ResIstanbul 2 – Mit Kopftuch auf dem Taksim-Platz – Hilal im Web-Interview

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Wenn die Demonstrationen gegen Korruption und für mehr Freiheit in Russland, Brasilien oder Ungarn diskutiert wurden, spielte Religion kaum eine Rolle: Es erschien logisch, dass sich Christen und Konfessionslose auf beiden Seiten des Konfliktes finden würden. Jetzt aber in Ägypten oder auch bei den Gezi-Park-Demonstrationen in der Türkei erlebe ich immer noch Staunen darüber, dass eben nicht nur Säkulare, sondern auch praktizierende Musliminnen und Muslime für mehr Demokratie auf die Straße gehen.

Dank der Vermittlung von meiner ersten Interviewten Derya konnte ich dazu nun der 31jährigen Deutschtürkin Hilal Fragen für ein Web-Interview nach Istanbul übermitteln. Hier sind ihre Web-Antworten.

1. Hilal, Du hast in Istanbul ebenfalls demonstriert und einiges erlebt. Magst Du uns kurz berichten?

Leider habe es aus zeitlichen Gründen nicht geschafft von Anfang an dabei  zu sein und da ich auf der asiatischen Seite Istanbuls wohne war es mir immer nur möglich abends, nach Dienstschluss teilzunehmen.

Den ‘heftigsten’ Abend habe ich am Samstag den 15.06.2013 erlebt.

Anfangs tat mich schwer da ich eine deutsche Freundin aus Stuttgart zu Besuch hatte. Wir demonstrierten damals auch schon gemeinsam gegen das Stuttgart-21 Projekt, leisteten im Park medizinische Hilfe und kletterten auf Bäume, die abgerissen werden sollten 🙂 Hier herrschten allerdings andere Zustände und die Verantwortung war mir doch ‘nen Tick zu gross. Nach langem Überlegen haben wir uns doch dazu entschieden erneut gemeimsam Teil des Protestes zu werden.

Um ca. 20:00 Uhr kamen wir in Taksim an. Erstaunlicherweise war die Istiklal Strasse ( Einkaufsmeile) vollkommen normal – im Fluss des Konsums. Touristen, Familien mit Kindern, Maronen- und Maisverkaeufer…alles wie gewohnt.

Am Taksimplatz angekommen sahen wir auch die Demonstranten, meist verschiedenen Ursprungs und eigener Ideologien: Kurdische und alevitische Bürger forderten diverse Rechte, “Kemalisten” den Erhalt des Laizismus, die Linken erhoben ihre Stimme gegen den Kapitalismus, der konservativ islamische Teil der Demonstranten fordert Erdogan auf, damit aufzuhören, den Islam als Mittel zum Zweck zu nutzen, Homosexuelle demonstrierten für ihre Anerkennung, Frauen für ihre Rechte mit ihrem Körper dass machen zu dürfen, worauf sie Lust haben (Abtreibung sollte verboten werden), Alkoholkonsumenten gegen das neue Einschraenkungsgesetz, die ‘grauen Wölfe’ bzw. eher rechts Orientierte schimpften, dass Erdogan das Land Stück für Stück an “Ausländer” verkauft…

Gemeinsame Punkte gibt es auch zu Genüge: Wie überall anders auch werden Medien schön angepasst und manipuliert, das Volk wird für blöd verkauft, Presse/Rede/Versammlungfreiheit wird heftigst eingeschränkt und der Protest galt auch der Art und Weise wie Erdoğan mit der ganzen Sache umgeht, die Interessen ‘der Anderen’ ignoriert, ergo, das Volk spaltet und Mutter Natur vergewaltigt… Die Liste geht ewig weiter. Habe sicher vieles vergessen aber das würde ohnehin den Rahmen sprengen 🙂

So gegen 20:30 Uhr begann die Polizei über das Megaphon die Menschenmenge zu warnen – sie sollen sich auflösen sonst müssen sie aktiv werden. Das ging knappe 5 Minuten und als sie dann merkten, dass das zu nichts führt und die Menschenmenge nach wie vor stand hielt, wurden sie aktiv und  begannen zuerst mit den Wasserwerfern die Menschen zu verscheuchen. Die meisten teilten sich in Gruppen und rannten in verschieden Richtungen.

