Neue Gesellschaften zur Erforschung der (bio-)kulturellen Evolution

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Dass nicht nur biologische Traditionen – wie zum Beispiel Pflanzen – evolvieren, sondern auch kulturelle Traditionen – wie zum Beispiel Sprachen oder Religionen – wusste bereits Charles Darwin. Doch nachdem deutsche Stimmen wie Ernst Haeckel gleich im 19. Jahrhundert mit “monistischen” Ansprüchen völlig überzogen, setzte nach dem zweiten Weltkrieg eine ebenso gründliche Distanzierung ein: Selbst unter deutschsprachigen Evolutionsforschenden kann man heute noch auf die irrige Auffassung vertreten, Evolution sei “nur biologisch” zu verstehen – oder es gebe nur krude Modelle zur kulturellen Evolution (Darwinismus vs. Lamarckismus, Gen – Mem o.ä.).

Tatsächlich finden jedoch unter den Stichworten der Gene-Culture-Coevolution oder eben der biocultural evolution seit Jahrzehnten eine wachsende Zahl empirisch orientierter Forschungen statt, die nicht nur längst bekannte Beispiele wie die Laktoseintoleranz erkunden, sondern auch zum Beispiel darauf hinweisen, dass sich ohne die menschlichen, kulturellen Traditionen des Kochens auch unsere Anatomie (Zähne, Gebiss, Darm, Gehirn etc.) überhaupt nicht hätte in seine heutigen Formen entwickeln können. Natur und Kultur sind evolutionsgeschichtlich gesehen keine Gegensätze, sondern wechselwirkende “Tanzpartner”.

BiokulturelleEvolution

Zu dem Thema hatte ich nicht nur in Büchern und Blogs immer wieder geschrieben, sondern auch z.B. hier in einem (kostenlos abrufbaren) Studienbrief für Kollegen der Universität Freiburg. Eindrucksvoll und empfehlenswert finde ich jedoch auch die Beiträge jüngerer Kollegen, beispielsweise diesen Blogpost zur Evolution von Ritualen von Rimtautas Dapschauskas bei L.I.S.A. (Portal der Gerda Henkel-Stiftung).

Im englischsprachigen Forschungsbereich ist man dazu freilich schon weiter – erst neulich hatte ich beispielsweise einen ganzen Sammelband zu Religion(en) & Reproduktion vorgestellt, in dem die Unterscheidung sowie Wechselwirkung biologischer und kultureller Evolutionsprozesse bereits selbstverständlich ist.

Längst haben sich auch spezialisierte Forschungsgesellschaften und Institute zum Thema gegründet, so das Institute for the Bio-Cultural Study of Religion (IBCSR).

IBCSR

In Gründung befindet sich auch bereits eine Society for the Study of Cultural Evolution (SSCE).

SSCEHeader

Als vor allem deutschsprachiger Religionswissenschaftler, Autor & Blogger hoffe ich sehr, dass sich die Kenntnis von den komplexen, aber auch erkenntnisreichen und sehr relevanten Forschungen zur (bio-)kulturellen Evolution verbreiten und dass auch wir selbst daran anknüpfen, dazu mehr beitragen können. Herausragende, auch deutschsprachige Forscher wie Friedrich August von Hayek haben bereits vorgemacht, dass sich auf diesem Wege unglaublich viel entdecken und besser verstehen lässt!

 

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

24 Kommentare

  1. Aus jeder Banalität kann man eine Wissenschaft machen. Da die Kultur nur ein anderer Begriff für gewisse Phänomene der Biologie ist, liegt es auf der Hand, dass auch die Kultur mit der biologischen Evolution verknüpft ist. Auch bestimmte Formen der Sexualität sind kulturell überformt, trotzdem ist die sexuelle Selektion ein Aspekt der biologischen Evolution. Auch die Nahrungsaufnahme mit Auswahl und Zubereitung ist eine solche Zwittererscheinung.

