Reproduktionsstudie Evolution. Eine SciFi-Kurzgeschichte zum Bloggewitter

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Als Xitey den blauen, ganz offensichtlich von Leben überzogenen Planeten betrachtete, schmeckte sie den Aufstieg intensiver, positiver Emotionen. Aber auch eine leichte Würze von Angst durchprickelte ihre Zungen, wusste sie doch, dass der massive Zeitstrahl dieses Universums ihren eigenen Organismus schnell sterben lassen würde. Doch das war nun einmal der Preis, den sie für eine, für “die” Reproduktionsstudie zu zahlen bereit war: Wo sonst ließe sich die Wirkungsweise der Evolution so zügig überprüfen als in diesem hastigen Universum, das dafür nur ein paar Jahrmilliarden benötigte? Die kaum belebten Partikel der Physik und Chemie ließen sich beliebig oft hin und her verschieben, entsprechende Studien im Bereich der kaum belebten Materie leicht wiederholen. Aber jedes Lebewesen war einzigartig, die Evolution des Lebens ein sich nie wiederholender Strom. Wo also sonst als auf einem eigens belebten Planeten ließen sich die Argumente im Disput der grossen Fragen so weit überprüfen, wie Wissenschaft dies überhaupt vermochte?

“Datentransfer eingeleitet.”, verkündete die tiefe Stimme ihres Raumschiffes die erfolgreiche Kontaktaufnahme mit der verborgenen Sonde im Sonnensystem. “Keine Schäden, keine externen Einflüsse auf das Studienergebnis verzeichnet.”, verlautete die wichtigste Meldung. Erleichtert stieß Xitey eine grünfarbene Prise Furcht ab – wäre die Sonde innerhalb der letzten Jahrmillion entdeckt oder gar zerstört worden, wären Datenschätze verloren gegangen. Und auch, wenn es wider Erwarten doch Einflüsse anderer Zivilisationen in dieser abgelegenen Region einer kleineren Galaxie gegeben hätte, wären die Befunde verunreinigt und die Studie kaum mehr publizierbar gewesen.

“Gibt es inzwischen intelligentes Leben?”, erkundigte sich die Wissenschaftlerin bei ihrem die Datenmengen aus der Sonde saugendem Schiff. Halbbewusst schloss sie eine Greifhand um den Nothebel zum Abbruch des Experiments. Bei “Gefahr” oder “Leid ohne Hoffnung” durfte, ja musste der Evolutionsprozess dieses Planeten abgebrochen werden, hatten die Weisinnen ihres Volkes nach langer Diskussion beschlossen. Ein Zug des Hebels und ein kleiner Torpedo, der den blauen Planeten sauber zerspalten würde – schneller, gründlicher und damit auch ethischer ließ sich ein Abbruch kaum denken.

“Eingeschränkte Problemlösungskompetenz und Technologie vorhanden.”, erklärte das Schiff und spülte ihr eine kleine Datenflut zu den halbnackten und immerhin schon semi-wissenden Zweifüsslern ins Nervensystem. Sie wiesen zwar nur zwei Geschlechter, aber doch reichlich Zwischenstufen auf, zudem zunehmend komplexe Sozialstrukturen, reichhaltige kulturelle Traditionen und Neugier. Agrartechnologie, Brücken, Fahr- und Flugzeuge, aber auch Gier, Waffen und verkrustete Strukturen, die die Existenz vieler Arten samt der Spezies selbst gefährdeten. Xitey schmeckte bittere Bestürzung, als sie auf immer noch verbreitete Überzeugungen stieß, wonach der Wert eines Lebens unter diesen Wesen daran gemessen wurde, wie viele materielle Güter sie sich aneignen konnte. “Sarzin! (Dummköpfe)”, zischte sie, schwarze Bitterkeit ausstoßend, und ihre Greifhand schloss sich fester um den Abbruchhebel. Gefahr? Leid ohne Hoffnung? Sollte sie es hier und jetzt beenden?

