Mehr als Piet-Kong? Eine Ehrenrettung des Pietismus

Während der Lektüre von “Eine Blume für Zehra” von Andreas Malessa und in einer Diskussion auf Einladung der Diakonie in Calw-Hirsau wurde ich mit den bewussten und unbewussten Prägungen des so genannten “Bibelgürtels” rund um Stuttgart durch den Pietismus konfrontiert.

Es handelt sich dabei um eine christlich-evangelische Frömmigkeitsbewegung der pietas (“Gottesfurcht”), die sich seit dem 17. Jahrhundert gegen allzu staatshörige Obrigkeitskirchen, aber auch gegen allzu wissenschaftliche Theologien stemmte. Aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich an das Spottwort über den “Piet-Kong”, der – analog zum kommunistischen Viet-Kong – hartnäckigen Widerstand gegen die Moderne und die Globalisierung leiste. Das dabei gezeichnete Klischeebild identifizierte als Pietisten ständig zerknirschte Griesgrame, die schwer schufteten (“schaffen”, wie man im Schwäbischen sagt), aber sich keinen Luxus leisten dürften. Entsprechend hingebungsvoll pflegten sie ihr Auto als “heilix Blechle” – meist einen Daimler – und betrachteten Zugezogene und Nicht-Pietisten evangelischer, katholischer, islamischer oder – Gott bewahre! – nichtreligiöser Gesinnung mit Misstrauen und Abwehr.

Es brauchte lange, bis ich mehr und mehr hinter diese Vorurteile zu blicken verstand – und auch erkannte, wie meine Heimatregion und ich selbst durch den Pietismus geprägt worden sind.

Foto: Aufgewachsen im pietistischen “Bibelgürtel” rund um Stuttgart. “Eine Blume für Zehra” über unsere christlich-islamische Ehe von Andreas Malessa

Was hat es mit dem Pietismus auf sich?

Der Pietismus entstand im 17. Jahrhundert in evangelisch geprägten Gebieten vor allem des deutschen und englischen Sprachraums und zählt zu Recht zur sogenannten “Frühaufklärung”. Denn nach den Verheerungen des 30jährigen Krieges hatten die alten, den jeweiligen Thronen verbündeten Obrigkeitskirchen nicht nur in den Stadt-, sondern auch in den Landbevölkerungen viel Vertrauen verloren. Nach und nach begannen immer mehr Männer und auch Frauen “selbst” in den Bibelübersetzungen zu lesen und die Lehre vom “Priestertum aller Gläubigen” ernst zu nehmen. Manche Hochwürden mussten sich plötzlich Nachfragen zu ihren Predigten von ihren Gemeindegliedern – Bauern, Handwerkern und, ja, auch Frauen – gefallen lassen. Es entstanden eigene Lesezirkel, Gruppen und Frömmigkeitsformen, die nicht mehr die Unterordnung unter eine gepredigte Lehre, sondern die persönliche Beziehung der Christen mit Jesus Christus betonten. Die “Pia Desideria” (1675) von Jakob Spener gilt als pietische Grundlagenschrift – griff allerdings Gedanken und Frömmigkeitsformen auf, die bereits entstanden waren. Manche Bauersfrau meinte Hochwürden nicht mehr zu brauchen, da sie doch nun selbst und in Gemeinschaft mit anderen die Bibel lesen konnte! Vielerorts trafen sich pietistische Zirkel nach dem offiziellen Gottesdienst zur eigenen “Stund”, in der Laien die Bibel auslegten und diskutierten.

Die Kirchen reagierten mit der üblichen Mischung aus Schock, Abwehr und Integrationsversuchen. Und selbstverständlich entstanden aus pietistischen Zirkeln auch jede Menge Sonderlehren und -gemeinschaften; nicht selten reagierten sie auf Verbote und Verfolgungen mit Auswanderungen nach Russland, in die Amerikas oder auch ins “Heilige Land” (wie die bis heute bestehende “Tempelgesellschaft”). Neben vielen Ausgründungen entstanden aber auch pietistische Gemeinden innerhalb der evangelischen Landeskirchen – wo sie bis heute eine große Rolle spielen.