Meine Freundin und ich rannten direkt Richtung Gezi Park, wo wir den Schutz von den Bäumen und Zelten suchten. Dann begannen sie direkt mit Trängasbomben um sich zu schiessen. ‘Freundlicherweise’ zielten sich nicht mehr auf Personen sondern in die Luft. Da wir auf die Schnelle allerdings keine Gasmasken oder Taucherbrillen finden konnten, haben wir uns so gut es geht mit unseren Schals geschützt. Insgesamt waren wir in 3-4 Tränengaswolken. Beiden war schlecht, wir konnten nichts mehr sehen, kaum atmen und waren von Kopf bis Fuss durchnässt. Vom Gezi Park aus sind wir dann Richtung Osmanbey gelaufen. Die Lage hatte sich (hier zumindest) etwas beruhigt aber der Protest ging weiter…

Über die sozialen Medien bekamen wir mit, dass Tausende von Demonstranten aus der asiatischen Seite die Brücke überqueren wollten, um uns zu unterstützen. Beide Brücken wurden aber gesperrt um die Lage nicht ‘noch komplizierter’ zu machen. Irgendwann gegen 03:00 Uhr morgens sind wir dann total müde geworden und haben dann ein Taxi Richtung Kadıköy genommen. Soviel zu ‘dem’ Abend.

2. Viele Leute behaupten, Islam und Demokratie könnten nicht vereinbart werden. Du hast Dich aber als praktizierende Muslimin eingebracht, einiges für Demokratie und Menschenrechte riskiert. Warum?
 

Ich muss vorab sagen dass die Demokratie als Staatsform meines Erachtens nirgendwo so richtig funktioniert, sie humpelt überall – mal mehr mal weniger… Schwierig wird es vor allem in Ländern mit vielen ‘Extremen’ im Kulturkessel. Im Fall Türkei – hat das meiner Meinung nach nicht unbedingt etwas mit dem Islam zu tun sondern eher mit der Inkompetenz der Regierung, diese ganzen Kulturen und Ideolgien harmonisch und gerecht managen zu können. Hinzu kommt der Bildungsstand des Volkes, deren Demokratie-Verständnis und der Art und Weise wie sie mit diversen Dingen umgehen…

Im Endeffekt ist es egal, wem die Ungerechtigkeit widerfährt. Ich war da um eine Veraenderung zu fordern, wir brauchen diese – und zwar sehr bald. Wird leider Gottes ein sehr steiniger Weg, aber ich bin guter Dinge 🙂
 
3. Manche Muslime hier in Deutschland sagen mir, dass sie den Demonstranten nicht trauen. “Wo waren sie, als Frauen in der Türkei wegen ihrer Kopftücher diskriminiert wurden? Und wo war das Ausland, als Erdogan selbst für Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde?” – Was antwortest Du solchen Einwänden?

Hier muss ich teilweise zustimmen. Ungerechtigkeit bleibt Ungerechtigkeit. Und wenn ich diese erst dann ‘bekämpfe’, wenn ich selber betroffen bzw. in meiner Freiheit eingeschränkt bin, ist ohnehin alles verloren.

Ich spreche von der prä-Erdoğanischen Zeit, als der islamisch-konservative Teil des Volkes als Bürger 2.Klasse behandelt wurde. Als bedeckte Mädchen nicht an Unis studieren und bedeckte Frauen nicht in staatlich-öffentlichen Einrichtungen arbeiten durften.
Das war schade und ich hätte tatsaechlich mehr Unterstützung erwartet. Aber ich denke, wir befinden uns in einer neuen Ära – mehr Aufklärung und die Bereitschaft, einander zuzuhören und die Wege gemeinsam zu gehen. Ich habe gesehen, dass es dieses mal tatsächlich ging, dabei verallgemeinere ich ungern und berichte auch immer von meinen positiven Erfahrungen, das überzeugt die meisten dann auch. 😉
 
4. Demokratie und Freiheitsrechte sind ja nicht nur in der Türkei unter Druck, sondern auch z.B. in Russland und Ungarn. Was können wir – Christen, Muslime, Konfessionslose etc. – denn von Deutschland aus machen, um Euch, die Ihr für Freiheit eintretet, gemeinsam zu unterstützen?

