Nadia Murad – Eine yezidische Überlebende prangert die Verbrechen des IS an
BLOG: Natur des Glaubens
Vor zehn Jahren war ich als Vermittler für die Sicherung eines Massengrabes jüdischer NS-Opfer am Stuttgarter Flughafen tätig und engagierte mich später auch in der dafür gegründeten Gedenkstiftung. Doch nichts bereitet einen auf den Anblick frischer Massengräber vor, wie ich sie als Projektleiter in Kurdistan-Irak Anfang 2016 erblickte. Der selbsternannte “Islamische Staat” (von Arabern, Kurden und Türken gleichermaßen als “Daesh” bezeichnet) betrachtet die Yezidinnen und Yeziden – völlig konträr zu ihren eigenen Glaubenslehren – als rechtlose und auszurottende “Teufelsanbeter”. Entsprechend hatten die Extremisten yezidische Männer (inklusive männlicher Jugendlicher “mit Haaren unter den Achseln”) in großer Zahl hingerichtet, ebenso aber auch besonders kleine Kinder und alte Leute. Und während wir Deutschen mit stummem Entsetzen auf die teilweise freigelegten Gebeine in einem ehemaligen Forellenteich blickten, donnerten westliche Bomber über unsere Köpfe, um die zurückweichenden Daesh-Schergen zu verfolgen.
Massengrab yezidischer IS-Opfer bei Kocho, Irak. Foto: Michael Blume (Januar 2016)
Beklommen fragte ich mich, ob in Zukunft jemand dieser Opfer gedenken, jemand für sie sprechen würde? Oder würden sie in Vergessenheit geraten, verdrängt durch Friedensschlüsse auf Kosten einer ethnisch-religiösen Minderheit?
Doch gegen das Vergessen haben sich bislang drei der 1.100 Frauen und Kinder, die über das Sonderkontingent Baden-Württemberg aufgenommen wurden, entschieden, ihre neuen Freiheiten zu nutzen, um als Überlebende zur Welt zu sprechen. Farida Khalaf (“Das Mädchen, das den IS besiegte”) und Shirin (“Ich bleibe eine Tochter des Lichts”) wandten sich je mit Büchern und Interviews an die Öffentlichkeit und erreichten so Abertausende.
Schon in Kurdistan-Irak aber wandte sich eine junge Frau an mich mit der Frage, ob sie schweigen müsse – oder dann in Deutschland reden dürfe. Denn sie – Nadia Murad – habe vor, für all jene zu sprechen, die wie sie gelitten hätten und nicht gehört würden. Ich sagte Nadia, dass sie in Deutschland eine junge, aber erwachsene Frau und also frei sein würde, gab ihr jedoch einige Sicherheitshinweise (die sie auch eingehalten hat). Schon wenige Monate später sprach sie vor dem UN-Sicherheitsrat in New York und traf auch den US-Außenminister John Kerry und brachte die Verbrechen damals erstmals auf ein internationales Parkett. Inzwischen wurde sie seitens des irakischen Staates und norwegischer Abgeordneter sogar für den Friedensnobelpreis nominiert.
Seitdem reist Nadia – unterstützt von Yazda und Eziden Weltweit e.V., zwei yezidischen NGOs – um die Welt, um bei Politik und Medien für weitere Unterstützung vor allem der Frauen und Kinder zu werben. Auch arabisch-muslimische Kommentatoren wie Abdulrahman Al-Rashed haben sich inzwischen auf ihre Seite gestellt und schärfere Maßnahmen gegen den um sich greifenden Extremismus gefordert. In Deutschland berichtete u.a die WELT mit Video- und Bildmaterial.
Link zum Artikel von Welt.de von meiner FB-Profilseite.
Seit ihrer Ankunft konnte ich Nadia einige Male wiedersehen, zuletzt im Anschluss an ein Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Mit Nadia Murad in Stuttgart, Sommer 2016.