    Alles Tun und Verhalten des Menschen ist mit Kultur überformt, bleibt aber trotzdem zwingend Teil seiner Biologie. Vieles von dem, was angeboren erscheint, ist in Wirklichkeit kulturell erlernt. Jede Art hat ihre Spezifitäten, sonst müsste man die Arten nicht unterscheiden. Beim Menschen ist es die Komplexität des Gehirns und dadurch die hohe Variabilität seines Verhaltens. Dass bestimmte Spezifitäten der Arten wiederum bestimmte Spezifitäten der Evolution nach sich ziehen, ist nicht erstaunlich.

    Der Engländer John Lubbock, ein enger Freund und sogar Mitarbeiter von Charles Darwin, hat nicht nur das Verhalten und die “Kultur” der Ameisen und Wespen, sondern auch die Ursprünge der Religion erforscht.

    • Unsere Anatomie – einschließlich der sozialen und rationalen Fähigkeiten unseres Gehirns – hätte ohne kulturelle Fähigkeiten (wie das Kochen) nicht entstehen können. Und ohne Rituale, Sprache, Musik und Religion hätte sich unsere Art nicht so entwickelt, wie sie heute ist. In “jüngster Zeit” kamen schließlich weitere kulturelle Fähigkeiten wie das Lesen und Schreiben, die Wissenschaft und das Internet dazu – das finden die allermeisten Kolleginnen und Kollegen wie auch ich ganz und gar nicht “banal”!

      Und ja, zur Evolution von Religiosität und Religionen gab es schon vor, neben und nach Darwin die unterschiedlichsten Thesen, in Deutschland z.B. Gustav Jäger:
      http://www.spektrum.de/magazin/der-glaube-ist-eine-waffe-im-kampf-ums-dasein/983270

      Leider haben ideologische Grabenkämpfe im 20. Jahrhundert zu einem Forschungsstillstand, sogar Rückschritt geführt – doch jetzt sind wir wieder dran! 🙂

  2. “Aus jeder Banalität kann man eine Wissenschaft machen. Da die Kultur nur ein anderer Begriff für gewisse Phänomene der Biologie ist, liegt es auf der Hand, dass auch die Kultur mit der biologischen Evolution verknüpft ist.”

    Kultur ist das, was der Mensch macht, die “Pflege” von etwas. Bei den Tieren gibt es das allenfalls nur ansatzweise, wenn sich z.B. bestimmte Traditionen von Nahrungssuche herausbilden, die von anderen Individuen übernommen werden. Ein zielgerichtetes, langfristig orientiertes Handeln, bewusstes Entscheiden und Überliefern gibt es beim gegenwärtigen Kenntnisstand nur beim Menschen und damit ist die Unterscheidung von Kultur und Natur (oder Biologie) in der Tat nicht banal, sondern notwendig und grundlegend, wenn man sich mit dem Menschen beschäftigt. Die Kultur ist die Natur des Menschen, seine Sozialisierung ist eine Inkulturation. Das gibt es m.W. bei keinem Tier.

  3. “Dass nicht nur biologische Traditionen – wie zum Beispiel Pflanzen – evolvieren, […] wusste bereits Charles Darwin.”

    Schlauer Mann der Darwin. Im Gegensatz zu ihm, wusste ich bis heute nicht mal, dass es sowas gibt, eine “biologische Tradition”. Und was ich mir darunter vorzustellen hätte, zum Beispiel Pflanzen.

    Vermutlich handelt es sich um eine Begriffs-Evolution. Traditionell wurde der Traditionsbegriff doch anders tradiert, oder?

    • @Joker

      Freut mich, dass es interessiert. 🙂

      Und, ja, mit jeder Reproduktion tradieren Pflanzen, Tiere und Menschen biologische Informationen auch an die nächste Generation. Kulturfähige Wesen geben zudem auch kulturelle Traditionen weiter.