Wie oben schon bemerkt, die Demokratie als Staatsführung lässt überall zu wünschen übrig, es steht hier also kein rein “türkisches Problem” zur Debatte. Als gemeinsame Lösung schlage ich bessere Dialoge zwischen den Kulturen, Völkern, Organisationen und anderen Verbänden vor. Das Volk muss aufgeklärt werden und in erster Linie seine Rechte kennen und jegliche Vorurteile niederlegen. Erst dann ist man bereit, einander tatsächlich zuzuhören um dann dementsprechend für gemeinsame Ziele einzustehen. Und beten hilft übrigens auch immer – egal an welche Adresse das Gebet gerichtet ist. 😉

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Vielen Dank für Deine Antworten, Hilal. Wir schauen derzeit auch alle gebannt nach Ägypten, wo sich ja ebenfalls die Frage stellt, ob sich die verschiedensten Demokraten zusammen finden und eine stabile wie auch freiheitliche Grundordnung errichten können.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

19 Kommentare

  1. Die Türkei als Multi-Kulti-Land

    Erdogan selbst sieht seine 3-malige Wahl als Ticket um die türkische Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzuformen. Minderheiten müssen sich seiner Ansicht nach mit dem Sieg seiner Person und Partei abfinden, denn der Sieg rechtfertigt die Durchsetzung seiner gesellschaftlichen Vorstellungen. Von Pluralismus also keine Spur obwohl es gerade in der Türkei mehr als eine Kultur gibt.
    Demokratie kann in Ländern mit mehreren Kulturen nur bedeuten, dass es keinen Zenralismus gibt, kein Majoranzdenken, welches die Vorstellungen der in den Wahlen obsiegenden Partei schalten und walten lässt wie es ihr passt. Statt dessen müsste sich die Regierung auf die Gebiete konzentrieren, die allen Türken unabhängig von Ihrer Kultur etwas bringt.

  2. Kleinkrämerisch

    angemerkt:

    Jetzt aber in Ägypten oder auch bei den Gezi-Park-Demonstrationen in der Türkei erlebe ich immer noch Staunen darüber, dass eben nicht nur Säkulare, sondern auch praktizierende Musliminnen und Muslime für mehr Demokratie auf die Straße gehen.

    Die Metaphorik des Säkularismus meint ja gerade das Beibehalten des Glaubens bei Pflege eines nicht religionsbasierten Staatsgebildes.

    MFG
    Dr. W (der den säkularen Kräften in T wie in Ä die Daumen drückt)

  3. Kleinkrämerisch (2)

    angemerkt hierzu:

    Ich muss vorab sagen dass die Demokratie als Staatsform meines Erachtens nirgendwo so richtig funktioniert, sie humpelt überall – mal mehr mal weniger…

    Dieses ‘Humpeln’ ist gerade das Leistungsmerkmal einer funktionierenden Demokratie [1], die immer im Dreieck persönliche und unternehmerische Freiheit & Menschenrechte steht, es somit niemandem wirklich recht macht, im gewaltfrei gefundenen Konsens oder “Konsens” ihren Weg findet und vor allem Mehrwert generieren hilft, zumindest deutlich mehr als anderswo.

    MFG
    Dr. W

    [1] natürlich nur, wenn von Der Demokratie gesprochen wird – ansonsten war selbstverständlich auch die DDR demokratisch und Nord-Korea bleibt es

  4. Türkei, Ägypten, Islam + Pluralismus

    Sowohl die Aufstände in der Türkei als auch der Sturz der Mursi-Regierung in Ägypten zeigen, dass selbst eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung nicht daran glaubt, der Islam löse alle Probleme, der Islam sei die Lösung schlechthin. In Ägypten ist der Grund offensichtlich: Die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich im letzten Jahr massiv verschlechtert. Stromausfälle sind nun an der Tagesordnung, es fehlt an Benzin und Narungsmitteln, die Arbeitslosigkeit hat zugenommen. Die Mursi-Regierung verlor nur schon deshalb die Legitimation.
    Die Türkei ist wirtschaftlich gesehen in einer wesentlich besseren Situation. Doch auch in der Türkei glauben lange nicht alle, der Islam sei die Lösung schlechthin und die Islamisiserung, die Erdogan befördert hat, verbessere das Leben in der Türkei an und für sich.

    Das richtige Ziel sowohl in der Türkei als auch in Ägypten ware es, die Lebensbedingungen für alle Menschen unabhängig von ihrem Glaubensbekenntniss und ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu verbessern und den meisten Gruppierungen, ethnischen und religiösen Gemeinschaften mehr Rechte und Freiheiten zu geben.

