Medienethik-These: Das digitale Leben ist ein Charaktertest

Ein mit Zehra & mir befreundetes Ehepaar hat in der Küche einen Aufkleber, auf dem einfach steht: “Glaub nicht alles, was Du denkst.”

Ich feiere diesen Satz, denn er drückt für mich die Substanz des dialogischen Monismus aus: Denke, aber überprüfe Dein Denken im Dialog auch mit anderen Menschen, mit guten Büchern und – wenn es Dir naheliegt – auch im Gebet oder in der Meditation. Entschleunige. Lass Dich nicht (ver-)hetzen. Suche den Rat lebenserfahrener Frauen und Männer. Glaub nicht gleich immer alles, was Du denkst. Wenn es wichtig ist, nimm Dir Zeit, es zu überprüfen.

Klar, in den Religionen gibt es diese Auffassung schon länger. Und sie werden nicht zufällig von Geboten der Entschleunigung wie Ritualen und Ruhezeiten begleitet. So lautet der Refrain im Song “Es gibt nur Einen” des Berliner Rappers Ben Salomon:

Es gibt nur einen Gott, das ist woran ich glaube
Lieb deinen Nächsten wie dich selbst, das ist woran ich glaube
Die zehn Gebote Moses, das ist woran ich glaube
Das Leben ist ein Test, das ist woran ich glaube.

Doch ich meine, dass ein solcher Charaktertest-Zusammenhang in die Weite der Zeit auch ohne religiösen Glauben, durch philosophische Erkenntnistheorie gewonnen werden kann.

So bringt die untenstehende, von Jörg Lohrer mit der Gamma.app erstellte KI-Darstellung der Thymotisierung durch digitale Medien und des Medienmengen-Paradox nach meiner Auffassung Gefahren und Chancen der digitalen Informationsflut beeindruckend auf den Punkt: Einerseits stehen uns allen nun Medienkanäle mit fast unendlichen Datenströmen zur Verfügung. Andererseits aber wollen uns zahlreiche Medienanbieter in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie durch Neurohacking bis in unsere Neurotransmitter Dopamin, Adrenalin und Testosteron hinein manipulieren.

Wir sind also ernsthaft gefordert, immer wieder kritisch-konstruktiv und auch im Dialog mit anderen auszuwählen, welchen Medien wir wie viel Zugang zu unserem Denken und Fühlen gewähren. Wer sich etwa Verschwörungsmythen hingibt, wird zwar kurzfristig mit Schein-Erklärungen und der Zugehörigkeit zu digitalen Verschwörungssekten “belohnt”, steigert sich aber immer tiefer in Hass, Hetze und Realitätsflucht. Verschwörungsglauben wirkt wie eine umgekehrte Religion, sie beschleunigt, verhetzt und versperrt den Dialog.

Unser Medienmix muss zu unseren Lebenszielen passen. Sonst verlieren wir uns in Empörungssucht, Hetze und realer Einsamkeit.

Eine KI-Zusammenfassung durch Jörg Lohrer stellt die "Thymotisierung durch digitale Medien" und "Das Medienmengen-Paradox" dar.  Darstellung der Thymotisierung durch digitale Medien und des Medienmengen-Paradoxes durch die KI Gamma.ai und Jörg Lohrer. Screenshot: Michael Blume

Der Autor von “Empire and Communications” (1950) und damit Begründer der kanadischen MedienwissenschaftHarold Adams Innis (1894 – 1952) unterschied Medien der Zeit wie Monumente aus Stein und Medien des Raumes wie Alphabetschrift auf Papier. Jedes Medium konnte also entweder von großer, zeitlicher Reichweite (dauerhaft) oder von großer, räumlicher Reichweite (schnell) sein.

Mit dem durch KI ausgewerteten Fediversum fallen nun erstmals in der Menschheitsgeschichte beide Medien-Dimensionen perfekt zusammen: Auch dieser Blogpost und jeder Druko, den Sie darunter schreiben, wird innerhalb weniger Sekunden weltweit und für alle heutigen und zukünftigen KI-Crawler erreichbar sein. Es ist durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass gerade auch Wissenschaftsblogs vielfach kopiert und noch in Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten KI-ausgewertet werden.