“Haben sie die Gottheit gefunden?”, fragte sie ohne viel Hoffnung in das Schiff hinein. “Ja – jedoch erst vor sehr kurzer Zeit.”, lautete die überraschende Antwort, bevor ihr die künstliche Intelligenz die noch kurze Entwicklungslinie zur Verfügung stellte. Die Beobachterin sah Rituale, erste Bestattungen von zwei Unterarten der Primatenart, von denen sich die auch religiös komplexere durchsetzte, dann erste Höhlenkunst, Tempel, sich entwickelnde Lehren quer durch alle Kulturen – und dann auch ihn. “In dieser Gestalt hast Du Dich also hier enthüllt!”, hauchte Xitey bewegt. Ein männlicher Zweifüssler, aufgrund seiner Leidenschaft für Liebe, Glaube und Hoffnung mit kaum belebtem Metall an zwei Balken aus harten Pflanzenfasern fixiert, sterbend und doch schenkend – ein, nein das Symbol für den Altruismus aus der tiefsten Quelle, ohne den nirgendwo Leben gedieh! 

“Der intrinsische Glauben ist unter diesen Wesen noch schwach und für Irrtümer anfällig, aber die Glaubenden begründen schon überdurchschnittlich kooperative und reproduktive Einheiten.”, vermerkte das Schiff. Xitey schmeckte Zustimmung – der evolutionäre Reproduktionserfolg sagte nichts über den Wert des einzelnen Lebewesens, aber viel über die Richtung des Lebensflusses aus. Leid, aber doch Hoffnung! betete Xitey und gestattete sich etwas vom Geschmack religiöser Erfahrung. Ihre Greifhand löste sich vom Abbruchhebel. Diese Welt hatte Aussicht, den richtigen Weg zu finden.

“Wie steht es um die Weisheit?”, fragte Xitey das Schiff – denn ihr Volk hatte längst gelernt, zwischen technologischem und weisheitlichen Wissen zu unterscheiden. “Der Evolutionsprozess wurde von einem Glaubensgelehrten bereits entdeckt, der auch intuitiv die Grenzen der Erkenntnis verstand.”, verkündete das Schiff sachlich und spielte ihr Sätze eines Briefes ein, den Charles Darwin in seinem letzten Lebenszyklus geschrieben hatte. Dort lobte der wohl bedeutendste Wissenschaftler der Zweifüssler das Buch eines jungen Kollegen. „Es ist sehr lange her, dass mich irgendein Buch so sehr interessiert hat.“, schrieb er. Der Autor habe seine, Darwins „innerste Überzeugung ausgedrückt, allerdings viel lebendiger und klarer als ich es hätte tun können dass das Universum kein Resultat des Zufalls ist. Dann aber steigt in mir immer der furchtbare Zweifel auf, ob die Überzeugungen des menschlichen Geistes, der aus dem Geist niedriger Tiere entwickelt worden ist, irgendeinen Wert hätten oder überhaupt vertrauenswürdig wären. Würde jemand den Überzeugungen eines Affengeistes trauen, wenn in solch einem Geist Überzeugungen wären?“

Xitey versprühte intensive Rührung: Der größte Wissenschaftler dieser Art erfasste zugleich die Grenzen des Erkannten. Sie würde die Sätze dieses Zweifüssler-Gelehrten in ihrer Publikation der erfolgreichen Reproduktionsstudie zitieren: Die Wege, die Fragen, die Antworten entfalteten sich auch auf dieser Welt in Vielheit und Einheit. Deutlicher konnten die Befunde kaum schmecken!

“Daten erfolgreich übertragen. Rückflug jetzt möglich.”, meldete das Schiff und Xitey meinte ein Hauch von Sorge zu vernehmen. “Rückflug in unser Universum.”, ordnete sie mit brechender Stimme an, um große Teile ihrer Lebensspanne gealtert. Während ihr Raumer wendete und beschleunigte, wanderten ihre Gedanken zu Tentyl, der auf sie wartete. Er hatte ihr in jener rauschaft nach Liebe und Trauer duftenden Nacht auf ihrem gemeinsamen Heimatplaneten versprochen, sie nach ihrer Rückkehr auf ihrem letzten Weg zu pflegen. Er hatte verstanden: Sie MUSSTE dieses Reproduktionsstudie begleiten, auch wenn es fast ihr ganzes Leben kostete. Insgesamt 120 Welten in vier Universen waren isoliert und bepflanzt worden, um in der intergalaktischen Reproduktionsstudie die Verläufe der Evolutionsprozesse zu vergleichen. Sie wollte noch lange genug leben, um die Befunde der anderen zu erfahren! Dann würde sie zur Gottheit gehen, aber ihr Name würde in den Annalen des Wissens überleben. Billiger war Wissenschaft nicht zu haben.