    Noch viel stärker gilt das für viele, wenn nicht die meisten arabischen und islamischen Ländern, wo Autokraten regieren und wo Bevölkerungsminderheiten offen unterdrückt werden. In mehrheitlich sunnitischen Ländern gehören zu den Unterdrückten fast alle anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere aber die Shiiten. Ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Ethnien wie Berbern, Nubiern, Kurden, Assyrern, Armenier, Kopten, Palästinensern, Maroniten, Yezidi, Roma und Juden ist in den arabischen und islamischen Ländern eher die Ausnahme als die Regel und jede Gruppe strebt, wenn sie kann nach Dominanz. Arabische Aukraten halten ethnisch gemischte Länder meists mit diktatorischen Mitteln zusammen und einige Beobachter meinen gar, dies sei eine Berechtigung für Autokratien und Autokraten in diesen Ländern, denn ansonsten drohten Bürgerkriege wie jetzt in Syrien, wo der Krieg auch zum Krieg zwischen Sunniten und Shiiten geworden ist.

    Es fehlt also in der arabischen und islamischen Kultur an “Verträglichkeit”, an der Akzeptanz der Andersartigket, am friedlichen Zusammenleben verschiedener Kulturen. Alle Gruppen streben, wenn sie könne, nach Dominanz. Und diese Dominanz wird durch Unterdrückung der anderen erreicht.

    Die Türkei und Ägypten scheinen jetzt, nach den Unruhen in beiden Ländern, in einer guten Ausgangslage das zu ändern. Es gibt eine – wenn auch geringe – Chance für mehr Pluralismus in diesen Ländern des grösseren arabisch/islamischen Raum, den sie anführen. In der Türkei allerdings nur, wenn Erdogan sich nache den Unruhen umdenkt, in Ägypten nur dann, wenn sich eine neue zivile Regierung bilden kann und nicht das Miltitär wieder für lange Zeit die Macht übernimmt.

  5. Herr Holzherr

    Die Türkei und Ägypten scheinen jetzt, nach den Unruhen in beiden Ländern, in einer guten Ausgangslage das zu ändern. Es gibt eine – wenn auch geringe – Chance für mehr Pluralismus in diesen Ländern des grösseren arabisch/islamischen Raum, den sie anführen.

    Was denn nun, ‘gute Ausgangslage’ oder ‘geringe Chance’?

    Ansonsten: Die müssen in Ä und in T die Bärte eingrenzen, so wie Atatürk das gemacht hat, das war ordentlich.
    Für Ä scheint in einem neuen Mubarak, der vielleicht ein wenig milder ist, die beste Chance zu liegen.
    Die T scheint zu kippen, allerdings hat Erdogan im Westen (vgl. auch mit Mursi und Ä, dort ist es der Norden) keine Mehrheit.

    MFG
    Dr. W

  6. @Webbaer:Benevolent Dictatorship Needed?

    Ein großer Fortschritt für Länder wie die Türkei oder Ägypten wären zivile Regierungen mit beschränkter Macht, die aufgrund ihrer Leistungen für das Land  vom Wähler in regelmässigen Abständen wiedergewählt oder abgewählt würden. Also keine Atatürks und Erdogans mehr, kein Mubarak und keine Militärregierung.
    Diesen Ländern fehlt bis jetzt ein entsprechendes “role model”, deshalb bilden die momentanen Situationen in Ägypten und der Türkei  (Selbstzitat) “eine gute Ausgangslage”– relativ zur ellenlangen Geschichte der Autokratie in diesen Ländern – und gleichzeitig sind doch nur  (Selbsstzitat) “geringe Chancen” vorhanden, dass die gute Ausgangslage auch genutzt wird. 
    Ein wichtiger Faktor, der Unruhe und latente Gewalttätigkeit in Länder wie Ägypten, teilweise auch die Türkei bringt, ist das starke Bevölkerungswachstum. Hier ein Ausschnitt aus dem NYT-ArtikelCan Egypt Pull Together
    “Indeed, the big question for Egypt is not only who rules but how anyone can rule? Can a fragile new democracy make progress in the face of such deep economic dislocation and distress? I just returned from Egypt. It is falling apart. A few weeks ago, I sat in a teahouse in Cairo interviewing Mahmoud Medany, a researcher at Egypt’s Agricultural Research Center and one of the country’s top environmental experts. Medany, 55, recalled that some 40 years ago, when he was in middle school, “we used to sing this song about how the whole world is talking to the 20 million Egyptians.” When Mubarak took over in 1982, “we were 33 or 34 million. Today, we are over 80 million.” Im Jahr 2050 wird es übrigens 120 Millionen Ägypter geben. Schon heute importiert Ägypten die Hälfte des Getreides und muss auch immer mehr Öl, welches es bis vor kurzem noch selbst förderte, importieren. Andererseits fordert Erdogan oder auch der iranische Ayatollah, dass Familien mindestens 3 Kinder haben sollten. Dahinter steckt immer noch die Vorstellung, eine größere Bevölkerung bedeute mehr Macht. Insoweit mehr Elend und Druck die Betroffenen mehr riskieren lässt – inklusive ihr eigenes Leben – bedeutet es vielleicht tatsächlich mehr Macht. 
    Der Gegensatz “Gute Ausgangslage” und “geringe Chancen” wird auch vom NYT-Jouralisten T.Friedman erkannt, wenn er schreibt:
    “If new elections and a new constitution can be implemented and a broad national unity government formed — including Islamists — there is still a chance that Egypt can manage all the problems that it can no longer avoid and still avoid the even worse problems that it cannot possibly manage. But it’s only a chance. America’s job is to nudge all parties toward such a national unity coalition.”

