REMID-Blogger Christoph Wagenseil im NdG-Bloginterview
BLOG: Natur des Glaubens
Auch schon bevor es Blogs gab, bemühten sich einige Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler um die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse in die weitere Öffentlichkeit. In Marburg wurde dazu 1989 beispielhaft der religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst REMID gegründet. Seit kurzem hat nun auch REMID einen Blog. Daher ist es mir eine Freude, Ihnen den REMID-Blogger Christoph Wagenseil vorstellen und ihn (reziprok zu einem REMID-Gespräch mit mir) hier interviewen zu können.
Christoph Wagenseil ist Jahrgang 1980. Er studierte Deutsche Sprache und Literatur, Religionswissenschaft und Philosophie in Marburg. Seine Magisterarbeit 2006 verfasste er über "Religion und Krankheit im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793)". Seit 2006 führt er Besuchergruppen durch die Religionskundliche Sammlung Marburg und ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters an der Philipps-Universität Marburg. Er arbeitet derzeit an seiner Promotion über die Rezeption von Reiseberichten in Journalen der Aufklärungzeit.
Interessengebiete: Europäische Religionengeschichte, Okkulte Kunst, Postcolonial studies, Wissenschaftstheorie, "Magie"-Diskurse, Hermetic studies, Orientalismus, Aufklärung und Anthropologie.
Bei REMID absolvierte Christoph 2005 ein Praktikum, wirkte danach ehrenamtlich mit und ist seit Mai 2009 Beisitzer im Vorstand.
Michael Blume: Seit einigen Jahren unterstütze ich als Mitglied REMID und bin begeistert, dass Ihr nun auch einen Blog startet. Kannst Du erklären, was REMID ist und warum noch mehr Menschen es fördern sollten?
Christoph Wagenseil: REMID, das ist der Religionswissenschatliche Medien- und Informationsdienst, und uns gibt es jetzt seit 1989. Er entstand durch eine kleine Handvoll idealistischer Religionswissenschaftler, die nach dem Studium etwas mit ihrem Fach machen wollten. Manche von ihnen sind inzwischen Professor für Religionswissenschaft oder Religionspsychologie, Verleger und anderes. Ich selbst gehöre eher der zweiten (oder dritten?) Generation an.
Uns ging es darum, unabhängige Informationen für die Öffentlichkeit und die Medien bereitzustellen – in der Überzeugung, auf diese Weise ein Klima für mehr Toleranz zu befördern. Das kann darin bestehen, dass wir religiöse Zeitschriften aller Art sammeln, um sie nicht nur für Forscher bereitzustellen, ein unglaubliches Material an grauer Literatur, die sonst kaum eine Bibliothek enthält. Das können wissenschaftliche Tagungen sein, Ausstellungen wie "Gesichter des Islam", Workshops, Führungen, die Lernwerkstatt Weltreligionen für Jugendliche und vieles mehr.
Es geht uns um eine Perspektive der Anerkennung bzw. eine – wo nötig – deeskalierende.
MB: Bisher finde ich vor allem sehr spezielle Fragenstellungen auf dem REMID-Blog, was mir einerseits sympathisch ist – denn über allgemeine oder tagesaktuelle Fälle gibt es im Zweifel genug. Welche Zielgruppen hat der REMID-blog über das religionswissenschaftliche Fachpublikum hinaus?
CW: Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier noch ein wenig auseinander bzw. der Anspruch schnellt oft zu hoch bzw. die Artikel werden mir zu lang. An und für sich möchte ich aber eigentlich schon jederfrau und -mann ansprechen, insofern sie/er sich für religionswissenschaftliche Belange oder Religionen interessiert. Es dürfte eher ein gebildetes Publikum angesprochen werden. Das ist klar. Aber der Maßstab liegt wohl zwischen Journalismus und Wissenschaft. Manche Artikel sprechen so auch schonmal Religionswissenschaftler im Allgemeinen an.
Die Themenwahl ist teilweise auch durch Tagesgeschehen bestimmt. Oft bringen manche Texte anderer Medien einen erst auf die Idee für einen Artikel oder wen man noch um ein Interview bitten könnte.