      Man kann das Ganze auch noch viel komplizierter ausdrücken, z.B. hier 😉 :
      https://books.google.de/books?id=4YzyCQAAQBAJ&pg=PA171&lpg=PA171&dq=biologische+tradition&source=bl&ots=44DNUgGoYF&sig=QCGrBhtBXh5XLxdJm7kJHrKPjb0&hl=de&sa=X&ved=0CCAQ6AEwADgUahUKEwi4ob3g9OfGAhXB_XIKHQmlChA#v=onepage&q=biologische%20tradition&f=false

      Beste Grüße, schönen Abend!

      • @ Michael Blume

        Danke für den Google-Books-Link. Ich bin auf Anhieb bei meiner Google-Recherche überhaupt nicht fündig geworden, ich bin da wohl etwas ungeschickt.

        Ob bei der genannten Fundstelle auch wie bei Dir, Pflanzen unter biologischer Tradition zu verstehen sind, bezweifle ich allerdings. Die Stelle scheint daher eher meine These, die der Begriffs-Evolution, zu unterstützen. Begriffe können auf unterschiedliche Weise mutieren und so die Begriffsevolution in Gang bringen. Mal sehen, was kulturell selektiert und sich im Kampf um die Bedeutung durchsetzen wird.

        “mit jeder Reproduktion tradieren Pflanzen, Tiere und Menschen biologische Informationen”

        Ich sehe, in deinem Beharren auf den, zumindest in allen mir bisher bekannten Denkstilen, ungewöhnlichen Gebrauch der Begriffs “Tradition” und “tradieren” ein gewisses Risiko. Soweit ich das beurteilen kann, würden dir Viele widersprechen, bei der genannten Reproduktion würde etwas tradiert, und deswegen könne man von einer Tradition sprechen.

        Nachdem Du schon einige Naturwissenschaftler (z.B. @Balanus) gegen Dich aufgebracht hast, weil Du den Begriff Evolution häufig nicht standesgemäß gebrauchst (sein Biologie-Stand), wirst Du nun auch noch die Geisteswissenschaftler gegen dich aufbringen, so fürchte ich, weil du Tradition nicht traditionsgemäß verwendest.

        Mein Empfehlung wäre, wenigstens im letzten Fall einzuschwenken. Es gibt sicher geeignetere Begriffe, die die Weitergabe von “biologischer Information” (das lass ich jetzt mal so stehen) bei der Reproduktion beschreiben – da hab sogar ich was bei Google gefunden.

        • Danke, @Joker, für die “Sorge”. Bislang habe ich mit etwas wissenschaftlichem Mut zwar gute Erfahrungen gemacht, nehme aber auch gerne gut begründeten Rat an.

          Was wäre denn Deines Erachtens am Begriffspaar der biologischen und kulturellen Traditionen (im Sinne verschiedener Weisen von Informationsweitergaben & -rekombinationen) so gefährlich, dass Du mich meinst “warnen” zu müssen? Und hättest Du einen Alternativvorschlag?

          • @ Michael Blume

            “Kulturelle Tradition” ist ein Pleonasmus. Tradition gibt es nur innerhalb von Kultur, durch Traditionen entstehen erst Kulturen (mit Ausnahme von Pilzkulturen, die hier hoffentlich auch nicht gemeint waren).

            Biologische und kulturelle Traditionen sind nur formal ein Begriffspaar, so wie durchsichtige und weiße Schimmel.

            “Und hättest Du einen Alternativvorschlag?”

            Google lieferte mir im Zusammenhang mit biologischer Reproduktion die Begriffe: kopieren, vererben, übertragen, fortpflanzen, klonen, vermehren, weitergeben, … . Was auch immer Du genau mit “biologischer Information” meinst, ich bin mir sicher, du findest etwas dazu Passendes.