  7. Herr Holzherr

    Die ‘Benevolent Dictatorship’ wird in liberalen Kreisen für jene Regionen angedacht. Damit sich die Leutz zumindest nicht übermäßig selbst abmurksen.

    Der Schreiber dieser Zeilen teilt diese Empfehlung nicht, weist aber darauf hin, dass es für Demokratien (“im Sinne der Aufklärung”, vs. DDR, vs. Nord-Korea, beides ebenfalls demokratisch) bestimmte kulturelle Mindeststandards benötigt, z.B. kann klar erkennbar mit Analphabeten keine Demokratie im o.g. Sinne gemacht werden.

    Die Lage in Ä und T ist jeweils verfahren, da ist kaum Gutes zu erwarten.
    BTW, mit der Bevölkerungspolitik liegen die aber schon richtig, im Gegensatz bspw. zu D – Sie selbst klingen auch gerne fortpflanzungskritisch, gell? – wegen “Überbevölkerung”.

    MFG
    Dr. W

  8. @Dr.Webbär: Youth bulge, Overcrowding

    Wenn die Bevölkerung schneller wächst als die Wirtschaft entsteht eine explosive Situation, denn die Bevölkerungsmehrheit wird dann durch eine arbeitslose Jugend ohne Perspektiven gestellt. Genau dies trifft auf Ägypten zu und hat sich im letzten Jahr verschärft  und damit Mursi den Kopf gekostet. Doch auch jede andere ägyptische Regierung hätte mit ökonomischen Problemen zu kämpfen. So hat sich Ägypten bis vor kurzem noch selbst mit Öl versorgt, jetzt aber muss es immer mehr Öl importieren. Ein Anstieg von 80 Millionen auf 120Millionen Einwohner im Jahr 2050  wird den Wüstenstaat Ägypten vor große Probleme stellen, denn es stößt schon jetzt an Grenzen, kann zum Beispiel seine Landwirtschaft kaum noch ausdehnen.
    Noch dramatischer ist das demographische Problem Nigerias Von jetzt 180 Millionen Einwohnern wächst die Bevölkerung auf 360 Millionen im Jahr  2050 – übertrifft dann bereits die USA – und könnte bis ins Jahr 2100 auf über eine Milliarde ansteigen, was doppelt soviel Menschen wie in der EU-27 auf einem Fünftel der Fläche wären. Die Bevölkerungsdichte Nigerias wäre dann deutlich höher als heute in Bangladesh, dem mit 1000 Menschen pro Quadratkilometer momentan am dichtesten bevölkerten größeren Land der Welt.  Bei einer Bevölkerungsdichte von 1000Menschen pro Quadratkilometer weltweit gäbe es übrigens 150 Milliarden Menschen auf der Welt, mehr als zwanzigmal soviel wie heute.

  9. Herr Holzherr

    Wenn die Bevölkerung schneller wächst als die Wirtschaft entsteht eine explosive Situation, denn die Bevölkerungsmehrheit wird dann durch eine arbeitslose Jugend ohne Perspektiven gestellt.