Eine KI-Darstellung der fünf Medienstufen nach dem KIT-Reader "Digitale Aufmerksamkeitsökonomie" von Dr. Michael Blume.

Primäre Medien brauchen keine Technologie, sekundäre Medien Sendungs- und tertiäre Medien auch Empfangstechnologie. In quartäre Medien begeben wir uns hinein und quintäre Medien interagieren direkt mit unserer Realität. Screenshot: Michael Blume

Denn auch KI-Anwendungen sollen möglichst wenig halluzinieren, möglichst wenig Botshit auswerfen und werden also mit immer größeren und möglichst verlässlichen Datenmengen trainiert. Auch sie sollen also lernen, vor Ausgabe ihre inneren Konstruktionen immer wieder zu überprüfen und zu verbessern.

Kurz: Die Erkenntnistheorie des Fallibilismus – der Erkenntnis, dass auch eigene Gedanken falsch sein können – nach Karl Popper (1902 – 1994) wird mit jedem weiteren Medium immer wichtiger. Wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, dürfen wir nicht alles glauben, was wir denken, fühlen, sehen. Erst dialogische Be-Ziehungen vermögen uns aus falschen Realitäten zu holen. Ob wir es wollen oder nicht: Die Kunst- und Übungsform der Falsifikation wird überlebenswichtig. Das digitale Leben ist ein Charaktertest.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

22 Kommentare

    • Oh, danke – Tilmann Schneider 🙏

      Ich kannte das Buch “Glaub nicht alles, was du denkst” von Alexandra Reinwarth noch nicht, aber es liest sich schon mal sehr sympathisch an!

      Wird gerne gekauft und gelesen, für den wohltuenden, multiperspektivischen und also dialogischen Medienmix. 🤓📚☕🖖

    • Vielen Dank, @Marcus Enger – diese Rückmeldung freut mich sehr! 🙂

      Obwohl und weil ich ja einen Doktor phil. trage, gebe ich sehr viel auf die auch in der untenstehenden Folie zitierten Einschätzung von Karl Popper (1902 – 1994):

      “Ich glaube, daß alle Menschen Philosophen sind, wenn auch manche mehr als andere. Ich stimme natürlich zu, daß es so etwas wie eine besondere und exklusive Gruppe von akademischen Philosophen gibt, aber ich teile keineswegs Waismanns Begeisterung für die Tätigkeit und die Ansichten dieser Philosophen. Im Gegenteil, ich meine, daß viel für jene Leute spricht (auch sie sind in meinen Augen eine Art von Philosophen), die der akademischen Philosophie mißtrauen. […] Ich meine sogar, daß die Tatsache, daß ich selbst ein Berufsphilosoph bin, ernsthaft gegen mich spricht: ich empfinde es als eine Anklage. […] Alle Menschen sind Philosophen.”

      Popper, Karl (1978): Wie ich die Philosophie sehe. in: Popper, Karl (1987 / 2014): Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, Piper 2014 (17. Auflage!), S. 193 – 211

  1. Gerne lege ich einen Text dazu, der in der Gebetspraxis der katholischen Frömmigkeit, des Stundengebetes, (digitaler Zugang dazu über https://www.stundengebet.de) heute morgen in der laudes bedacht wird:

    Phil 2,14f Tut alles ohne Murren und Bedenken, damit ihr rein und ohne Tadel seid, Kinder Gottes ohne Makel mitten in einer verdorbenen und verwirrten Generation, unter der ihr als Lichter in der Welt leuchtet.

    Mir sagt dieser Satz, wenn ich in mir größere Widerstände spüre, einen Mix, dann braucht es, bevor ich aktiv etwas tue, eine Zeit der inneren Klärung. Es ist also ein Rat gegen die Hetze und den Gedanken von Alternativlosigkeit.
    Ein wichtiger Zugang zur Klärung ist dabei das Focussing (ein link dazu https://ha-makom.de/focusing/), als eine Praxis ganzheitlicher Vergewisserung und Umgangs mit Ungewissheit.

    Das kann helfen, den Charakter zu bilden, etwas, wozu Tests sicher gut motivieren. Posts, Likes und weitere digitale Lebensäußerungen werden diese Mühe der Lebensgestaltung abbilden.