  4. Joker: “Nachdem Du schon einige Naturwissenschaftler (z.B. @Balanus) gegen Dich aufgebracht hast, weil Du den Begriff Evolution häufig nicht standesgemäß gebrauchst (sein Biologie-Stand)”

    Balanus wurde m. E. aufgebracht, weil am Alleinherrschaftsanspruch seines naturalistisch-materialistischen Weltbilds gerüttelt wurde. Das ist meiner Meinung nach der eigentliche Hintergrund des Streits um den Begriff “Evolution”. Geisteswissenschaftler haben mit der Polyvalenz von Begriffen eher selten grundlegende Probleme, gegebenenfalls führt ein Geisteswissenschaftler zu Beginn seiner Textes an, wie er bestimmte Begriffe verstanden wissen möchte. Das kann natürlich zu Diskussionen und Kritik führen. Schlimmstenfalls gründet sich eine neue “Schule”.

    “Tradition” heißt “Übergabe”, “Überlieferung”, passt also doch eigentlich auch auf die Weitergabe von Genen.
    “kulturelle Tradition” muss kein Pleonasmus sein, dass hängt vom Kontext ab, ob man “Kultur” im weitesten Sinne verwendet (Menschenwerk, menschliche Tätigkeit, in Abgrenzung zur Natur) oder im engeren, z.B. in Abgrenzung zu politischen oder sozialen Traditionen. Das ist alles eine Frage des Blickwinkels, der Aussageabsicht und der Differenzierung.

    Das Problem liegt doch wohl woanders. “Tradition” impliziert in unserer Vorstellung eher eine bewusste oder zumindest teilweise bewusste Weitergabe von kulturellen Verhaltensweise (Bräuchen), Traditionen müssen in der Regel gepflegt (sprich: “kultiviert”) werden.

    “Dass nicht nur biologische Traditionen – wie zum Beispiel Pflanzen – evolvieren, sondern auch kulturelle Traditionen – wie zum Beispiel Sprachen oder Religionen …”

    • @Paul Stefan;

      “Tradition” heißt “Übergabe”, “Überlieferung”, passt also doch eigentlich auch auf die Weitergabe von Genen.

      Nein, Sie machen es sich entschieden zu einfach. Traditionen werden nicht übergeben, sondern übernommen, denn sie beruhen auf Freiwilligkeit, Möglichkeit und Nichtnotwendigkeit. Physikalische Kausalität und biologische Notwendigkeit ist keine Tradition. Deshalb kann man genetische Vererbung nicht als Tradition bezeichnen.

      Kultur ist ein spezifisches Teilgebiet der menschlichen Biologie und Biologie ist ein spezifisches Teilgebiet der Natur. Biologie war zeitlich immer vor jeder Kultur. Alle Menschen haben einen biologisch-anatomischen Sprechapparat, der so komplex und vielfältig ist, dass er unterschiedliche Sprachen als Kulturformen ermöglicht. Sprachen sind wiederum mit dem Denken, Bewusstsein und Verhalten verknüpft, das sagt die Sapir-Whorf-Hypothese.

      Der Gebrauch der anatomischen (und physiologischen) Möglichkeiten wirkt auf die Evolution der anatomischen Merkmale zurück. Die schärfste Ausprägung dafür ist der Lamarckismus. Die wissenschaftlich bessere Ausprägung ist der Darwinismus. Wie die Ausprägungen genau aussehen, das ist selbstverständlich nicht banal, sondern eben Gegenstand der Forschung in Entwicklungs- und Evolutionsbiologie sowie Enwicklungs- und Evolutionspsychologie. Die neueren Tendenzen gehen zu einer Zusammenführung von Embryonalentwicklung und Evolution, weil Evolution nicht erst am fertigen Organismus ansetzt oder stattfindet.

      • Lat. “traditio” heißt “Übergabe”, “Überlieferung”. Kulturelle Traditionen werden selbstverständlich von der älteren an die jüngere Generation sowohl übergeben wie übernommen. Beide Seiten gehören zusammen.