    Ischt eher ne Glaubensmeinung. Eine hohe Reproduktions- oder Fertilitätsrate war mal normal [1] – bis dann als Intellektuelle und angeblich wissenschaftlich unterwegs Seiende die Misanthropie derart ideologisieren konnten.
    Im Sinne eines Wirtschaftswachstums, das vonnöten sei oder einer sogenannten Nachhaltigkeit.

    MFG
    Dr. W

    [1] ruhig mal die verfügbaren Datenlagen zK nehmen, die Heinsohn-These ist modisch & hohl – in modernen Gesellschaftssystemen kann die F-Rate bei 3 und höher liegen, da passiert nix – aber auch in Ä geht es den Leutz besser als damals, als es nur 32M von ihnen gab

  10. Dr. Webbaer: Pop. Growth is New

    Bis in die Neuzeit war die Bevölkerung fast konstant. Im Mittelalter und auch noch später war die Reproduktionsrate klein. Knechte und Mägde konnten gar nicht heiraten, andere gingen ins Kloster. Die Fertilitätsrate war allerdings sehr viel größer als heute weil die meisten Kinder starben.
    Das Bevölkerungswachstum ist also ein ganz junges Phänomen
    , möglich geworden durch neue Technologien wie die Düngung der Äcker mit Stickstoff und die Entdeckung und Verbreitung von Kohle, Öl und Erdgas. Europas Bevölkerung wuchs von 145 Millionen präindustriell auf 450 Millionen um das Jahr 1900.
    Ihr Satz “Im Sinne eines Wirtschaftswachstums, das vonnöten sei oder einer sogenannten Nachhaltigkeit” braucht keinen Konjunktiv. Ohne Wirtschaftswachstum wäre die Bevölkerungsexplosion nie möglich gewesen. Bis jetzt hat sich die Technologie immer weiterentwickelt und die landwirtschaftlichen Erträge haben sich stetig erhöht, deshalb ging alles gut. Ägypten muss bereits fest mit weiteren derartigen Produktivitätssteigerungen rechnen, sonst gerät es in eine Krise. Die Chancen stehen allerdings absolut – für die ganze Menschheit gesehen – nicht schlecht, dass es weitere solche Fortschritte gibt. Momentan sieht es aber für Ägypten nicht gut aus, was sicher von einer Kombination von Faktoren wie starkes Bevölkerungswachstum, Rückgang der Ölproduktion und einer stagnierenden Wirtschaft zu verantworten ist.

    Zum Abschluss möchte ich noch bemerken, dass Sie öfters ideologisch argumentieren, indem sie bestimmte Dinge einfach als gegeben voraussetzen. Nichts in unserer Welt ist aber einfach gegeben.

  11. Wirtschaftswachstum & Bevölkerungswachst

    Was eine wirtschaft braucht, um mit der wachsenden Bevölkerung mitzuwachsen, ist eine Zutat, die wir bei “Demokratien” gerne als selbstverständlich voraussetzen: Rechtssicherheit!

    Es ist schwer, ein zig-Millionen-Volk mit Nahrung zu versorgen, wenn jeder kleine Gemüsehändler jeden Tag damit rechnen muß, daß korrupte Staatsdiener seinen Stand, sein Gemüse, sein Betriebskapital, seine gesamte Existenz aus einer Laune heraus beschlagnahmen.

    Singapur ist keine Demokratie, Monaco nicht und Hongkong auch nicht. Aber es sind Rechtsstaaten. Wer dort ein Business aufmacht, kann sich auf den Dienst am Kunden konzentrieren.

    Was in den arabischen Despotien am meistn fehlt, ist also die “Rule of Law” und nicht so sehr die Option, alle paar Jahre einen neuen Tyrannen zu wählen.

    Was den “Youth Bulge” betrifft: hohe Geburtenraten sind eine Anpassung an hohe Kindersterblichkeit. Wenn durch Wirtschaftswachstum, technischen Fortschritt und bessere medizinische Versorgung die Kindersterblichkeit zurückgeht, sink nach wenigen Generationen auch die Geburtenrate. Beispiele dafür hat Dr. Blume oft genug genannt.