    • Danke & ja, @HG Unckell 🙏📚🙌

      Historisch ist doch gerade die demokratische Einteilung der Zeit in Wahlperioden doch genau dazu entstanden, dass sich freie Bürgerinnen und Bürger nur zu bestimmten Zeiten mit Politik befassen müssen (dies aber jederzeit dürfen!), wogegen sie alle paar Jahre über die Amtsinhaber entscheiden dürfen. Ich habe auch wirklich das Gefühl, dass vorgezogene Neuwahlen besondere Unruhe hervorrufen, als hätten die Gewählten ihre Beauftragung nicht zu Ende zu bringen vermocht.

      Aus meiner Sicht ergibt sich daraus auch die bürgerschaftliche Pflicht, mir die Zeit für Themen zu nehmen, zu denen die Gewählten sich nicht täglich informieren können. Gerade weil Politik oft unter Krisen- und also Zeitdruck stattfindet, sollte sich die Gesellschaft nach meiner Einschätzung nicht hetzen lassen. Irgendwas ist immer, aber eine Demokratie mit panisch herumirrenden Bürgerinnen und Bürgern wird sich nicht stabilisieren können. Deswegen befürworte ich private Weisheitsübungen, ob in der Religion oder Kunst, in der Spiritualität oder im Sport, in Büchern oder im Gespräch. Wie es das Solarpunk-Motto ja auch ausdrückt: Niemand kann alles, aber alle können etwas tun.

      Ein Positivbeispiel ist für mich etwa @Elisabeth K, auch hier:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/gegen-einsamkeit-im-alter-ein-gastblogpost-von-elisabeth-krueger/

      So rege, demokratisch engagiert und immer wieder erkenntnisoffen möchte ich im Alter auch noch gerne sein! 🙂

  2. guten Morgen, @Michael Blume.

    Das ist ein wunderbarer Satz!

    Ich denke, das bringt die Tugend der intellektuellen Redlichkeit gut auf den Punkt, die uns damals tatsächlich einer meiner verehrten Lehrer schon in der Schule nähergebracht hat.

  3. Das eigene Denken im Dialog mit anderen zu überprüfen. Das fällt zunehmend schwer. Denn aufgrund so vieler verschiedener Quellen, Medienangebote etc. sehe ich das als vielleicht größte Herausforderung an.

    Ganz unabhängig von Politik gibt es viele Themen, bei denen wir zunächst aus dem Wissen und der Arbeit anderer schöpfen. Welche Bücher lesen wir zu einem Thema? Woher hat der Autor/die Autorin warum die nötige Kompetenz? Denken bedeutet immer das persönliche Interpretieren eines Themas. Daher ist dieser Blog hier so wichtig, weil man sich mit anderen Kommentierenden austauschen kann und dann hoffentlich zur Selbstreflektion fähig ist.

    Es gibt Menschen, die niemanden haben, mit dem sie solche Themen diskutieren können, und die dann mit ihren Gedanken und Interpretationen allein bleiben. Einsamkeit bedeutet auch fehlenden Austausch mit anderen Menschen. Dann bleibt nur noch das eigene (digitale) Ich. Nicht jede und jeder ist bereit, sich im digitalen Raum anderen gegenüber zu öffnen. Lieber sucht man dann Gleichgesinnte (Bubble). Ich habe ja aus bestimmten Gründen gezögert, auf Mastodon meinen derzeitigen Lesestoff zu offenbaren.

    Seit einigen Jahren schalte ich nur noch selten den Fernseher ein. Es tut mir nicht gut, weil es eine Reizüberflutung für mich ist. Sehr viel lieber höre ich Musik, das dient auch der Entschleunigung und der Entspannung. Ich beschäftige mich gerne mit den Kantaten von Johann Sebastian Bach. Mit dem religiösen Kontext, der Aufführungspraxis (die ja durchaus von Kantate zu Kantate sehr unterschiedlich sein kann). Dazu höre ich den Podcast des MDR “Die Bachkantate”.

    “Suche den Rat lebenserfahrener Frauen und Männer”. Nicht alle Lebenserfahrung ist positiv. Ich bin zwar lebenserfahren, würde mich selbst aber nicht um Rat fragen. Selbst bei meinen Kindern, wenn die mich um Rat fragen, bin ich sehr zurückhaltend.