        Dass die Anwendung auf genetische Vererbung missverständlich sein kann, habe ich doch eingeräumt, Selbstzitat: “Das Problem liegt doch wohl woanders. “Tradition” impliziert in unserer Vorstellung eher eine bewusste oder zumindest teilweise bewusste Weitergabe von kulturellen Verhaltensweise (Bräuchen), Traditionen müssen in der Regel gepflegt (sprich: “kultiviert”) werden.”

        “Kultur ist ein spezifisches Teilgebiet der menschlichen Biologie und Biologie ist ein spezifisches Teilgebiet der Natur. Biologie war zeitlich immer vor jeder Kultur.”

        Ich betrachte ihre Definition eher als Weltsicht, so sehen Sie die Welt quasi pyramidal aufgebaut. Wenn die Milchwirtschaft aber auch die Biologie des Menschen zurückwirkt, dann war in diesem Fall die Kultur vor der Biologie.

        Ich betrachte die Unterscheidung zwischen Biologie und Kultur allerdings als eine von Menschen geschaffene, heuristische Unterscheidung, nicht als etwas ontologisches. Sie sagen es doch selbst sehr treffend (bzgl. “Traditionen”: die Kultur beruht “auf Freiwilligkeit, Möglichkeit und Nichtnotwendigkeit”, diese Eigenschaften hat nur der Mensch (von gewissen oder eingeschränkten Ausnahmen bei einigen Tierarten abgesehen). Dadurch unterscheiden sich das Verhalten von Menschen (das zu Kultur führt) und Tieren doch grundsätzlich, obwohl es selbstverständlich auch Gemeinsamkeiten gibt. Ob dieser Unterschied zwischen Mensch und Tier, der sich darin ausdrückt, das der Mensch so etwas wie “Geist/Vernunft” hat, auch “wesentlich” im Sinne von ontologisch ist, weiß ich nicht, die Frage ist m.E. vorläufig nicht eindeutig beantwortbar.

        Biologie heißt übrigens: “Lehre/Theorie vom Leben”, bezeichnet also eine Wissenschaft.

        Ich finde die Aussage von Parmenides eigentlich irgendwie ganz einleuchtend, dass es nur ein vollendetes und gänzlich unveränderbares Sein gibt und dass nur die Lehren und Vorstellungen davon unterschiedlich sind.
        https://de.wikipedia.org/wiki/Parmenides

        Aber wer weiß …

        • @Paul Stefan;
          In den wesentlichen Argumenten stimme ich Ihnen zu, die Unterschiede sind eher marginal. Die Eltern übergeben Traditionen an die Kinder, das steht außer Zweifel. Die Eltern selber entscheiden jedoch, welche Traditionen ihrer Eltern sie selber weiterführen – oder übernehmen – und übergeben. Es findet also im Rahmen der Weitergabe eine Filterung/Selektion oder auch eine Modifikation/Variation statt. Damit sind die Kriterien einer Evolution vorhanden und erfüllt.

          Selbstverständlich ist Kultur und Natur ein wechselwirkender Prozess über die Zeit. Die Natur beeinflusst die Kultur (Kleidung, Nahrung) und die Kultur wirkt auf die Natur zurück, z.B. in Form des Ressourcenverbrauchs und der Umweltzerstörungen. In vielen Aspekten ist die Natur bestimmender als der Mensch, der sich anpassen muss, woraus letztlich Kultur entsteht. Das ist unausweichlich und deshalb ist die Nachhaltigkeit so wichtig für die künftigen Generationen.

          • @ Anton Reutlinger

            A)
            “Selbstverständlich ist Kultur und Natur ein wechselwirkender Prozess über die Zeit.”

            B)
            “Kultur ist ein spezifisches Teilgebiet der menschlichen Biologie und Biologie ist ein spezifisches Teilgebiet der Natur.”

            Aus A) und B) schließe ich, dass die Natur, zumindest in diesem Fall, mit sich selbst wechselwirkt, korrekt?

