von Leuten, die sich von Berufs wegen mit solchen Fragen befassen (Philosophen, Psychologen, Soziologen) als auch in der weiteren Kultur- und Politikszene, da es im Buch um Fragen gesamtgesellschaftlicher Bedeutung geht und auch weil Steven Pinker als notorischer Optimist für viele eine Herausforderung darstellt.

    Ein Buch wie “Rückzug oder Kreuzzug? Die Krise des Christentums und die Gefahr des Fundamentalismus” trifft natürlich ebenfalls auf eine Szene von Menschen/Besprechern, die sich schon immer mit solchen Fragen beschäftigt haben als auch auf die schon existierende Lesergemeinde von Michael Blume. Es geht auch in diesem Buch um gesamtgesellschaftliche Fragen – mindestens für jene, die im Christentum immer noch eine gestaltende Kraft in der heutigen Welt sehen. Im weiteren Sinne kann man die Frage Rückzug oder Kreuzzug aber auch für die gesamte westliche Welt stellen und dann etwa fragen ob aktuelle kulturelle Erscheinungen und Trends wie politische Korrektheit, Diversität, Gendergerechtigkeit und Positionierung/Polarisierung auf dem Rückzug oder auf einem Kreuzzug sind. In gewissem Sinne sind die eben genannten Dinge eben die aktuellen Dinge, während das Christentum etwas tendenziell Vergangenes bezeichnet.

  2. Das Christentum hat im Westen jedenfalls bleibende Spuren hinterlassen und es prägt unser Denken weiterhin nachhaltig. Das zeigt etwa der Titel einer Besprechung von Steven Pinkers neuem Buch «Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes». Dieser Titel lautet: Steven Pinker, Kreuzritter der Vernunft und greift damit den durch die christliche Geschichte geprägten Begriff „Kreuzritter“ auf und das für einen Mann, der durch seinen ausgeprägten und expliziten Atheismus immer wieder hervorgetreten ist. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Auch der westliche Atheismus, der Atheismus eines Daniel Dennett oder Steven Pinker gäbe es ohne Christentum in seiner heutigen Form nicht.

    • Ja, so ist es, @Martin Holzherr. Erinnert sei auch an die legendäre BBC-Debatte zwischen Lord Rabbi Jonathan Sacks sel. A. und Richard Dawkins. Dabei wies Sacks Dawkins nach, dass auch sein Antitheismus christlich geprägt war, beispielsweise in der (wenig kundigen) Verhöhnung des „Alten Testaments“. Im Buch verweise ich entsprechend auf die unsichtbare und ambivalente Wirkung von Kulturchristentum.

    • Da wäre wir schnell bei Heine und Nietzsche, die selbst den sich als kämpferisch-atheistisch verstehenden Sozialismus identifizierten als säkulare christliche Heilsbotschaft. Ist ja auch viel Hegel drin verbaut.

      Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen Schatten in einer Höhle – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!

      Friedrich Nietzsche FW 108

      • @Alubehüteter
        Wogegen kämpft den Nietzsche an? Gegen Hegel und vor allem gegen dessen Lehre von Herrschaft und Knechtschaft. Diese ist bei Hegel ganz eng mit der Christologie verknüpft. Der Tod Gottes findet bei Hegel nicht am Kreuz statt, sondern in der Krippe! Damit, dass Gott Mensch wird, werden die Unterschiede zwischen Herr und Knecht aufgehoben. Dagegen läuft Nietzsche Sturm.

    • Der westliche Atheismus entspringt wohl eher der Wissenschaft und nicht dem Christentum. Was meines Erachtens gut daran abzulesen ist wie die Ausbreitung kongruent zur Ausbreitung der Wissenschaft ging, in den letzten Jahrhunderten.

      Bedauerlich ist das der Atheismus sich allerdings immer noch gegenüber dem Christentum rechtfertigen muss in Deutschland. Wie zb dem Dogma Ethik wäre an das Christentum gekoppelt. Wobei ich ansonsten nichts gegen Auseinandersetzung habe.

  3. Wir leben in einer Zeit der Veränderung. Wir verleugnen unser kulturelles Erbe und schauen gleichzeitig auf die Ausbreitung einer verwandten Kultur , dem Islam.
    In Nordafrika verdrängt der Islam das Christentum. Warum ?
    Stimmt das überhaupt oder lassen wir uns nur von den Medien täuschen die Boko Haram mit dem Islam gleichsetzt.

    Meiner Meinung nach begreifen die Boko Haram, dass die Bildung der Massen die eigentliche Gefahr darstellt. Deshalb überfallen sie die Schulen und verbieten den Frauen die Bildung. Das gilt auch für den IS in Afghanistan.

    Das ist nur ein Gesichtspunkt beim Thema Religion . Das Christentum hat sich mit der Wissenschaft arrangiert. Deshalb sind die Christen für die Moslems die Ungläubigen.