    “Unser Medienmix muss zu unseren Lebenszielen passen”. Darüber habe ich nachgedacht, verstehe den Satz aber nicht wirklich. Was ist, wenn man keine Lebensziele mehr hat?

    “Sich selbst treu zu bleiben” ist ein sehr hoher Anspruch. Zumal sich Lebensentwürfe nicht immer realisieren lassen und Schicksalsschläge Menschen aus der Bahn werfen können. Wichtiger scheint mir zu sein, ein ausgeglichenes Verhältnis zu sich selbst zu haben, sich nicht zu wichtig zu nehmen und sich im Zweifel neu zu justieren.

    • Vielen lieben Dank für diesen tiefen Druko, @Marie H. 🙏

      Tatsächlich hat sich für mich der moderierte Wissenschaftsblog als mittel-schnelles Medium als perfekt erwiesen. Hier kann ich oft über lange Zeit heranreifende Gedanken – wie diesen zum Charaktertest – niederschreiben und zum kritisch-konstruktiven Dialog stellen. Auf die Drukos „bekannter“ Kommentierender wie Sie, @Tobias Jeckenburger, @Elisabeth K oder @Peter Gutsche freue ich mich schon immer wieder, weil sie auch immer wieder Überraschungen enthalten. Auch kann ich mich längst darauf verlassen, dass Sach- oder Schreibfehler schnell von Mitlesenden ausfindig gemacht und aufgezeigt werden!

      Und zuletzt kam auch noch die Freude hinzu, das KI-Fediversum mit sinnvollen Inhalten (sog. Content) zu bestücken und damit gerade auch kleinere, dezentrale KI-Anwendungen zu stärken. Ich kann ja nicht verhindern, dass andere ihre kostbare Zeit in Konzern-Datensilos versenken, aber ich kann hier Raum anbieten, um das Fediversum zu stärken.

      Schon angesichts der säkularen Bevölkerungsimplosion und des fortgesetzten Konzern-Neurohackings glaube ich, dass Einsamkeit ein gesellschaftliches Megathema ist und immer mehr wird. Blogs können ein sinnvoller Weg sein, miteinander im Gespräch und geistig rege zu bleiben. Neben Beruf und Familie ist es oft stressig, aber im Ruhestand würde ich gerne ohne Druck und auch je nach Laune weiterbloggen!

      Der Charaktertest-Gedanke reifte schon länger und als ich heute früh wach lag, arbeitete ich ihn aus, machte mir ein Tässle Kaffee ☕️ mit Vanille-Pflanzenmilch und gönnte mir eine schöne Stunde im Bücherzimmer. Für mich ist das Lebensglück, zumal ich ja wieder auf konstruktive Drukos wie Ihren hoffen durfte! ☺️🙏☕️

      • Herzlichen Dank für die lobenden Worte.

        Ich will gerne auf Ihren Mastodon-Post “Den digitalen Rechtsruck verstehen” zurückkommen. In dem KI-Chart heißt es u.a.: “Mut zur Anerkennung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse”. Das sehe ich als großes Problem, denn wie wir an den Diskussionen, Veröffentlichungen etc. von Wissenschaftlern während der Corona-Pandemie gesehen haben, gab es nicht nur die eine Wahrheit. Da wurden die Ergebnisse von Studien angezweifelt, eitle Selbstdarsteller erhielten viel Raum in manchen Medien und jeder konnte sich eigentlich aussuchen, welchem Wissenschaftler man nun glauben wollte und welchem nicht. Da ist Wissenschaftskommunikation an ihre Grenzen gestoßen.

        Dann ist mir noch aufgefallen, z.B. auf der Website der Ludwig-Erhard-Stiftung (ich könnte vermutlich auch jede andere nehmen), dass Personen mit den Titeln Prof. Dr. Beiträge schreiben. Durch die Autoren des Beitrags “Der Irrweg ÖPNV-Flatrate” wird zwar viel Text produziert, dessen Inhalt sich auf “mehr Wettbewerb bei der Ausschreibung von Bus- und Bahnstrecken” zusammenfassen lässt. Würde ich das jetzt als Wissenschaft weiterverbreiten, müsste ich im Zweifel mit viel Kritik rechnen.

        “In gewollter feiger Unwissenheit liegt kein Segen”. Volle Zustimmung.