Natürlich mache ich mir Sorgen, ob sie sich nicht viel zuviel zumutet. Doch sie tut, was sie tut, tatsächlich aus eigenem Willen – und ist damit nicht nur für viele Yezidinnen und Yeziden, sondern auch in meinen Augen eine Heldin. Noch ist der IS nicht endgültig besiegt, noch sind die Massengräber nicht geborgen. Aber dank Menschen wie Nadia, Farida und Shirin habe ich heute die Hoffnung, dass der Genozid an den Yeziden nicht vergessen und verdrängt, sondern aufgearbeitet und zu einem Teil des historischen Weltgedächtnisses werden wird. Und wir alle können etwas dafür tun, indem wir die Berichte dieser starken Frauen, dieser Überlebenden ehren und weitergeben.
Ich bin froh, dass die junge Frau hier bei uns ist. Wenn Sie sie noch einmal treffen und es möglich sein sollte: Sagen Sie ihr bitte, ich hätte großen Anteil genommen, denke an sie und ihr Volk und ihre Familie, bitte für sie, und ich wünsche ihr Gottes Segen. Möge sie trotz allem glücklich werden; ich weiß nicht, ob das gehen wird, zumal sie nicht nur ihre eigene Geschcihte zu verkraften hat, sondern auch den Verlust ihrer liebsten Angehörigen, aber ich wünsche es ihr.
Und ich wünsche ihr auch, dass die Yeziden eines Tages wieder frei sein können. Bis dahin, auch das wünsche ich ihr und mir, wäre es schön, jeden Einzelnen hier her zu holen.
Ihnen selbst danke für den Artikel und Ihren Einsatz. Auch Sie verdienen dafür nur das Allerbeste; ich wünsche es Ihnen und allen, die Ihnen nahestehen.
Vielen Dank für Ihre freundliche Rückmeldung! Sehr gerne werde ich Nadia dieses ausrichten.
Und, ja, viele hoffen immer noch, dass noch weitere Regierungen im In- und Ausland sich bereiterklären könnten, humanitäre Sonderkontingente auszurichten. Denn die bisherige Praxis der Flüchtlingsaufnahme – eine Chance hat, wer sich legal oder illegal bis nach Europa durchschlagen konnte – ist in gewisser Hinsicht auch eine “Auswahl” und schließt z.B. ausgerechnet Frauen und Kinder, die ihre Ressourcen und Partner verloren haben, weitgehend aus. Ich hoffe noch immer, dass die Europäische Union einmal eine besser durchdachte Flüchtlingspolitik auf die Beine bekommen und dadurch besonders bedrohten Gruppen (statt z.B. Schleppern) helfen wird.
Vielen Dank für die Schilderung abscheulicher Entwicklung im Islamischen Staat, Herr Dr. Blume, die unvergessen bleiben soll.
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Nur ergänzend:
1.) Jesiden sind nicht Dhimma-fähig, sie werden im Islamischen Staat insofern als eine Art Tier betrachtet.
Christen, Juden (die ansonsten schon als soz. natürlicher Feind des Islam betrachtet werden, insofern ist diese Dhimma-Fähigkeit zurzeit ausgesetzt) sind dies und der Zoroastrismus genießt wohl irgendwie eine Art Mittelstellung.
2.) Staaten ernennen sich immer selbst.
3.) ‘Daesh‘ wird wohl zumindest gelegentlich pejorativ verwandt, allerdings entsteht bei der Verwendung anderer Abkürzung wie ‘IS’, ‘ISIS’ oder ‘ISIL’ zumindest bei einigen der Eindruck, dass das Adjektiv umfänglich ausgesprochen oder ausgeschrieben herausgehalten werden soll.
Festgestellt werden darf: Der Islamische Staat ist islamisch.
MFG
Dr. Webbaer
Soeben meldet die BILD (als leider bislang einziges deutsches Medium), dass Nadia Murad zur UN-Sonderbotschafterin für Frauenrechte ernannt werden soll:
http://m.bild.de/politik/ausland/jesiden/nadia-murad-un-botschafterin-47473954.bildMobile.html
Dies wäre tatsächlich ein beachtlicher Schritt, um die Welt zu informieren und aufzurütteln!
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