Im 20. Jahrhundert schossen sich Nationalisten, Sozialisten und liberale Theologen gleichermaßen auf die Pietisten ein – die einstige Reformbewegung wurde nun selbst als erstarrt, wissenschaftsfeindlich und intolerant wahrgenommen. Pietisten verweigerten – und verweigern! – sich beharrlich völkischem Denken (denn Gott liebt Menschen aus allen Völkern), sozialistischen Utopien (denn erst Gott wird diese Welt erlösen) und allzu akademischen Lehrgebäuden (denn was einfache Menschen nicht verstehen können, kann Jesus nicht gewollt haben). Die Kombination aus Schriftorientierung, Fleiß und dem Verzicht auf Luxus trug entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg pietistischer Regionen bei, verwahrte sich jedoch zugleich gegen allzu prunkvolle Bauwerke, Feste und auch Kunstwerke. Mit Hingabe wurden – und werden! – dagegen Tätigkeiten wie der Maschinenbau, die Lokal- und Heimatgeschichte und auch die Archäologie gepflegt, die den Einzelnen im Strom der großen Geschichte ansprechen.

Der Pietismus prägte damit nicht nur die Pietisten selbst, sondern die gesamten Regionen – und sogar die Menschen, die ihm nie angehörten oder sich von ihm abwandten. Ein aktuelles Beispiel ist der muslimische Intellektuelle Navid Kermani, der sich in seinen frühen Reden und Texten scharf von den Orten seiner Kindheit, dem pietistisch geprägten Siegen, abgrenzte – und dann doch erkannte, wieviel Liebe zu Schrift und Wort er aufgesogen und geerbt hatte. Heute wird er gerade auch im Siegerland mit Stolz – gelesen. Anderswo erwirbt man sich Zugehörigkeit zum Beispiel über den Karneval, im Pietismus über das Lesen und Schreiben von Büchern.

Auch meine Frau Zehra und ich – je aus einer türkisch-muslimischen und ostdeutsch-nichtreligiösen Familien stammend – nehmen inzwischen bewusster wahr, wie tief uns die pietistischen Prägungen der Region beeinflusst haben: Von der Nachbarsfrau, die Kindern unverstellt bei den Hausarbeiten half – weil Gott will, dass jedes Kind gut Lesen und Schreiben soll -, über die tiefe Liebe zu Bibliotheken, in denen auch die vielzitierte “schwäbische Hausfrau” mit und ohne Kinder ein- und ausgeht, die reiche Tradition an Tüftlern und Problemlösern, in denen ein findiger Ingenieur und Handwerker mehr Ansehen genießt als ein unverständlicher Intellektueller bis hin zu einem Leistungsethos, das mehr auf Ergebnisse als auf “Public Relations” zählt. “Gscheit isch, was tut!”

Es ist kein Zufall, dass pietistisch geprägte Regionen eine oft besonders starke, demokratische Tradition insbesondere in der Lokalpolitik ausgeprägt haben und bis heute “Obrigkeiten” mit einer Mischung aus Respekt und Skepsis betrachten. Pietisten sind nicht nur kirchliche Föderalisten. Sie spenden gerne – auch heute noch -, doch weniger für Prunk und goldene Kuppeln als für Menschen und Bücher. Und wenn sie auch stärker auf Mission als auf den “Dialog der Religionen” setzen, so waren sie doch oft widerstandsfähiger gegenüber völkischen, sozialistischen und generell politischen Extremen als die jeweilige Obrigkeit.

Sicher, über jede Menschengruppe darf auch gespottet werden und mancher “Piet-Kong” kann freundlichen Humor vertragen. Und dennoch ertappe ich mich dabei, diese große und breite Reformbewegung auch zu verteidigen, wenn sie mal wieder im Namen der gerade angesagten Mode allzu flott als ewiggestrig abgestempelt wird. Denn tatsächlich waren und sind pietistische Strömungen ihrer Zeit auch immer wieder weit voraus und haben weit über ihre eigenen Zirkel hinaus gewirkt; auch in mein und unser Leben hinein. Die starke Betonung des eigenen Gewissens verdanke ich zum Beispiel auch, aber nicht nur, der Lebens- und DDR-Leidensgeschichte meiner Eltern.