        Aber um beim obigen Beispiel zu bleiben: Ich habe mich informiert, nehme an, dass es sich um wissenschaftliche Erkenntnisse handelt, weil die Autoren akademische Titel tragen und habe doch vielleicht nicht die “richtigen” Ergebnisse von Wissenschaft bekommen. Das dürfte für Nicht-Akademiker die Schwierigkeit sein.

        Zum Tässle Kaffee: Das habe ich noch nie mit Vanille-Pflanzenmilch ausprobiert, obwohl ich schon lange keine Kuhmilch mehr verwende. Vielleicht werde ich das mit der Vanille-Pflanzenmilch mal testen.

        • Vielen herzlichen Dank, @Marie H. 🙏

          Interessierte finden die Gamma-KI-Zusammenfassung aus dem Blogpost zum digitalen Rechtsruck hier:

          https://den-digitalen-rechtsruck-qc4iq2l.gamma.site/

          Es ist wirklich faszinierend zu sehen, wie schnell und vielfältig das KI-Fediversum expandiert!

          Zu Ihrer konkreten Nachfrage würde ich gerne zwischen den von Ihnen angesprochenen Begriffen von “wissenschaftlicher Erkenntnis” einerseits und “nur die eine Wahrheit” andererseits unterscheiden. So generiert die wissenschaftliche Methode immer neue Erkenntnisse. Diese müssen dann jedoch in den Kultur- und Geisteswissenschaften wie etwa der Rechtswissenschaft (Jura), in Philosophien, Theologien sowie Medien-, Politik- und Religionswissenschaft auch gedeutet werden. Und selbst dann stellen sie entlang des angesprochenen Fallibilismus immer nur Annäherungen an “die Wahrheit” dar, die durch spätere Erkenntnisse auch falsifiziert und überboten werden können. Interdisziplinär diskutierte Ergebnisse sind daher die beste Annäherung an “die Wahrheit”, die uns derzeit zur Verfügung steht – sie sind jedoch nicht die Wahrheit selbst. Und genau an dieser bleibenden Unsicherheit setzen Rechtsdualisten – gerne auch mit akademischen Titeln – an, indem sie durch Verschwörungsmythen abgestützte Schein-Wahrheiten verkünden.

          So musste und muss beim Thema Covid19 jeder seriöse Wissenschafter und jede seriöse Wissenschaftlerin ehrlich angeben, was noch nicht sicher geklärt ist, von der Herkunft bis zu künftigen Mutationen. Ein Verschwörungsgläubiger kann sich dagegen auf falsche, aber emotional wirksame Externalisierungen zurückziehen und einfach verkünden, dass das Virus doch “nur eine Erfindung von den Rothschilds und Bill Gates” gewesen sei.

          https://www.nytimes.com/2025/01/30/technology/bill-gates-tech-billionaires-memoir.html?unlocked_article_code=1.t04.KoqF.rEbJM7rxD0FZ&smid=nytcore-ios-share&referringSource=articleShare

          An dieser feinen Linie zwischen echter, aber sich stets auch selbst hinterfragender Erkenntnis (dialogischer Monismus), der Behauptung, es gäbe gar keine Wahrheit (egozentrischer Relativismus) und falscher, aber scheinbar alles klärender Verschwörungswahrheit (feindseliger Dualismus) findet unser aller digitaler Charaktertest statt. Ob genügend von uns diesen Test bestehen, entscheidet auch, aber nicht nur über die Zukunft unserer bundesdeutschen Demokratie…

  4. Waschweibergeschwätz ist also industrialisiert worden, aber wir werden damit zugetextet wie eh und je.

    Ich muss an Taras Bulba denken. Die Kosaken saufen und pöbeln und begraben einander lebendig in ihrem Baumhaus mit dem bunten „Für Mädchen Zutritt verboten!“-Wachsmalstift-Schild an der Tür, versorgt von jüdischen Händlern, die vor Angst bibbern in solcher Gesellschaft. Plötzlich kommt ein Gerücht auf, die Polen hätten dies und das gemacht, mit Märchenelementen, die eher auf Byzanz hindeuten, also auf Fake News made in Moskau. Und sofort rasten alle aus, massakrieren die Juden und laufen Amok durch die halbe Ukraine, wobei sie sich als Freiheitskämpfer der Ruthenen profilieren, aber anscheinend ist auch jeder Ruthene Pole, allein dadurch, dass er zufällig verfügbar ist, wenn man gerade dem Blutrauschspaß frönt.