MB: Religionswissenschaftler dürfen religiös sein, müssen es aber nicht und es gibt in unseren Reihen von eigener Frömmigkeit bis zu entschiedener Religionskritik eine große Bandbreite. Da fragt man sich doch: Kann es so etwas wie neutrale Information überhaupt geben?
CW: Ich bin mir nicht so sicher, dass die Formel einfach zu unterschreiben ist, Religionswissenschaftler dürfen religiös sein. Etwa auch wenn man fragt, welche Religion er haben darf und welche besser nicht etc. So wie es für die sich von der Theologie über einen langen historischen Prozess emanzipierende Religionswissenschaft wichtig ist, zu betonen, dass sie nicht konfessionell bzw. religiös gebunden ist, dass sie empirische Wissenschaft betreibt nach strengen philologischen oder sozialwissenschaftlichen Kriterien. Wie man an den Debatten um Postkolonialismus und Eurozentrismus sehen kann, ist das, was auf diese Weise entsteht, auch nicht wirklich letztendlich "objektiv" oder "neutral", aber es besteht meiner Ansicht nach in der analytischen Metaebene auf jeden Fall ein erheblicher Fortschritt der Erkenntnisse.
Oben habe ich aus solchen Gründen auch bewusst betont, es ginge REMID um unabhängige wissenschaftliche Information. Dabei verfolgen wir aber auch betont "nicht-neutrale" Interessen, etwa für ein Miteinander der Religionen, für ein positives Recht der Freiheit auch für Religionen bzw. Religiosität / Spiritualität und für ein positives Konzept von religiösem Pluralismus, für Toleranz in einem nicht-passivischen Sinn.
MB: Der Scienceblogger Christian Reinboth hat in einem viel beachteten Blogbeitrag neulich moniert, dass Religion immer wieder Thema in deutschsprachigen Wissenschaftsblogs sei – aber auf eine wenig informierte, skandalisierende und negativ verzerrte Weise. Und auch die ZEIT-Autorin Astrid Herbold beschrieb die Dominanz der "angry white men" in der deutschsprachigen Blogosphäre, an der zum Beispiel entsprechend wenig Frauen teilnähmen. Kann oder muss man in einem solchen Umfeld über Religion(en) sachlich informieren?
CW: Ich finde es teilweise erschreckend, diese Entwicklungen, so sehr ich den Humor mancher z.B. Skeptiker ansonsten schätze, die Tendenz der Polemik, die teilweise schon weit unter die Gürtellinie reicht oder an Volksverhetzung grenzt, ist gravierend.
Dabei gibt es aber doch auch ein paar Ausnahmen. Insgesamt sehe ich aber eine Tedenz, die uns bei REMID auch ansonsten Sorgen macht. Ein wichtiges Ressort von uns ist ja die Statistik. Ein anderes allgemein Anfragen zu religiösen Gemeinschaften. Letzteres ist in letzter Zeit eher rückläufig. Der Islam scheint insgesamt zu einem zwar immer wichtigeren Thema geworden zu sein, aber zugleich glauben alle, genug bereits über seine Inhalte zu wissen und fragen aus offensichtlich zweifelhaften Gründen nach Zahlen: wie viele Moscheen gibt es in Deutschland, wie viele Konvertiten in den Islam usf. Zu diesem leider doch häufig spürbarem Bild des Islams kommen Eindrücke mancher Formen von Christentum, z.B. in den USA, etwa Kreationismus – und begründen eine neue Radikalpolemik gegen Religionen als solche.
Zugleich bilden sich Atheismen wie der "evolutionäre Humanismus" oder die Autoren des New Atheism, welche sozusagen "Entwicklungsprogramme" haben, in anderen Worten: bestimmten (z.B. religiösen) Dingen den Kampf ansagen. Dass dabei häufig Legenden über Religionen entstehen bzw. Klischees kaum von Fakten in dieser Literatur zu trennen sind, ist den Anhängern derselben kaum vermittelbar. Vermutlich weil es an der Grundüberzeugung, letztlich Religionen als solche problematisieren zu wollen, nichts ändert, ob z.B. Colin Goldners Bezeichnung des Dalai Lamas als "Gottkönig" angemessen oder Humbug ist. Im Gegenteil gewinnt man den Eindruck, dass es hier gar nicht darum geht, den Gegenstand der Kritik näher kennenzulernen.
