Naturwissenschaft, Pädagogik, Zeitgeschichte – Dr. Georg Litsche im Web-Interview

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Neulich hatte ich in einem Beitrag über die konstruktive Rolle von Bürgerwissenschaftlern geschrieben und dabei auch Lehrerinnen und Lehrer als Beispiele benannt. Viele haben nicht nur eine ordentliche, wissenschaftliche Ausbildung genossen, sondern sich darüber hinaus durch Lektüre, Besuche von Veranstaltungen und auch eigene Projekte nicht nur selbst immer weiter gebildet, sondern auch Forschungsbeiträge geleistet.

Dr. Georg Litsche schaut auf ein bewegtes Berufsleben zurück. Der studierte Biologielehrer war von 1961 bis 1963 Redakteur in der Abteilung Biologie beim Verlag Volk und Wissen (Ost-)Berlin. Danach wirkte er als Forschungslehrer an einer Forschungsschule des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) an der Entwicklung neuer Lehrpläne und promovierte als Externer zum Dr. paed. an der TU Dresden. Es folgten Stationen als Direktor einer POS (Polytechnischen Oberschule) in Berlin-Mitte, als Fachlehrer für Biologie in Berlin Marzahn und als freiberuflicher Biologe und Programmierer. Ab 1996 erarbeite Dr. Litsche die Kapitel “Evolution” und “Genetik” des Lehrbuchs Biologie für Gymnasien des Verlages Volk und Wissen Berlin. Heute ist er nicht nur Rentner – sondern mit “Wille versus Kausalität” auch als Blogger aktiv. Dort greift er auch gerne immer wieder Beiträge aus den Scilogs auf, zum Beispiel des geschätzten Blognachbarn und Quantenphysikers Josef Honerkamp. Höchste Zeit für ein Web-Interview!

1. Dr. Litsche, nach einem ziemlich bewegten Leben zwischen Naturwissenschaft und Pädagogik haben Sie als Rentner den Blog “Wille versus Kausalität” gestartet. Darf ich fragen, warum?

Ganz einfach: Weil es diese Möglichkeit jetzt gibt. Ansonsten mache ich dasselbe, was ich mein Leben lang als unverbesserlicher Lehrer immer gemacht habe: Lesen, Nachdenken, Nachschauen und die Resultate Anderen mitteilen.

Ein vorläufiges Resultat dieser Tätigkeit habe ich mit der „Theoretischen Anthropologie“ vorgelegt. In diesem Buch habe ich Grundzüge einer umfassenden Theorie des Menschen entwickelt.

Als Biologe bin ich Naturwissenschaftler und denke im Erklärungsprinzip des Kausalismus, als Pädagoge bin ich Geisteswissenschaftler und denke im Erklärungsprinzip des Willens. Nun treibt mich der Widerspruch zwischen Wille und Kausalität um. Das Blog ist eine Form, damit umzugehen.

2. Sie waren als Lehrer und Wissenschaftler im geteilten Berlin tätig, als sich je in westlichen und sozialistischen Kontexten völlig verschiedene Perspektiven auf die Biologie durchsetzten. So prägte sich in den westlichen Gesellschaften der Neodarwinismus aus, der die Evolution zunehmend reduktionistisch von Genen her betrachten wollte. Die sozialistischen Staaten propagierten dagegen bis in die 60er Jahre hinein den so genannten “Lyssenkoismus”, der genetische Forschungen als Ausdruck bourgeoiser Ideologie bekämpfte. Wie haben Sie diese Jahre und Auseinandersetzungen erlebt?

Als sehr interessant. Wie jeder Anfänger habe ich von Fachleuten gelernt. Nun habe ich nie „ordentlich“ studiert, sondern mir Wissen im damals in der DDR verbreiteten Fernstudium als Autodidakt angeeignet. Dadurch war der Druck gering, sich die Meinung nur eines Lehrers anzueignen und wiederzugeben, um Prüfungen zu bestehen. Vielmehr war es nötig sich eigenständig umfassend zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Da dem Lyssenkoismus die Genetik als zu widerlegende Theorie immanent war, habe ich mir natürlich auch die Grundlagen der Genetik angeeignet. Und da es in der DDR auch ein gut funktionierendes Bibliothekswesen gab, war die Beschaffung auch ausländischer Fachliteratur kein Problem, wenn man die Mühen der Beschaffung und des Lesens nicht scheute.