    Wo war das Internet, als Gogol das Fake-News-Propaganda-Märchen schrieb? Wo war das Internet, als die realen Ereignisse stattfanden, die sich vage in den Märchen spiegeln?

    Das Internet ist eine bessere Hafentaverne, wo Seeleute aus aller Welt um die Wette Garn spinnen, der die Leute dazu kriegen soll, ihnen ein Glas Rum auszugeben. Es wimmelt von Taschendieben, Falschspielern, Huren, Agents Provocateurs und Spionen aller möglichen Mächte oder Geschäftsmogule, man will Spaß haben, man will sich prügeln, man will dem Alltag entkommen, und nimmt doch mehr zurück nach Hause, als ein paar Zahnlücken, Beulen und einen leeren Geldbeutel, denn in solchen Tavernen wurde schon immer Volksstimmung gemixt, indem jeder so viel von seinem Gift in den Hexenkessel dazu goss, wie er gerade konnte.

    Dass da irgendwo ein Musk oder Trump auftaucht, der sich auf die Bühne stellt, splitternackt bis auf Strapse, Lampenschirm auf dem Kopf, Pfauenfedern im Hintern und ganz mit Glöckchen behangen, und dann wie wild zappelt und schreit und tobt, um allen anderen die Show zu stehen, ist bei Influencern und auf dem Rummel genauso gängige Praxis, wie auch überall sonst im Showbusiness. Wenn Sie eine Casting Show aufziehen, in der Sie den größten, nervigsten Super-Idioten des Planeten suchen, finden Sie am Ende den größten, nervigsten Super-Idioten des Planeten, nicht das Backrezept für Omas Zimtkuchen.

    Wir sind in Teilzeit Leibeigene, in Teilzeit Aristokraten. Vormittags schuften wir auf den Feldern, um das Lotterleben der Aristokraten zu ermöglichen. Nachmittags entspannen wir uns in der Dorfkneipe. Nur wirft unsere Feldarbeit genug ab, dass unsere Dorfkneipe in das Lotterleben der Aristokraten ausartet, Orgien, Karneval, Exzesse, Perversitäten, Zirkusspiele, Theater, Christen und Löwen und Folterorgien der Inquisition, denn Reizüberflutung und die daraus resultierende Abstumpfung war schon immer ein Problem des Adels.

    Wir haben Renaissance – das größte Grauen und die größten Wunder direkt nebeneinander, die Welt wandelt sich, eine Zeit der Extreme, finanziert durch die plötzliche Flut aus Aztekengold, Sklaven, Piratenbeute aus der ganzen Welt. Die Dalton-Bande hat die Bank ausgeraubt und verprasst die Dollars, was denn sonst? Neureiches Pack.

    Doch wir haben auch schon die Zeit danach, als die Raubzüge zu Kolonien wurden, die Länder mit Zugang zum Ozean ihr Staatsgebiet plötzlich massiv vergrößerten, der Osten nicht mehr mithalten konnte, alles östlich des Rheins krachend zusammenbrach und von Geiern aus Berlin, Wien und Moskau aufgesammelt wurde, die lokale geografische Vorteile hatten und global davon profitierten, dass die neuen Großmächte von lohnenderer Beute abgelenkt waren. Erst nach seiner Unterwerfung durch Preußen konnte Deutschland dank seiner Nordseehäfen zum Westen aufschließen.

    Wer sich einem aggressiven, absolutistischen Führer unterwarf, verschlang diejenigen, die weiter saufen, pöbeln und sich um die letzten Tropfen Rum prügeln wollten, und die Freiheit und Demokratie und Patriotismus als billigen Vorwand missbrauchten, das Asoziale zum Ideal erhoben, dem sich der ganze Staat zu unterwerfen hatte. Und solange das der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist, cheerleade ich der Demokratie, doch wette auf die Diktatur, bis die Demokratie ein Charakter-Upgrade bekommt.