Daher will ich gerne auch gegenüber dem Spott respektvoll anerkennen: Wer tiefe Wurzeln hat, kann auch – ganz ohne Prunk – in die Höhe wachsen. Es war nicht immer leicht als “Wossi”. Dennoch bin ich für die pietistischen Einflüssen in mein Leben hinein inzwischen aufrichtig dankbar.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

17 Kommentare

  1. Es ist gut, wenn sich jeder selbst eine Meinung über die Bibel bildet.
    Es ist gut, wenn es eine Religionsgemeinschaft gibt, die vom Priestertum aller Gläubigen spricht.
    Es ist nicht gut, wenn dabei der christliche Gedanke ins Gegenteil verkehrt wird.
    Als Beispiel sei ein Gottesdienstbesuch in Korntal genannt. Die Korntaler sind eine pietistische Vereinigung.
    Die Predigt begann damit : ” Alle Menschen sind von Geburt an schlecht, nur durch ständiges Beten können wir uns schützen !” Meine Überzeugung ist, der Mensch ist von Geburt an gut und dafür danken wir Gott.
    Übrigens war die Kirche übervoll und darunter waren sehr viele Kinder.
    Ein Urteil erspare ich mir an der Stelle.

    • Vielen Dank, @bote19.

      Die rousseausche Auffassung, dass „der Mensch von Geburt an gut“ sei, wird m.E. durch die Menschheitsgeschichte klar widerlegt. Wir zerstören einander und unsere Umwelt tagtäglich, das Gute fällt uns schwer.

      Auch Rousseau selbst ließ, um in Ruhe schreiben zu können, seine Kinder ins Waisenhaus abschieben, wo sie – wie Abertausende andere in ihrer Zeit – starben.

      In den Psalmen finden wir entsprechend nicht nur Dank, sondern auch Klage, Fragen, ja Vorwurf. Schon Kain erschlägt Abel etc. – und auch Jesu Kreuzestod geschieht ja laut Evangelien nicht, weil die Menschen so dolle gut und Gott nur lieb wäre…

      Ob „der Mensch“ nun „gut“ oder „böse“ sei, ist natürlich im Kern keine empirische, sondern eine normative (theologische oder philosophische) Frage. Doch ich kann zumindest nicht erkennen, dass viel für ein generelles Gutsein unserer Art spräche…

    • Nun, durch die Sünde von Adam und Eva und die Vertreibung aus dem Paradis, sind wir nach dem Wort der Bibel alle als Sünder geboren.
      Wie Sie dazu stehen ist eine andere Sache, aber das ist nun mal die Grundlage der jüdisch-christlichen Religion.

  2. ZU: “Der Mensch ist von Geburt an gut…”
    Ich möchte hier den Philosophen I. Kant zitieren: “Laster, Verlogenheit und Grausamkeit zeigen, dass der Mensch von Natur aus nicht gut ist.”
    Und in der Bibel steht auch: Der Mensch ist böse von Kindheit an.

    Der heutige moderne Mensch kann mit dieser Frömmigkeitsbewegung der Pietisten nichts mehr anfangen. Aber was ist der moderne Mensch ? Sind es die Singles, die vergeblich nach Liebe suchen ? Sind es die Shopper, die glauben mit dem Besitz materieller Werte ihr Glück zu kaufen ? Sind es die Egomanen, die die Freiheit des Einzelnen über alles , auch über Werte des menschlichen Zusammenlebens heben ?
    Da ich mich viel mit den pietistischen Mennoniten und Hutterern beschäftige, habe ich hier viele Werte kennengelernt, die dem “modernen” Menschen heute einfach fehlen wie LEBEN IN DER GEMEINSCHAFT, Lebens-und Sinnausrichtung nicht nur an materiellen Werten, Kinderreichtum als Geschenk und nicht als Last,
    kollektivistisches Denken etc…Will man meiner Ansicht nach über die Zukunft der Menschheit nachdenken, so sollte man auch über die Werte dieser Pietisten, die auch Antworten dafür geben, nachdenken…