Andererseits ist es oft ein religionsähnliches Wissenschaftsverständnis, was eine solche Kampfeslust antreibt. Da setze ich mit meinen speziellen Fragestellungen an. Aus philosophischer Perspektive sind nämlich manche dieser Scienceblogger und Naturwissenschaftler die krassesten Ontologen. Natürlich ist eine erkenntnistheoretisch begründete Empfehlung des Agnostizismus aber auch schwer nachvollziehbar ohne geisteswissenschaftliche Grundlagen. Auch Naturwissenschaften haben etwa metaphysische Prämissen und seien es solche nicht nur philosophiegeschichtlich relevanten Positionen wie diejenige, dass die Natur keine Sprünge mache (was trotz der Auseinandersetzungen um den "Quantensprung" weiterhin Aktualität besitzt).
Mit anderen Worten: Es handelt sich meiner Ansicht nach auch um ein erstes Anzeichen der allgemeinen Unkenntnis geisteswissenschaftlicher Grundlagen. Bzw. des Rückgangs ihrer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit.
MB: Da Harry Potter inzwischen gesiegt hat, ist jetzt auch wieder Platz für andere Wünsche. Als was wird sich der REMID blog bis 2012 etabliert haben?
Bei Harry Potter gibt es ja eine merkwürdige Allianz vieler wissenschaftlicher Blogger mit manchen Theologen in der Kritik dieses Magie-Epos.
Schön wäre doch, wenn der REMID-Blog bis Ende 2012 nicht nur in der Blogosphäre oder im Fach Religionswissenschaft bekannter wäre, sondern auch schonmal von konventionellen Medien wie den einschlägigen Zeitungen oder gar Sendern wahrgenommen worden ist. Zudem könnte die Interview-Idee durchschlagen, eventuell ein paar regelmäßige Autoren und im besten Fall ein unvermuteter Preis. 😉
MB: Lieber Christoph, vielen Dank für das Blog-Interview – und viel Freude und Erfolg mit dem REMID-Blog! Wie es nur online möglich ist, wirst Du hier in den nächsten Tagen ggf. weiteren Fragen der Blogleserinnen und -leser gerne zur Verfügung stehen.
NdG-Blog-Lesetip: Just in diesen Tagen ist das Gehirn und Geist-Dossier 02/2011 "Glaube und Aberglaube – Forscher ergründen den Sinn fürs Übersinnliche" erschienen. Wer sich für die (auch natur-)wissenschaftliche Erforschung von Religiosität und Religionen interessiert, wird in diesem Heft vielfach fündig werden.
An Chr. Wagenseil
Der Terminus ‘krasser Ontologe’ klingt gut!!! Können Sie erläutern, was ein Ontologe und wann er krass ist?
Toleranz
Sehr geehrter Herr Wagenseil, sehr geehrter Herr Dr. Blume,
bestimmt haben Sie beide Ihr Interview vor der Katastrofe in Norwegen getan, doch bin ich wegen der Aktualität erschüttert. Der Hass auf Mit-Menschen anderen Glaubens und anderer Weltanschauung scheint den Täter isoliert, vergiftet und dann zu Mord bewegt zu haben. Danke, dass Sie dagegen an-informieren!
Danke für die Rückfragen. Ja, das Interview ist vor den Ereignissen in Norwegen geführt worden. Diesbezüglich kann ich nur sagen, dass Religionswissenschaftler um so intensiver gegen solche Tendenzen anarbeiten müssen.
Zu der Rückfrage: Ich halte mich kurz, denn es gibt online dazu einiges zu finden. Eine Ontologie ist eine Lehre vom Sein. Man muss dabei die Begriffe ontologisch (eine solche Lehre betreffend) und ontisch (das Sein betreffend) auseinanderhalten. Ein Ontologe hat also eine bestimmte Seinslehre. Diese verwendet eine Erkenntnistheorie (Epistemologie), um zu legitieren, was sie als seiend und was als nicht-seiend lehren kann.