    Menschen sind Sklaven ihrer Natur, mögen kein Aua, ihre Natur zwingt sie aber, sich Aua zu machen, und wenn sie sich selbst kein Aua machen dürfen, fühlen sie sich versklavt und das ist auch Aua. Die Gesellschaft wird immer ein Zirkus sein, sich selbst betrügen, austricksen müssen, um sich nicht zu zerstören. Bis sie selbst zum Zirkus wird und alle Lemminge besoffen vom Trapez stürzen. Work hard, party hard. Work little, party little. Wer Letzteres wählt, ist leichte Beute für jene, die Ersteres wählen, und das gehört zu seiner Wahl dazu. Wer Ersteres wählt, trägt Verantwortung für jene, die zu schwach sind, mitzuziehen, und auch das gehört zu seiner Wahl dazu.

    Versoffene, selbstherrliche Asi-Kosaken, die sich von gezielter, organisierter Propaganda eines zu allem entschlossenen, rücksichtslosen, menschenverachtenden Zaren zu Rebellionen gegen reichere, polnische Varianten ihrer selbst aufstacheln lassen, an deren Ende sie alle zusammen Sklaven sind, die in fremden Mägen langsam verdaut werden. Sind wir das nicht alle?

  5. Auch am Thema der gefühlten und tatsächlichen Kriminalität wird das digitale Medienmengen-Paradox eindrucksvoll sichtbar.

    So erläuterte die Sozialpsychologin Jennifer Führer im n-tv-Interview:

    “Schon seit Jahrzehnten zeigt die Forschung, dass Kriminalitätsraten kaum bis überhaupt keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von Kriminalität in der Bevölkerung haben. Dabei ist es egal, ob die Kriminalität gerade ab- oder zunimmt.”

    Der Hauptgrund für die steigende Furcht vor Kriminalität auch bei abnehmenden Straftaten sei die digitale Verfügbarkeit von Informationen:

    “Menschen überschätzen die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, wenn Informationen leicht verfügbar sind. Das ist nicht nur bei Kriminalität so. Wenn Leute nach der Häufigkeit von Flugzeugabstürzen gefragt werden, nennen sie eine viel zu hohe Zahl. Denn wenn ein Flugzeug abstürzt, wird weltweit darüber berichtet, wie das aktuellste Ereignis in Washington zeigt. Aber an allen anderen Tagen wird natürlich nicht gemeldet, dass kein Flugzeug abgestürzt ist. Dasselbe gilt für Kriminalität. Durch das Internet und die sozialen Netzwerke haben wir einen viel leichteren und schnelleren Zugang zu Informationen. Hinzukommend werden einige Fälle medial prominenter aufgezogen als andere.”

    Schon bei der Auswahl der verfügbaren Informationen spiele dabei die politisch-psychologische Grundeinstellung eine entscheidende Rolle:

    “Menschen, die politisch eher rechts orientiert sind oder Verschwörungsmythen anhängen, haben eine höhere Kriminalitätsfurcht. Sprich, sie haben eher Angst, Opfer einer Straftat zu werden.”

    Das ganze, überaus lesenswerte Interview findet sich hier:

    https://www.n-tv.de/panorama/Gefuehlte-Kriminalitaet-Wird-es-wirklich-immer-schlimmer-article25529779.html

    Gerade auch in der Konfrontation mit so schwierigen Themen wie Kriminalität und der Gefahren-Präferenz unserer Evolutionspsychologie bestätigt sich nach meiner Einschätzung das Thema von der Digitalisierung als Charaktertest.

  6. Ein Mastodon-Account fragte:

    “Was ich in dem Artikel nicht herauslesen konnte:
    Wie ist hier „Charakter“ gemeint?
    Wie ist hier „Test“ gemeint?
    Und was ist grundsätzlich ein „Charaktertest“?”

    https://sueden.social/@Hilfe1Geist@mastodon.social/113933244656401377

    Die japanische KI Felo.ai antwortete m.E. überzeugend im Kontext des Medienmengen-Paradoxons:

    ## Definition der Begriffe

    ### **Charakter**
    Der Begriff *Charakter* beschreibt die Gesamtheit der individuellen Eigenschaften, die eine Person ausmachen und sie von anderen unterscheiden.
    Dazu zählen sowohl moralische und ethische Werte als auch mentale und emotionale Merkmale. Charakter kann sich auf die Persönlichkeit eines Menschen beziehen, also auf die Art und Weise, wie jemand denkt, fühlt und handelt. Es umfasst auch die moralische Festigkeit und Integrität einer Person, wie etwa in der Aussage „ein Mensch von Charakter“[4][5][17].