Xitey schmeckte tiefes Glück.

* Diese (mit Humor abzuschmeckende) Kurzgeschichte entstand nach einer Idee beim Lesen des hervorragenden Blogposts von Joachim Schulz. Ihm sei sie daher dankbar gewidmet.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

23 Kommentare

  1. Kritikvermögen

    Eine vererbbare Gehirnstruktur oder eine kulturell vermittelte Lehre, die das Kritikvermögen partiell oder gar selektiv einschränkt, kann ohne weiteres den Vermehrungserfolg erhöhen.

    Das vollständige Verstehen der Naturgesetze der Evolution und des Universums kann unter Umständen den Vermehrungserfolg verringern.

    Wenn man zum Beispiel alle angeborenen und anerzogenen Wünsche als fremdgesteuert ablegt, dann wird man überhaupt nichts mehr tun.

    Oder wenn man zum Beispiel erkennt, dass das Leben in seiner Gesamtheit sowohl sinnlos ist, als auch auf reinem Zufall beruht.

    Oder wenn man zum Beispiel erkennt, dass man selbst nur ein Wegwerforganismus mit Ablaufdatum ist, der sein Erbmaterial instinktgesteuert ins Ziel bringen soll.

    Oder wenn man zum Beispiel erkennt, dass im unendlichen Multiversum überhaupt alles passiert, was passieren kann.

  2. Erster Nachtrag

    Oder wenn man zum Beispiel erkennt, dass grundsätzlich jede Information falsch sein kann, so dass weder die Existenz von Mitmenschen, noch die Existenz einer Umwelt als gesichert gelten kann.

    Das kann man übrigens leicht im Traum testen.

  3. @Karl Bednarik

    Ja, diese und viele weitere Wahr-Nehmungen sind uns möglich – und sie zeitigen je unterschiedliche Resultate. Will uns das Sein damit etwas sagen oder lauschen wir immer nur uns selbst? Wenn die Kurzgeschichte zum Sinnen anregte, so schmeckt Xitey Glück! 🙂

  4. Evolutionsstatistik

    Sehr schönes Beispiel!
    Kennst du die Rama-Romane von Arthur C. Clarke? Im vierten Band, “Rama Revealed”, den er zusammen mit Gentry Lee geschrieben hat, verfolgt er eine ganz ähnliche Idee, wie die zu deiner Kurzgeschichte.

  5. Sehr schön!

    Schmunzeln musste ich, noch bildhaft-gedanklich in den auch unseren eigenen Planeten umfassenden Kosmos blickend, beim Lesen der Frage “Gibt es inzwischen intelligentes Leben?”

  6. @Joachim

    Danke für den Lesetip – ich kenne das hinduistische Ramayana, das Werk von Clarke aber noch nicht. Diese Kurzgeschichte fusst auf der Lektüre eines Buches von Antoinette Brown Blackwell – und Deines Blogposts, bei dem es beim Geschichten-Satz plötzlich “Klick“ machte. Clarke war es nicht, sondern Du! 🙂

  7. @Joe & @Stefan: Danke! 🙂

    Lieben Dank, dieses Lob bedeutet mir viel, denn schon länger ringe ich mit dem Gedanken, ob sich die nur teilweise rationale Religion nicht auch über andere teil-rationale Wege wie Kunst, Literatur o.ä. erläutern ließe. Einmal hatte ich es auch schon mit einem Gedicht versucht,mit auch ganz netten Reaktionen:
    https://scilogs.spektrum.de/…ottes-tod-oder-gottes-weg

    Da es Euch gefiel, denke ich in die Richtung gerne weiter!