            “In vielen Aspekten ist die Natur bestimmender als der Mensch, der sich anpassen muss”

            Wenn man das so liest, könnte man glatt meinen, “Sie meinen also, der Mensch ist nicht Natur, oder funktioniert anders als die Naturgesetze”.

            (alle Zitate von Ihnen)

    • @ Paul Stefan

      “”Tradition” heißt “Übergabe”, “Überlieferung”, passt also doch eigentlich auch auf die Weitergabe von Genen.”

      Ich sehe durchaus, warum man meinen könnte, das würde passen. Man lässt sich durch die Etymologie oder durch Synonyme dazu verleiten. Wie Sie dann im Weiteren aber schon bereits selbst ausgeführt haben, geht es bei Tradition um eine bestimmte Form der Übergabe und Überlieferung, in einem spezifischen Kontext. Dadurch ist die Austauschbarkeit von Synonymen für das Tradieren eingeschränkt, da herrscht keine Symmetrie. Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede zwischen den aufgeführten Begriffen.

      So wird man in der Physik bei der Weitergabe des Impulses von einem Teilchen auf andere, wie z.B. beim elastischen Stoß, sich kaum wagen, von der Tradierung des Impulses zu sprechen. Analog dazu, meine ich, sollte man das in der Biologie mit ihren Genen besser ebenfalls unterlassen.

      Allerdings halte ich das alles nicht für so ergiebig, dass ein Wissenschaftler darüber Monate lang forschen und nachdenken müsste. Das Thema sollte mit diesen wenigen Blogkommentaren hinreichend abgehandelt sein.

      • Der Begriff “Vererbung” hat sich für die Weitergabe von Genen ja auch eingebürgert. Er wurde nicht völlig neu geprägt sondern aus der Menschenwelt übernommen. Dass es eine Metapher war, ist inzwischen vergessen. Es ist also rein eine Frage der Konvention. An den einen Begriff haben wir uns gewöhnt, der andere ist noch “fremd” im neuen Gebrauch.

        Der Zweck eines solchen neuartigen Sprachgebrauchs kann darin bestehen, auf eine Gemeinsamkeit aufmerksam zu machen. Das Gemeinsame wäre hier so etwas wie die Übertragung von “Information”, und zwar nicht nur einmal, sondern in einer zeitlichen Kette von Übertragungen von Individuum zu Individuum, wohl auch von Generation zu Generation (sofern man den Genpool einer Familien, Sippe oder Population berücksichtigt, ich kenne mich da aber nicht gut genug aus).

        Ich stimme zu, dass das Thema nicht Monate füllen kann.

        • Sehe es ähnlich, will aber noch zu bedenken geben: Auch zentrale kulturelle Traditionen wie z.B. Sprachen werden nicht erst “willentlich” vererbt (sic!) – im Gegenteil, werden sie nicht schon in den ersten Lebensjahren vermittelt, ist ein späterer Spracherwerb kaum noch möglich. Auch z.B. Körperhaltungen, Begrüßungsrituale u.v.m. werden überwiegend vorbewusst weitergegeben.

          Umgekehrt findet durch die Partnerwahl natürlich auch eine bewusste Auswahl auf auch genetischer Ebene statt – die sexuelle Selektion spielt bei allen Säugetieren und erst Recht beim Menschen eine sehr große Rolle!

          Wie @Paul Stefan zu Recht bemerkt hat, kommt es m.E. entscheidend darauf an, Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zwischen biologischer und kultureller Evolution sichtbar zu machen. Und da nehme ich die Hinweise verdienter NdG-Kommentatoren natürlich schon sehr ernst, werde darüber nachdenken und z.B. bei Hayeks explizit dazu formuliertem “Fatal Conceit” auch nochmal dazu nachschlagen.

        • @ Paul Stefan

          “Der Begriff “Vererbung” hat sich für die Weitergabe von Genen ja auch eingebürgert. […] Dass es eine Metapher war, ist inzwischen vergessen.”