Allerdings kann auch wiederum eine Erkenntnistheorie selbst argumentativ abhängig sein von einer Ontologie. Das ist eine zirkuläre Begründung. Das ist z.B. der Fall, wenn man die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis abhängig macht von Erkenntnissen der Biologie oder Neurophysiologie. Das ist damit aber noch keine Faktenkritik z.B. an diesen Wissenschaften oder einer so formulierten Erkenntnistheorie, insistiert aber im Grunde auf moderne Weise auf dem berühmten “Ich weiß, dass ich nichts weiß”.
Das Adjektiv “krass” erläutere ich mal mittels des Wörterbuchs der Gebrüder Grimm:
“krass, plump, grob, derb, dann arg, schrecklich, fürchterlich, nach lat. crassus, doch vermengt mit grasz, gräszlich; ein in manchen kreisen beliebtes superlativisches kraftwort, bes. studentisch (krasser fuchs, kerl), seit ende 18. jh., wol eben aus der studentensprache: du krasser philister! Körner 248b;…” (Bd. 11, Sp. 2069).
Dumme Fragen
“Es gibt keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten”, glaubt das Volk, und fragt immer wieder die hohe Politik, mit welcher Finanz- oder Wirtschaftspolitik die “Finanzkrise” zu beenden sei. Die dummen Antworten der Politiker werden immer erst im Nachhinein als solche erkannt, was das Volk nicht davon abhält, weiterhin dumme Fragen zu stellen. So fragen jene, die sich haben einreden lassen, die “Finanzkrise” sei schon beendet, mit welcher Finanz- oder Wirtschaftspolitik die “Schuldenkrise” zu beenden sei.
Das erkenntnistheoretische Problem besteht darin, dass eine intelligente Frage nur stellen kann, wer den Großteil der Antwort schon kennt. Die erste intelligente Frage lautet: Warum glauben Politiker, es könnte überhaupt eine wie auch immer geartete Finanz- oder Wirtschaftspolitik geben, um die “Finanzkrise” (korrekt: beginnende globale Liquiditätsfalle nach J. M. Keynes) zu beenden? Die Antwort formulierte der Freiwirtschaftler Otto Valentin in einem Satz:
“Im Grunde ist Politik nichts anderes als der Kampf zwischen den Zinsbeziehern, den Nutznießern des Geld- und Bodenmonopols, einerseits und den Werktätigen, die den Zins bezahlen müssen, andererseits.”
(aus “Warum alle bisherige Politik versagen musste”, 1949)
Daran hat sich bis heute nichts geändert, bis auf die Tatsache, dass der Krieg – zwecks umfassender Sachkapitalzerstörung, um den Zinsfuß hochzuhalten – nur solange der Vater aller Dinge sein konnte, wie es noch keine Nuklearwaffen gab! Es bleibt also nichts anderes übrig, als die “Mutter aller Zivilisationsprobleme”, die Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz, endlich durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform abzustellen. Weil aber “Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld” (Silvio Gesell, 1916) wiederum das, was wir heute – am Ende des zivilisatorischen Mittelalters – als “hohe Politik” bezeichnen, überflüssig macht, kann ein Politiker die freie Marktwirtschaft ohne Kapitalismus (echte Soziale Marktwirtschaft) gar nicht erst andenken.
Die zweite intelligente Frage lautet: Welcher kollektive Wahnsinn ließ die halbwegs zivilisierte Menschheit Massenarmut, Umweltzerstörung und Krieg in Kauf nehmen und heute vor der größten anzunehmenden Katastrophe der Weltkulturgeschichte stehen, statt in allgemeinem Wohlstand auf kaum noch vorstellbarem technologischem Niveau in einer sauberen Umwelt und selbstverständlichem Weltfrieden zu leben? Die Antwort auf diese Frage führt über das größte Mysterium der modernen Kunst zum größten Geheimnis der Menschheit:
“Man bedenke, es handelt sich nur um einen Roman. Die Wahrheit wird – wie stets – weit erstaunlicher sein.”
Arthur C. Clarke, Vorwort zu “2001”
Herzlich Willkommen im 21. Jahrhundert
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