Inhaltlich bestritt der Lyssenkoismus ja Existenz und Wirkung von Genen nicht, er hielt den Einfluss der Umwelt nur für bedeutsamer. Das Problem kam nur daher, dass versucht wurde, diese Auffassung zu „ideologisieren“ und mit politischen Mitteln durchzusetzen.

Für mich war (und ist) das Problem ja doppelt interessant, weil seine Lösung von Bedeutung für die Möglichkeiten Erziehung und Bildung ist, und der Streit beider Richtungen findet ja bis heute statt, aktuell beispielsweise in der Sprachwissenschaft (Chomsky, Pinker) oder im Streit um den Behaviorismus.

3. Sie kritisieren, dass der Terminus “Emergenz” eine Kategorie der Erkenntnis, nicht aber der Realität bezeichne. Was wäre Ihre Alternative? Wie würden Sie die Übergänge zwischen Theoriebereichen etwa der Physik, Biologie, Psychologie und Religionswissenschaft bezeichnen?

Natürlich kann man die tatsächlich stattfindenden Übergänge von einem Realitätsbereich zum anderen „Emergenz“ nennen, nur darf man damit nicht vorgeben, sie auch erklärt zu haben. Die Beschreibung und Erklärung unterschiedlicher Realitätsbereiche und der Übergänge von einem zum anderen erfordert unterschiedliche Erklärungen und folglich unterschiedliche Terminologien. Die tragenden Termini der Psychologie haben beispielsweise in der Physik keine Bedeutung und können nichts Physikalisches erklären.

Leider findet ein solcher Wechsel der Terminologie oft unreflektiert statt. Es werden beispielsweise psychologische Begriffe zur Erklärung biologischer Vorgänge benutzt. Hier fehlt oft die ausreichende Kenntnis des anderen Fachs und daraus folgend wissenschaftliche Redlichkeit.

Ich verstehe schon die Neigung, möglichst viele verschiedene Ereignisse auf die gleiche Weise zu erklären. Aber das geht meines Erachtens nicht. Man muss sich schon der „Mühe des Begriffs“ unterziehen. Die Entstehung des Lebens vollzieht sich nach anderen Gesetzen als die Entstehung der Psyche oder der Religion. Was ist gewonnen, wenn ich sie alle „Emergenz“ nenne? Man darf sich nicht scheuen, jeden Prozess auf seine eigenen Gesetze zu untersuchen. Schön, wenn man hinterher feststellt, dass es die gleichen Gesetze sind, aber man darf nicht davon ausgehen, indem man beispielsweise die Terminologie des einen Faches nimmt um Ereignisse eines anderen darzustellen. Da können nur Metaphern herauskommen, aber keine wissenschaftlichen Begriffe.

4.Sie haben Ihre Dissertation 1968 über das Thema “Die Gesetze des Lernens im naturwissenschaftlichen Unterricht” abgelegt. Welche Gesetze haben Sie gefunden? Und würden Sie diese auch heute, doch einige Jahrzehnte und viele Erkenntnisse wie Medien später, als gültig betrachten?

Ich will die Gesetze jetzt nicht alle aufführen, sie können nur einen Klick weit nachgelesen werden. Ich denke, sie gelten alle noch, sonst wären es keine Gesetze. In der Theorie wird das Lernen als spezifischer Erkenntnisprozess untersucht. Seine Spezifik besteht darin, dass das Lernen eine Komponente des gesamtgesellschaftlichen Erkenntnisprozesses ist, die darauf gerichtet ist, bestehende Erkenntnisse individuell zu reproduzieren und dadurch i.e.S. zu vergesellschaften. Dazu muss man in der Theorie die realen Tätigkeiten von dem befreien, was diesen Prozess verdeckt und modifiziert, wie beispielsweise das Streben nach Noten und der Erwerb von „Scheinen“.