          Ich weiß nicht, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Metapher handelt. Es könnte auch einfach die spät gewonnene Erkenntnis sein, dass es genau das ist, was Eltern (unter Anderem) ihren Kindern weitergeben, also vererben.

          Ich bin mir auch nicht sicher woher der Begriff Erbe stammt, ob er zuerst für die Hinterlassenschaft von Gütern eingeführt wurde, also als juristischer Begriff geprägt wurde, oder ob er da bereits für die Weitergabe von Eigenschaften, Veranlagungen oder Ähnlichem von den Vor- auf die Nachfahren eingeführt war, also als biologischer Begriff, in Zeiten, in denen es noch keine Juristerei gab – und auch keine Biologie.

          Vielleicht ist also eher der juristische Begriff als Metapher zu verstehen, und das wurde vergessen. Oder beide, bzw. alle drei Vorkommnisse, sind doch nur Spezialfälle eines sehr allgemein verstandenen Sachverhalts.

          Wie auch immer, sicher werden ständig Begriffe von einem Gebiet in andere Übertragen, so funktioniert Sprache. Dabei gibt es halt Begriffe, die sich für bestimmtes besser eignen, für anderes weniger und für einiges gar nicht. Mein Eindruck bleibt bestehen, der Satz, “Pflanzen sind biologische Traditionen.”, wirkt abstrus.

  5. @Joker;
    Die Umgangssprache ist meist nicht klar und eindeutig. Man kann Wörter und Sätze so oder so interpretieren. Selbstverständlich ist der Mensch nichts anderes als Natur. Wenn das nun ein Schöpfungsgläubiger liest, dann hagelt es auch wieder Protest. Man spricht auch von der “zweiten Natur” des Menschen, zur Differenzierung gegenüber der ersten oder “reinen”, biologischen Natur. Da sind der Beliebigkeit und Willkür fast keine Grenzen gesetzt.

    Selbstverständlich wechselwirkt die Natur auch mit sich selber. Zwei physische Körper ziehen sich gegenseitig an, das ist geradezu trivial. Es gäbe noch unendlich viele Beispiele. Schwieriger wird es bei Wechselwirkungen höherer Aggregate, also Wechselwirkungen komplexer Systeme mit einfachen Objekten oder untereinander. An erster Stelle steht hier die Wechselwirkung des menschlichen Geistes mit seiner Umwelt über Sinnesvermögen und Motorik. Da wird es richtig interessant, denn hier scheiden sich die Geister. Es gibt keine vernünftigen Zweifel, dass auch der menschliche Geist nichts anderes als Natur ist!

  6. Natur und Kultur müssten ‘Tanzpartner’ sein, zum einen, weil die Natur Kultur bedingt (Was sonst, sofern erkennende Subjekte bereit stehen?) und Kultur die Natur bestimmt (Was oder wer sonst?) und feststellt, der Primat scheint hier günstig unterwegs.
    Es fällt auch “nicht wirklich” schwer das Tanzen dem altlateinischen ‘Tangere’ zuzuordnen, zumindest: spekulativ:
    -> http://www.etymonline.com/index.php?term=dance (der Schreiber dieser Zeilen findet Bemühung wie dort, wie bei Douglas Harper vorgefunden, schon irgendwie, irgendwie zwischen gut und sehr gut)

  7. Die Metapher “Tanzpartner” gefällt mir und ist auch viel poetischer als z.B. der Begriff Komplementär.

    Komplementarität setzt systemische Denklogik voraus, Diese ist wiederum ein Komplementär zur zweiwertlogischen, ontologisch-empirischen Kausallogik wie sie in allen empirischen Wissenschaften viel zu oft und zu lange Zeit eine zwanghaft, pseudoreligiöse Überhöhung erlebte.

    Verständlicherweise als Gegenreaktion für einseitige mythische Weltanschauungen. Die Entzauberung der Natur ist wichtig und notwendig gegen Übertreibungen auf der Kulturseite, welche meint, sich der Natur bemächtigen zu können.