  4. @hwied 31.10. 11:00

    „Das Christentum hat sich mit der Wissenschaft arrangiert. Deshalb sind die Christen für die Moslems die Ungläubigen.“

    Wissenschaft ist ein Projekt, mit dem jeder vernünftige Mensch auf der Welt gut was anfangen kann. Verfügbares Wissen einzusetzen ist nebenbei die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg, und Bildung für alle gehört untrennbar dazu. Unsere wirtschaftlich-technische Dominanz allerdings benutzen wir im Westen vor allem eher für uns selbst.

    Was niemand davon abhalten muss, diesen Weg auch zu gehen. China ist hier sehr erfolgreich dabei, auch wenn Ideen wie Menschenrechte offenbar anders interpretiert werden. Bildungsverweigerung ist jedenfalls kein chinesisches Problem.

    Diejenigen Muslime, die quasi einen Rückzug ins Mittelalter suchen, kann man da eigentlich nur bedauern. Da kann wohl nichts Vernünftiges draus werden. Weltliches Leben ohne Weltoffenheit passt einfach nicht zusammen.

    Das Christentum ist unsere Herkunft, aber eben in der Überwindung desselben. Politisch durchgesetzte Religionsfreiheit ist letztlich auch die Grundlage von einer freien Wissenschaft, und ohne dem sind alternative Weltauffassungen nicht möglich. Solange ein spezieller Glaube Pflicht ist, ist praktisch keine Entwicklung möglich. Es ging in Europa zunächst um die Akzeptanz eines Nebeneinander von verschiedenen Varianten des Christentums, was dann aber die revolutionäre Nebenwirkung hatte, dass auch offener Unglaube möglich wurde.

    Die Wissenschaft kann nicht arbeiten, wenn es Denkverbote gibt, egal von welcher religiösen Seite her. Ich denke, das hat nichts speziell mit dem Christentum zu tun. Ein Buddhist oder ein Schintoist kann auch aus seiner Herkunft heraus Wissenschaft betreiben, und am wissenschaftlichen Weltbild mitarbeiten. Vorausgesetzt, dass er nicht beim Priester um Erlaubnis fragen muss.

    Ich denke schon, dass wir weltweit dabei sind, ein allgemeines Weltbild zu erarbeiten, dass eben nicht auf die christliche Herkunft beschränkt sein muss. Die Methoden, mit denen man gesicherte Erkenntnisse erarbeitet sind universal. Man kann durchaus auch religiöse oder spirituellen Traditionen oder auch ganz aktuelle Erfahrungen ins eigene Weltbild einbeziehen, aber es dürfte klar sein, dass man dies vernünftigerweise nicht im Gegensatz zu wirklich gesicherten Erkenntnissen praktizieren sollte.

    Der Glaube kollidiert eben nicht komplett mit der Wissenschaft, sondern muss sich nur in Teilen daran anpassen. So gibt es dann durchaus ziemlich interessante Varianten, auch mit Wissenschaft umzugehen. Dass z.B. Japaner Robotern eher ein Eigenleben zugestehen, weil sie grundsätzlich allem ein Eigenleben zuschreiben, das finde ich sehr sympathisch.

    Es gibt natürlich wissenschaftlich orientierte Menschen, die meinen, dass es grundsätzlich nichts Spirituelles gibt. Aber das ist nur eine Variante der philosophisch möglichen Auffassungen, und das muss einen spirituell orientierten Menschen nicht unbedingt stören.

  5. Mal etwas ganz anderes – ich bin nicht sicher – aber ich meine hier mal im Text über ein Zitat gestolpert zu sein, welches ich versuche gerade ausfindig zu machen.
    Es ging – sinngemäß in etwa”Wenn deine Antwort auf die Frage, was müßte eintreten, damit du deine Meinung änderst “nichts” ist, dann…xyz ” – so in etwa. Als Quelle war glaube ich ein schon verstorbener schwedischer? Nobelpreisträger genannt.
    Ich bin nichtmal sicher, das es hier im Blog war (in jedem Fall aber bei einem der wissenschaftlichen Blogs aus meinem RSS-Feed). Aber da ich mir gerade in den Kopf gesetzt habe das Zitat zu finden (und ich den Sinn des ganzen sehr gut finde – aber den genauen Wortlaut + Autor) nicht im Kopf habe) versuche ich mal mit diesem Kommentar mein Glück.
    Klingelt zufälligerweise etwas bei diesem Zitat?

  6. Gerne diesbezüglich, i.p. Herrn Hans Blumenberg ein wenig ausbauen, u.a. auch Kommentatorenfreund “Jolly | Joker” scheint hier angenagt zu haben, positiv.

    Dies hier war, ex post oder post mortem sozusagen extra-köstlich :

    So hatte bereits Theodor Adorno (1903 – 1969) damit zu kämpfen
    […]
    – bis der linke, staats- und kapitalismuskritische Adorno schließlich die Polizei der Bundesrepublik zur Hilfe rief.

    “Adorno” und die anderen folgten bestimmter Axiomatik aus dem Hause Antonio Gramsci, dies dann im internationalistisch kollektivistsischen Sinne.

    Dr. W sich hier noch ein wenig erinnern tun,
    Mit freundlichen Grüßen und weiterhin viel Erfolg
    Dr. Webbaer

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