  12. @Störk:ReligiöseÜberzeugung zeugt Kinder

    Bei den Amisch, Hutterer, Jüdisch-Orthodoxen ist das Bevölkerungswachstum bis heute nicht zum Stillstand gekommen. Ihre Aussage “hohe Geburtenraten sind eine Anpassung an hohe Kindersterblichkeit. Wenn durch Wirtschaftswachstum, technischen Fortschritt und bessere medizinische Versorgung die Kindersterblichkeit zurückgeht, sink nach wenigen Generationen auch die Geburtenrate. Beispiele dafür hat Dr. Blume oft genug genannt.” trifft auf diese religiösen Gruppen somit nicht zu. Dr. Blume hat im Gegensatz zu Ihrer Behauptung immer wieder Beispiele gebracht von religiösen Gruppen wo das Bevölkerungswachstum unabhängig von den Umständen immer sehr hoch ist. Ich bin sogar zur Überzeuging gekommen , dass, wenn Dr. Blume recht hat – wogegen nur wenig spricht – in wenigen Generationen die Menschheit nur noch aus religiös motivierteren Fortpflanzern bestehen wird.

  13. @Holzherr

    Bei den Amish sind heute um die 4 Kinder normal – das ist mehr als im Rest der Bevölkerung, und das ist mehr als zur “Sippenerhaltung” notwendig, aber es ist viel weniger als die 10-12 Kinder, die noch vor wenigen 100 Jahren üblich waren.

    Wachsender Wohlstand reduziert die Geburtenraten, in dem einen Milieu mehr, im anderen weniger.

    Wer als einzige Religion den Weltuntergang durch CO2 kennt, kann noch so gläubig sein und wird doch eher auf Kinder verzichten wollen. Hatten die Shaker eigentlich Weltuntergangs-Propheten?

  14. @Störk: Demograph. Verschiebung Problem

    @Störk: Sie scheinen in der demographischen Verschiebung, die sich durch eine starke Bevölkerungszunahme einer religiös und weltanschaulich ganz anders geprägten Gruppe ergibt, keine Probleme zu sehen. Dies im Gegensatz zur säkularen Bevölkerung Israels. 
    Unter Israel heute: Ein demographischer Vergleich liest man:“Benzion Netanjahu hatte drei Söhne und hinterließ insgesamt zehn Kinder und Enkelkinder. Rabbi Josef Schalom Eliyashiv zeugte zwölf Kinder und hinterlies insgesamt 1400 Nachkommen. Im Jahr 2009 konnte er sogar noch ein Enkelkind eines Urenkels segnen. In sechs Generationen brachte es der orthodoxe Rabbi auf 140 Mal mehr Nachkommen als der traditionell geprägte Historiker. Genau davor hat die säkulare Bevölkerung im Land Angst.” 
     Das passt gut zur Meldung “Demografie: Orthodoxe und Araber im Kommen
    “JERUSALEM (inn) – Im Jahr 2059 besteht die Mehrheit der Israelis aus Arabern und Ultraorthodoxen. Das zumindest geht aus einer Hochrechnung des Zentralen Statistikbüros in Israel hervor.
    Die Anzahl der Haredim, also der ultraorthodoxen Juden, und der Araber soll die der säkularen Bevölkerung in 47 Jahren weit übersteigen, wie das Statistikbüro ermittelt hat. Ferner sagt die Aufstellung ein Bevölkerungswachstum auf 15,6 Millionen Menschen voraus. Derzeit leben im Heiligen Land etwa acht Millionen Menschen. “

    Auch ein Sektrum-Artikel von Michael Blume beschäftigt sich mit

  15. @Störk: Demographie III

    Auch ein Spektrum-Artikel von Michael Blume beschäftigt sich mit Dem Aufstieg der Gottesfürchtigen und kommt zu einer völlig anderen Schlussfolgerung als sie, Zitat:” Und inzwischen wächst zudem auch das Bewusstsein, dass es angesichts der rapiden, demografischen Verschiebungen um die Zukunft der israelischen Gesellschaft als Demokratie geht.
    In dramatischer Form steht Israel heute also vor der Frage, die jede menschliche Gesellschaft immer wieder beantworten muss: Wie lassen sich einerseits die positiven Wirkungen von Religion für Gläubige freiheitlich entfalten, zugleich aber die Gefahren von Intoleranz und Radikalisierung durch eben jene Religion abweisen?”