    Dankbare Grüße!

  8. Festlegung

    Beim Glauben handelt es sich um eine Festlegung auf eine bestimmte Annahme, die zu einer Anzahl von mehreren möglichen Annahmen gehört.

    Der Theist nimmt die Existenz Gottes an.
    Der Atheist nimmt die Nichtexistenz Gottes an.
    Der Agnostiker erkennt, dass er nicht weiss, ob es Gott gibt.

    Wenn man nur eine Annahme von vielen möglichen Annahmen berücksichtigt, dann engt das vermutlich die geistige Beweglichkeit ein.

    Die meisten Glaubensrichtungen fürchten sich vor Kritikern und Ungläubigen, die andere Möglichkeiten in Betracht ziehen.

    Für den Reproduktionserfolg ist die volle geistige Beweglichkeit nicht unbedingt erforderlich.

    Wenn die Evolution einen Teil des menschlichen Kritikvermögens wegzüchten kann, dann spricht das eher gegen die Evolution.

    Die Evolution sperrt eine zu grosse Anzahl von Lebewesen in einen zu kleinen Käfig, und sieht dann gelassen zu, ob sie verhungern, oder sich gegenseitig totbeissen, was natürlich ebenfalls nicht sehr freundlich ist.

  9. @Karl Bednarik

    Nicht nur Glaubensannahmen (theistischer, agnostischer oder atheistischer) Art engen in der Tat “Freiheiten” ein, sondern auch z.B. Beziehungen (z.B. zwischen Liebenden, Menschen oder Xitey und Tentyl).

    Wer von allem frei sein will, verbleibt beziehungs- und meist auch nachkommenlos. Gelingendes Leben heißt auch, den Mut zu unbedingten Bindungen zu fassen.

  10. Hallo Michael Blume,

    was man als “gelingendes Leben” bezeichnet, das hängt ganz vom persönlichen Geschmack ab, und nicht von der Anzahl der Nachkommen und der Art der Bindungen.

    Auch die geistige Freiheit und die soziale Freiheit erfordern Mut.

  11. @Karl Bednarik

    Aus der individuellen Perspektive: Ja, selbstverständlich. Schon wenn man auch andere Menschen einbezieht (zu denen man dann ggf. Bindungen verweigert oder auflöst), sieht es schon anders aus.

    Oder wie schon Luther erkannte: “Das, woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.” Zur Auswahl steht eine ganze Menge und die Folgen unterscheiden sich in vielfältiger Weise…

  12. Hallo Michael Blume,

    es ist durchaus möglich, dass der Glaube die Anzahl der Nachkommen erhöhen kann, wenn man von einigen Nonnen, Mönchen und Priestern absieht.

    Wenn man nun auch die anderen Menschen einbezieht, dann kann man leicht erkennen, dass ein Vermehrungsfaktor, der grösser als eins ist, zur gegenseitigen Schädigung der Nachkommen führen muss, weil der Lebensraum nicht unendlich gross ist.

  13. @Karl Bednarik

    Da rennen Sie bei mir nun aber wirklich offene Türen ein: Mir läge es fern, den evolutionsbiologischen Fitness-Begriff (differentieller Reproduktionserfolg) unreflektiert als Güte- oder gar Wahrheitskriterium gelten zu lassen!

    Entsprechend habe ich dazu hier auch schon einmal einen eigenen Blogpost geschaltet, an dessen intensiver Diskussion Sie aber, wie ich sehe, damals nicht beteiligt waren. Ihre Meinung würde mich dort dazu sehr interessieren:
    https://scilogs.spektrum.de/…age-an-darwins-geburtstag

    Beste Grüße!