    • Dank meiner Mutter bin ich in einem eher atheistischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater kam aus einem streng pietistischen Elternhaus. Da meine Mutter katholisch gewesen war, musste sie vor der Hochzeit evangelisch werden. Für meinen pietistischen Großvater war die Wahl meines Vaters der Super-GAU.
      Obwohl ich also relativ fern vom Glauben allgemein aufgewachsen bin, hat mich der Pietismus geprägt. Die Ablehnung der schönen Dinge des Lebens, die meinem Vater offenbar eingetrichtert wurden, hat mich letztendlich auch geprägt. Dass einen Menschen nicht nur Religion und Glaube durch das Leben tragen können, wäre meinem Großvater ein abstruser Gedanke gewesen.
      Ich habe lange gebraucht, das zu überwinden und meinen Glauben zu finden.
      Das Leben ist es wert gelebt zu werden und zwar nicht nur im Hinblick auf das Jenseits. Das Leben ist nur dann ein zu durchschreitendes Jammertal auf dem Weg zum Herrn, wenn wir es daraus machen. Ist den Pietisten der Gedanke so fremd, dass auch die schönen Dinge des Lebens von Gott gegeben sein könnten?
      Meiner Großmutter mütterlicherseits werde ich bis in alle Ewigkeit zu Dank verpflichtet sein, dass sie mir einen Zugang zu Musik, Literatur, Kunst etc eröffnet hat.

      • Danke, das ist ein wirklich schöner Druko, @Marie H.!

        Und, wenn Sie mir die Deutung erlauben, eben auch ein Ausstieg aus dem feindseligen Dualismus, der die Welt gegenüber dem Jenseits nur negativ lesen wollte. Im dialogischen Monismus können wir dagegen – ohne jedes Verleugnen auch der Leiden, externalisierten Kosten, ja des Todes selbst – dennoch auch die schönen Seiten des Lebens wie die Ihrerseits genannten “Musik, Literatur, Kunst etc” gelten lassen. Manchmal denke ich mir, dass schon eine glückliche Liebe, ein wunderbares Buch oder Schokolade Gründe genug sind, das Wirken für die Mitwelt nie aufzugeben. 🙂

        Ihnen Dank und ein schönes Wochenende!

  3. Vielen Dank, für die reflektiert-differenzierte “Ehrenrettung” des “Piet-Kong”.

    So mancher “Spott” will redlich verdient sein. 😉

    Besonders gefallen hat mir:

    “…tatsächlich waren und sind pietistische Strömungen ihrer Zeit auch immer wieder weit voraus und haben weit über ihre eigenen Zirkel hinaus gewirkt…”

    “Wer tiefe Wurzeln hat, kann auch – ganz ohne Prunk – in die Höhe wachsen.”

    Und es inspiriert mich zu folgenden (philosophischen) Gedanken:

    Wahre Größe braucht Tiefenorientierung

    Muss nicht, wer nach vertikaler Potenzialentwicklung strebt, ohne am (narzisstischen) Hybris-Wahn scheitern zu wollen, zugleich seine Fähigkeiten kultivieren, dem Geringsten und Allerverachtetsten – wie es z.B. Jesus vorlebte – angemessene konkrete Beachtung zu schenken?

    Wahre Machterweiterung braucht Unverfügbarkeitsbeachtung

    Muss nicht, wer horizontale Erweiterung und Einflussnahme in Raum und Zeit sucht, ohne an (neurotischer) Ressourcen-Erschöpfung zu Grunde gehen, sich zugleich erinnernd scheuen, dem letztlich Unverfügbarem, welches Balance, Zusammenhalt und Erneuerung ermöglicht, seinen Platz in der Mitte der Aufmerkksamkeit um zu “vermitteln” streitig zu machen?