  16. @Störk: Bevölkerungsphantasmagorien

    Zwischen dem Jahr 0 und 1600 stieg die Weltbevölkerung von 150 Millionen auf 500 Millionen. Ihre Aussage, “Bei den Amish sind heute um die 4 Kinder normal – das ist mehr als im Rest der Bevölkerung, ….  es ist viel weniger als die 10-12 Kinder, die noch vor wenigen 100 Jahren üblich waren.” gehört somit ins Reich der Fabeln und hat mit der Realität, nämlich einem Bevölkerungswachstum vor dem Jahr 1600 von wenigen Promille pro Jahr! gar nichts zu tun. Selbst wenn sie die hohe Kindersterblichkeit einbeziehen waren 10 Kinder nie der Weltdurchschnitt. Im Mittelalter konnten Knechte und Mägde nicht heiraten und viele andere gingen ins Kloster. Die Reproduktionsrate war klein. Zwischen 1600 und 1900 stieg allein die europäische Bevölkerung von 145 Millionen auf 450 Millionen und erreichte weltweit 1.7 Milliarden Menschen. Seit dem Jahr 2010 sind wir nun bei 7 Milliarden Menschen.
    Das interessante an ihrer Mutmaßung, vor einigen hundert Jahren seien 10 Kinder normal gewesen scheint mir aber, dass sie nicht allein mit einer solchen Annahme sind. Dahinter steckt der Glaube, schon früher habe es sehr viele Menschen gegeben. Etwas was einfach falsch ist und früher auch gar nicht möglich war, weil es weder künstlichen Dünger, noch Traktoren, noch Erdöl, Kohle oder Erdgas gab.

  17. Geburtenrate != Wachstum

    Herr Holzherr,

    Meeresschildkröten legen tausende Eier, aus denen tausende kleine Schildkröten schlüpfen, von denen im Durchschnitt auch nur 2 das Erwachsenenalter erreichen.

    Verglichen damit haben sich Menschen seit jeher mehr Mühe damit gemacht, den bereits lebenden Nachkommen gute Chancen zu sichern und weniger auf die schiere Anzahl gesetzt. Dennoch war es noch vor nicht all zu langer Zeit der Fall, daß die Mehrheit der Geborenen nicht die Pubertät erlebte! Letztes Jahr starb eine kinderlose Kusine meines Schwiegervaters. Im Zusammenhang mit den Erbschaftsangelegenheiten habe ich erfahren, daß die gemeinsamen Großeltern der beiden eine 2stellige Zahl von Kindern gezeugt haben, von denen die allermeisten kaum ein Jahr alt geworden sind. So lang ist das also gar nicht her.

    Die Bevölkerungsexplosion nach der Industrialisierung hatte nichts damit zu tun, daß plötzlich mehr Kinder pro Paar gezeugt worden wären (eher sogar weniger) und alles damit, daß viel mehr Kinder überlebt haben!

  18. @Störk: Höhe Geburtenrate heute keinZiel

    Richtig: Von 10Kindern hätten unter vorindustriellen Verhältnissen vielleicht 5 überlebt, was aber immer noch zuviel waren. Effektiv zuviel, weil früher oft das bäuerlich bearbeitete Land unter den Nachkommen verteilt werden musste, was zu immer kleineren Grundstücken führte. Das war in der Zeit nach den Entdeckungen der Amerikas auch ein wichtiger Grund für die Auswanderung und in Spanien gehörten viele der späteren Konquistadores den Segundos, also den Zweitgeborenen an. Europas Eroberung der Welt geht also teilweise auf den Bevölkerungsdruck in der frühen Moderne zurück. Doch sagen sie mir doch bitte einmal wohin denn die überzähligen Ägypter heute auswandern sollen? Ohne dass es zu Krieg und Spannungen kommt? Rein vom frei werdenden Raum, wären ja Länder wie Deutschland und Italien bestens als Aufnahmeland geeignet. In den USA, Kanada, Australien und Russland hätte es noch mehr Platz. Doch gerade die hier genannten Länder haben eine äußerst restriktive Einwanderungspolitik und wollen nur denen eine Green-Card geben, die erwünscht sind. Und die meisten Afrikaner gehören nicht zu den Erwünschten. Obwohl dort fast die gesamte Weltbevölkerungszunahme stattfindet. Mit 2 Milliarden Afrikanern im Jahr 2050 und 3 bis 4 Milliarden im Jahr 2100.
    Viele Nachkommen sind nicht ein sinnvolles Ziel an und für sich, sondern wenn schon viele Nachfolgende, die ein erfülltes Leben führen können.

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