  14. Vorsicht @Karl B.

    > kann man leicht erkennen, dass ein
    > Vermehrungsfaktor, der grösser als eins
    > ist, zur gegenseitigen Schädigung der
    > Nachkommen führen muss,

    … Sie tappen geradewegs in die Falle des Malthusiamismus. (Kann jedem passieren, laut Dr. Blume’s Buch waren weder Darwin noch Wallace davor gefeit) Der Fehler von Malthus bestand darin, jeden Menschen nur als “Senke von Ressourcen” , konkret als “hungrigen Magen” zu betrachten. Tatsächlich ist in unserer hoch arbeitsteiligen Welt jeder wirtschaftlich tätige Mensch auch eine Quell von Ressourcen für seine Mitmenschen: sei es der Genforscher, der dem Ackerbauern Getreidesorten verfügbar macht, die doppelten Ertrag pro Fläche liefern bei drastisch verringertem Pestizid-Einsatz, sei es der PC-Techniker, der dem Genforscher seinen Laptop repariert, sei es der KFZ-Mechatroniker, der dem PC-Techniker die Anfahrt zum Genforscher ermöglicht, sei es der Bäcker, bei dem der KFZ-Mechatroniker seine Brötchen kauft, oder wiederum der Bauer, der das Getreide anbaut, aus dem der Bäcker die Brötchen bäckt… mehr Menschen im Wirtschaftskreislauf sind nicht nur “mehr hungrige Mägen” sondern auch “mehr innovative Köpfe” und “mehr helfende Hände” und damit auch eine Quelle zusätzlicher Ressourcen! Nur deswegen war es möglich, daß über die letzten 50-60 Jahre nicht nur die absolute Zahl von Menschen auf diesem Planeten ständig zugenommen, sondern gleichzeitig die Zahl der absolut armen, Hunger leidenden Menschen ständig abgenommen hat.

    So weit hat Malthus nicht gedacht, für ihn waren die verfügbaren Ressourcen eine “von außen vorgegebene Konstante”, auf die die Menschen nur marginal Einfluß nehmen könnten. Diesen Fehler, Bevölkerungswachstum nicht mit zunehmendem, sondern mit abnehmendem Wohlstand zu korrelieren, haben leider viele einflußreiche Denker perpetuiert – sämtliche Sozialdarwinisten eingeschlossen, bis hin zu Paul Ehrlich mit seiner “population bomb” und Gunnar Heinsson mit seinem “youth bulge”.

    Das “Malthusianische Horrorszenario”, daß ein Ehepaar 5 Kinder hat, von denen 4 jeweils wieder Familien gründen, und sich damit in jeder Generation die Bevölkerungsdichte verdoppelt, war selbst zu Lebzeiten von Malthus ein Ausnahmephänomen, das aus schnell wachsendem Wohlstand und drastisch verringerter Kindersterblichkeit resultierte: hohe Kinderzahlen waren nämlich seit jeher eine Anpassung an hohe Kindersterblichkeit. Eine Anpassung, die von Menschen gerne innerhalb weniger Generationen wieder aufgegeben wird, wenn die Rahmenbedingungen sich gebessert haben.

    Leider gibt es Misanthropen und Weltuntergangs-Fanatiker, die der festen Überzeugung sind, überall dort, wo heute noch hohe Kindersterblichkeit mit hoher Fruchtbarkeit einhergeht, müsse erstere aufrechterhalten werden, damit letztere nicht zur “Bevölkerungsexplosion” führt – genau diese Gruppe von Menschenfeinden hatte ihren größten Erfolg, als weltweit die Malaria-Bekämpfung mit DDT verboten wurde. Nein, das war keine Verschwörung, das fand in aller Öffentlichkeit statt.

  15. @Blume

    Zu Malthus & seinen “Erben” hab ich in letzter Zeit so einiges gelesen, und es ist wirklich erschreckend: ich muß mich nicht mehr wundern, wenn aus der Grünen Ecke jemand einen “Öko-Diktatur” fordert und dabei wie ein Nazi klingt – ich verstehe jetzt, wo das gemeinsame Fundament beider “Bewegungen” liegt, und dieses Fundament ist tatsächlich so etwas banales wie eine Fehlannahme über den Gültigkeitsbereich eines stark vereinfachten mathematischen Modells.