Der Lernende will etwas wissen, das die Gesellschaft schon weiß. Diese Bedingung modifiziert den individuellen Erkenntnisprozess – das Lernen – in spezifischer Weise, z.B.:

– Sie verändert den Wirklichkeitsbezug der Erkenntnis. Die Gegenstände der Erkenntnis werden so zu Trägern der gesellschaftlichen Erkenntnis. Wenn ein Mensch ein Wort hört, das er noch nicht kennt, will er dessen Bedeutung erfahren.

– Wenn man ihm nun die Versteinerung eines Lebewesens zeigt und entsprechende Ausführungen dazu macht, ordnet er diese dem Gegenstand zu. Dieser ist in dieser Situation – der Lernsituation – der Träger der gesellschaftlichen Bedeutung „Versteinerung“, die nun individuell reproduziert werden.

– In dieser Situation verändert sich auch sie Wahrnehmung. Lernende nehmen wahr, was man Ihnen sagt und sie glauben, sie hätten es „selbst“ gesehen. In der Psychologie wird dieser Umstand auch als „Wahrnehmung der.5.  Dimension“ bezeichnet.

– Diese Bedingung ist bedeutsam für das Problem der Adäquatheit der Ergebnisse des Lernens. Durch Lernen gewonnene Erkenntnisse werden durch zwei Kriterien bewertet, durch ihre „Richtigkeit“, d.h. ihre (gewollte) Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Erkenntnis und ihre „Wahrheit“, d.h. ihre Adäquatheit mit der abgebildeten Realität (wenn man eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zugrunde legt).

Daran hat sich meines Erachtens nichts geändert. Was sich geändert hat, ist der Inhalt der beiden betrachteten Variablen „individuelle –gesellschaftliche Erkenntnis“, d.h. die theoretisch abgebildete Realität. Heute gibt es beide in neuen Erscheinungsformen und Inhalten, aber ihre Beziehung ist die gleiche.

Besonders bedeutsam ist, dass die verschiedenen Inhalte der gesellschaftlichen Erkenntnis heute von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten werden und der Lernende theoretisch frei ist in der Wahl, die Erkenntnis welcher Gruppe er reproduzieren will. Sie hätten sich ja auch für den Kreationismus als Erklärungsprinzip für die Entwicklung des Religiösen entscheiden können.

Für die Heranwachsenden gilt weiter, dass ihnen in der Realität diese Wahl genommen ist, andere entscheiden, welche gesellschaftliche Erkenntnis sie erwerben sollen.

Zum anderen wirkt die Institutionalisierung des Lernens beispielsweise als modifizierende und oft deformierende Bedingung des realen Lernens, die den Schüler daran hindert, lernen zu wollen. Beides mag dem Selbstverständnis mancher Lehrer widersprechen, der glaubt, er könne den Kindern etwas beibringen. Es ermöglicht auch der Didaktik nicht zu erforschen, wie man Kindern etwas beibringen kann, was die gar nicht wissen wollen.

Freiwilligkeit gilt auch in der Erziehung. Kein Mensch kann gegen seinen Willen erzogen werden. Alle derartigen Versuche laufen letztlich auf Manipulation hinaus, gegen die sich der denkende Mensch wehrt.

Erziehung und Bildung verlaufen freiwillig. Darin sehe ich das tatsächlich wirkende „Grundgesetz“ der Pädagogik. Es gilt auch heute und hier, unabhängig davon, was Menschen tun oder zu tun glauben.

Danke, dass Sie sich weiterhin für die Biologie und das interdisziplinäre Gespräch engagieren! Und dass Sie ggf. für Fragen oder Anregungen von Leserinnen und Lesern dieses Blogs zur Verfügung stehen. Ihnen und Ihrer ebenfalls aktiven Gattin alles Gute!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

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