    Doch “Wissenschafts-” und vor allem “Technikgläubigkeit” führt mittlerweile (in der Anwendungsebene) ebenfalls zum “Ausverkauf und Zerstörung der Natur” – ist nicht weniger “mythisch” – nur anders.

    Höchste Zeit auch für eine Aufklärung 2.0 über die auffällige Prä- Transverwechslung bei Kausallogiker. Sie sind von ihren absoluten Prämissen ausgehend, einäugige, zweiwertlogische und somit eindimensionale Schwarz-Weißdenker – gewissermaßen “farbenblind”, da unfähig zu ausreichender Differenzierung und komplementärer Zusammenschau von Natur und Kultur.

    Oder in der Sprache jenes “Tanzlehrers” welcher in der “Natur des (jüdisch-kulturellen) Glaubens” gesagt haben würde: “Wären Wissenschaftler sich ihrer Blindheit tatsächlich bewusst, wären sie nicht verantwortlich. Aber sobald sie sagen: ‘Wir sehen als Einzige und wir allein sehen richtig.’ – kann ihnen niemand ihre Verantwortung dafür abnehmen.” (in Anlehnung an Johannes 9,41)

    Jeder geht eben bis zur Grenze seines eigenen Unvermögens.
    (Diese Polemik, erlaube ich mir mit einem [selbst-]ironischen Zwinkern.) 😉

    Tanzen ist Kunst. Kunst ist (auch) kulturelles Können. Kunst übertrifft in ihrer Aussagekraft, was empirischer Wissenschaft möglich ist. Und ja, Kunst kommt von Können, nicht von “Wissen” oder “Wollen” – sonst würde es ja “Wunst” heißen. Kunst bringt komplementär zusammen, was zusammen gehört. Ich bin dafür, dass es mehr (solcher) “Tanzschulen” geben müsste und sollte, welche es sich zur Aufgabe machen: Wissenschaft zur (komplementären) Kunst zu transformieren.

  8. Interessantes Thema. Wobei man nur davor warnen kann, die Interaktion von Kultur und Genetik als eine Art Geist-Körper-Dualismus zu verstehen. Auch Kultur ist ein Ergebnis unserer biologischen, materiellen Gehirne, und die Bedeutung von Kultur ist daher kein Argument gegen eine naturalistische Position.

    Besonders interessant ist natürlich die Frage, wie sich die moderne Technik langfristig auf unseren Genpool auswirken wird. Der Umstand, dass wir die natürliche Selektion in den entwickelten Teilen der Welt weitgehend außer Kraft gesetzt haben, könnten erst mal zu einer Verschlechterung des Genpools führen. Denn unsere Gene mutieren immer weiter, und da schädliche Mutationen viel häufiger sind als nützliche, kann unser Genpool unter diesen Bedingungen nicht besser werden.

    Allerdings ist es wahrscheinlich, dass dieser Prozess früher oder später von einer neuen Form der (liberalen) Eugenik konterkariert oder sogar umgekehrt wird. Vermutlich werden die Menschen nicht mehr lange “russisches Roulette” mit ihren eigenen Kindern spielen, sondern dafür sorgen, dass in Zukunft jedes Kind mit guten Genen zur Welt kommt. Das würde bedeuten, dass die langsame, natürliche Selektion durch eine viel stärkere, künstliche Selektion ersetzt wird, was innerhalb weniger Jahrhunderte zu einer völligen Umgestaltung unserer Spezies führen könnte. Ich hatte mich ja schon mal dazu geäußert…

    Eins ist jedenfalls klar: Die bei Geisteswissenschaftlern beliebte Vorstellung, der Mensch als edles Kulturwesen habe die biologische Evolution hinter sich gelassen, ist eindeutig falsch. Vermutlich steht der interessanteste Teil der menschlichen Evolution – jedenfalls der interessanteste seit 100.000 Jahren – noch bevor.

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