    Zum Buch insgesamt gibt es noch mehr zu schreiben, aber nicht mehr heute nacht 🙂

  16. @Störk: Malthusianismus

    Ja, mich hat es auch beeindruckt, dass ein und dieselbe Lehre einerseits sowohl Darwin wie Wallace den Weg zum Verständnis der natürlichen Selektion weisen und zugleich so sehr und fernwirkend als vermeintliche “weltliche Verdammnis“ wirken konnte… Während der Malthusianismus in der wissenschaftlichen Demografie längst überwunden wurde spukt er noch immer durch das öffentliche Bewußtsein und entfaltet giftige Wirkungen.

    Für heute aber einfach eine gute Nacht!

  17. Falle des Malthusianismus?

    @Karl Bednarik schrieb:

    »Wenn man nun auch die anderen Menschen einbezieht, dann kann man leicht erkennen, dass ein Vermehrungsfaktor, der grösser als eins ist, zur gegenseitigen Schädigung der Nachkommen führen muss, weil der Lebensraum nicht unendlich gross ist. «

    @Störk erwiderte:

    »Vorsicht @Karl B. … Sie tappen geradewegs in die Falle des Malthusiamismus.«

    Karl Bednarik weist im Grunde nur auf den Zusammenhang von Populationsgröße und Nahrungsressourcen hin. Jede Population kann nur so lange wachsen, wie sie genügend Nahrung zur Verfügung hat. Soweit ich weiß, ist diese Behauptung bislang noch nicht falsifiziert worden.

    @Störk:

    »…mehr Menschen im Wirtschaftskreislauf sind nicht nur “mehr hungrige Mägen” sondern auch “mehr innovative Köpfe” und “mehr helfende Hände” und damit auch eine Quelle zusätzlicher Ressourcen!«

    Dummerweise werden die Menschen nicht als „innovative Köpfe” oder “helfende Hände“ geboren, sondern eben nur als „hungrige Mägen“.

  18. @Balanus

    Jede Population kann nur so lange wachsen, wie sie genügend Nahrung zur Verfügung hat.
    Diese These gilt nur für Arten, die ihre Nahrung nicht selbst produzieren. Für die Spezies Mensch galt dies bis zur “neolithischen Revolution”: fast 1 Million Jahre war die Bevölkerungsdichte durch die jagdbaren Tiere und wilden Früchte begrenzt – dann fing der Mensch an, seine Nahrung selbst anzubauen, und schwupps, entstanden Städte. 10.000 Jahre lang war der limitierende Faktor nicht mehr “verfügbare Nahrung” sondern “bebaubare Ackerfläche” und dann kamen recht schnell hintereinander die industrielle Revolution, der Kunstdünger, der Diesel-Trecker und die Gentechnik – Dinge, zu deren Erforschung man Leute brauchte, die sich mit völlig anderen Dingen beschäftigten als mit der Jagd oder dem Ackerbau.

    Dummerweise werden die Menschen nicht als „innovative Köpfe” oder “helfende Hände“ geboren, sondern eben nur als „hungrige Mägen“. Klugerweise haben der liebe Gott und die Evolution es so eingerichtet, daß die “neugeborenen hungrigen Mägen” im Regelfall Eltern haben, die sich teilweise jahrzehntelang darum kümmern, “daß aus den Kindern was wird”.

  19. @Störk

    » Jede Population kann nur so lange wachsen, wie sie genügend Nahrung zur Verfügung hat.
    Diese These gilt nur für Arten, die ihre Nahrung nicht selbst produzieren.«

    Nein, diese „These“ gilt für alle Lebensformen, vom Bakterium bis zum Menschen. Woher die Nahrung oder Energie stammt, oder ob die Nahrungsproduktion beliebig gesteigert werden kann, spielt hierbei keine Rolle. Ohne ausreichende Energiezufuhr kein Wachstum.

    »Klugerweise haben der liebe Gott und die Evolution es so eingerichtet, daß die “neugeborenen hungrigen Mägen” im Regelfall Eltern haben, die sich teilweise jahrzehntelang darum kümmern, “daß aus den Kindern was wird”.«

    Der „liebe Gott und die Evolution“ haben es so eingerichtet, dass Kinder zum Wachsen Nahrung brauchen. Wenn in der Bevölkerung Nahrung fehlt, sind die Kinder die ersten, die verhungern. Das macht aus evolutionärer Sicht durchaus Sinn.

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