    Anfänglicher Ignoranz, mag Spott und Widerstand folgen. Am Ende gelassen lachen die ihr Leben dem Schönen, Guten und Wahren verdankend, es ehren.

    Weiterhin alles Gute Dir.

  4. Golzower, Michael Blume
    über gut und böse können wir tagelang reden .
    Einen grundsätzlichen Gedanken muss ich aber noch loswerden.
    Man kann die Welt nur verbessern , wenn man an das Gute im Menschen glaubt.
    Hören Sie den klenien Unterschied heraus. „Das Gute im Menschen“, das ist in uns angelegt,
    Das Böse, das Krankhafte ist nur ein Mangel an dem Guten.

  5. Zu den Pietisten fallen mir alte Geschichten aus meienr Zeit im Schwabenland ein. So begab es sich zu Karneval (Fasnet) in den späten 90ern, dass im “Jerusalem der Pietisten” die Pfarrgemeinde beschloss, dass Kinder, die zu diesem Zeitpunkt geschminkt und/oder verkleidet erscheinen fürs erste aus dem Kindergarten auszuschließen seien.
    Von der nervtötenden Studentenmission Deutschland (SMD), die einen in der Tübinger Mensa mit Penetranz belagerte, will ich gar nicht erst reden.
    Den Punkten zur Bedeutung von Bildung, Büchern und Schaffen, will und kann ich nicht widersprechen. Es gibt da auch Verhalten, das mit Respekt abnötigt.

    • Hier in Filderstadt munkelt man sogar von misstrauischen Patrouillien, wenn das benachbarte, katholische Neuhausen karnevalesk feierte! 😉

      Und wer hat dann auch hier im Ort vor Jahrzehnten einen Kinderfasching organisiert? Die CDU!

      Lokalgeschichte hat was! 😎

  6. Bote” Man kann die Welt nur verbessern, wenn man an das gute im Menschen glaubt…”
    Diese Sicht ist mir zu einfach. Der deutsche Soldat vor Stalingrad 1943 hatte auch an das Gute im Menschen geglaubt und musste auf Menschen schießen bzw. selbst sterben, obwohl er gut war. Die Zeit, die Gesellschaft, die Verhältnisse waren nicht “gut” sondern un-menschlich. Es reicht also nicht nur gut zu sein, wenn mich andere mit dieser “guten” Einstellung nur missbrauchen und ausnutzen und das Gutsein als meine Schwäche ansehen. Von Bertold Brecht gibt es das Stück “Der gute Mensch von Sezuan”.
    Dieser Mensch ist an seinem Gutsein gescheitert. Es muss also meine Welt geschaffen werden, in der es möglich ist, gut sein zu dürfen. Eine solche Welt hat es aber wohl in der Menschheitsgeschichte kaum gegeben…

  7. Golzower
    gute Menschen sind nicht berechnend. Zum Gutsein gehört auch Nachteile auf sich nehmen zu müssen. (Sonst wäre es ja nicht gut, wenn man einen Vorteil vom Gutsein hätte)
    Der Gute scheitert vielleicht vordergründig,aber er ist in seinem Scheitern gleichzeitig der Dünger für positive Veränderungen. Jesus Christus ist durch seinen Opfertot nicht gescheitert, er hat die Christenheit von der Sünde(dem Falschen) befreit und den Weg frei gemacht für eine hoffnungsvolle Zukunft.

    Im übrigen geht es in allen Schöpfungsmythen um den Kampf zwischen Gut und Böse.
    Der Gute scheitert niemals ! Berhold Brecht war Kommunist . Der wollte das Gutsein auch nur mit der Brechstange durchsetzen.

  8. Sicher gibt es im Pietismus auch positive Elemente. Wichtiger noch ist die heutige Pfingstbewegung. Wir brauchen eine erfahrungsbezogene Religiosität. Ein Mensch kann durch Traumsteuerung zu mystischen Erfahrungen gelangen. Mehr dazu auf meiner Internetseite (bitte auf meinen Nick-Namen klicken).

  9. Herr Blume ich habe eine Frage an Sie als Antisemitismusbeauftragten. Die Begriffe Antijudaismus und Antisemitismus sind nicht klar voneinander differenzierbar. Manchmal wird Antijudaismus als christlich begründete Judenfeindlichkeit bezeichnet in Abgrenzung zum pseudowissenschaftlichen und ideologisch begründeten Antisemitismus, in der Universität hatte ich einen Dozenten der den Begriff Antijudaismus bevorzugte mit der Begründung Antisemitismus sei zwar in der modernen Ausprägung des Wortes verwendbar aber von der Wortbedeutung sei der Begriff zu ungenau weil die Semiten wesentlich mehr semitischsprachige Völker umfassen als Juden, auch wenn es schon mit dem Sammelbegriff „Semiten“ Probleme gibt. Wie würden sie Antijudaismus und Antisemitismus definieren?

    • Vielen Dank für Ihre Frage, @Magnus Erikson.

      Mein Buch zum Antisemitismus erscheint im März – dann wird es auch hier auf dem Blog selbstverständlich ausführliche Blogposts mit Diskussionsmöglichkeiten geben.
      https://www.patmos.de/warum-der-antisemitismus-uns-alle-bedroht-p-8903.html

      Schon jetzt kann ich aber vorausschicken, dass ich die leider immer noch umhergeisternde Vorstellung von einer „semitischen Rasse“ bzw. „semitischen Völkern“ gerade auch aus wissenschaftlichen Gründen ablehne.

      Sem war kein biologischer Vorfahr von „Rassen“ oder Völkern und übrigens auch kein Sprachengründer, sondern er ist ein mythologischer Vorfahr des Abraham. Schon seit Jahrtausenden konnten Menschen aller Herkunft und Hautfarben durch Konversionen etwa zum Judentum zu Nachfahren des Abraham und Sem (im mythologischen Sinn) werden.

      Die jüdische Überlieferung identifiziert Sem dabei als ersten Begründer eines (noachidischen) Lehrhauses: Also als ersten Menschen, der Religion und Recht auf Basis von Alphabetschrift allen Lernwilligen anbot. Der Semitismus und „Semiten“ haben also nichts mit Genetik, aber alles mit Mythen und Medien zu tun. Hier auch eine Aufzeichnung meiner Antrittsrede in Heidelberg dazu:
      https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/meldung/pid/antisemiten-bedrohen-uns-alle/

      Vielen Dank für Ihr Interesse und gerne bis bald! 🙂

  10. Als ebenfalls positiv vom Pietismus Geprägter freue ich mich über Ihre freundlichen Worte, die ich nur in einem Punkt relativieren möchte: In den pietistisch geprägten Regionen des ehemaligen Preußen (z.B. Siegerland, Ravensberg) erzielte die NSDAP anno 1932/33 außerordentlich hohe Wahlergebnisse. Das bekanntlich ebenfalls vom Pietismus geprägte preußische Königshaus wurde in übertriebener Weise verehrt, die Demokratie daher folgerichtig abgelehnt. Die durch und durch völkisch-antisemitische Stoeckerbewegung (auch der pietistische württembergische Bischof Theophil Wurm war bis zum Tod ein großer Verehrer Stoeckers) trug zu einer weiteren Vergiftung der politischen Kultur bei.
    Zwar gerieten weite Teile des Pietismus nach der “Machtergreifung” sehr schnell in Gegensatz zum nationalsozialistischen Regime, was bis heute gerne herausgestellt wird. In den Jahren zuvor waren Pietisten jedoch an vielen Stellen nicht Verweigerer, sondern eher Wegbereiter antidemokratischen und völkischen Denkens.
    Eine Aufarbeitung dieses weithin in Vergessenheit geratenen Sachverhalts täte, auch vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse z.B. in Sachsen, dringend Not.

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