    Zusätzlich kann der Begriff auch auf die Eigenschaften von Dingen oder Orten angewendet werden, wie beispielsweise der „Charakter einer Stadt“ oder der „symbolische Charakter“ einer Handlung[5][17].

    ### **Test**
    Ein *Test* ist ein Verfahren oder eine Methode, um etwas zu prüfen, zu bewerten oder zu messen.
    Dies kann in verschiedenen Kontexten geschehen:
    – **Bildung**: Ein Test kann eine Reihe von Fragen oder Aufgaben umfassen, die das Wissen, die Fähigkeiten oder die Fertigkeiten einer Person bewerten sollen[2][7].
    – **Psychologie**: Tests werden verwendet, um Persönlichkeitsmerkmale, Intelligenz oder andere Eigenschaften zu analysieren[14][36].
    – **Medizin**: Tests dienen der Diagnose von Krankheiten oder der Überprüfung der Gesundheit, wie etwa Blut- oder Schwangerschaftstests[7].
    – **Allgemein**: Ein Test kann auch eine Herausforderung oder ein Kriterium sein, um die Qualität oder Belastbarkeit von etwas zu prüfen[8][20].

    ### **Charaktertest**
    Ein *Charaktertest* ist ein spezieller psychologischer Test, der darauf abzielt, die Charaktereigenschaften oder Persönlichkeitsmerkmale einer Person zu analysieren.
    Solche Tests werden häufig in der Psychologie, Personalentwicklung oder Berufsberatung eingesetzt. Sie helfen dabei, Stärken und Schwächen zu identifizieren, die Selbstwahrnehmung zu verbessern und die Interaktion mit anderen Menschen besser zu verstehen[3][6][15].

    Beispiele für Charaktertests sind der Big-Five-Persönlichkeitstest oder der Myers-Briggs-Typenindikator. Diese Tests basieren auf wissenschaftlichen Modellen und können sowohl für persönliche Entwicklung als auch für berufliche Zwecke genutzt werden[6][18][21].

    [1] https://www.merriam-webster.com/dictionary/VON
    [2] https://www.merriam-webster.com/dictionary/test
    [3] https://www.dwds.de/wb/Charaktertest
    [4] https://www.merriam-webster.com/dictionary/character
    [5] https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/german-english/charakter
    [6] https://en.wikipedia.org/wiki/Personality_test
    [7] https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/english/test
    [8] https://www.dictionary.com/browse/test
    [9] https://www.staerkentrainer.de/pers%C3%B6nlichkeitstest/pers%C3%B6nlichkeitstest-charaktertest/
    [10] https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/english/character
    [11] https://en.langenscheidt.com/german-english/charakter
    [12] https://www.merriam-webster.com/dictionary/personality%20test
    [13] https://www.merriam-webster.com/medical/von
    [14] https://www.vocabulary.com/dictionary/test
    [15] https://greator.com/charaktertest/
    [16] https://www.dictionary.com/browse/character
    [17] https://en.wiktionary.org/wiki/Charakter
    [18] https://www.testgroup.com/character-test/
    [19] https://www.mayocliniclabs.com/test-catalog/download-setup?format=pdf&unit_code=619201
    [20] https://www.britannica.com/dictionary/test
    [21] https://de.wikipedia.org/wiki/Pers%C3%B6nlichkeitstest
    [22] https://www.thefreedictionary.com/character
    [23] https://www.collinsdictionary.com/dictionary/german-english/charakter
    [24] https://mettl.com/glossary/p/personality-test/
    [25] https://www.mayocliniclabs.com/test-catalog/download-setup?format=pdf&unit_code=603851
    [26] https://kids.wordsmyth.net/we/?level=2&rid=42538
    [27] https://www.managementkompetenzen.de/persoenlichkeitstest/index.html
    [28] https://www.britannica.com/dictionary/character
    [29] https://www.online-translator.com/translation/german-english/Charakter
    [30] https://www.opm.gov/policy-data-oversight/assessment-and-selection/other-assessment-methods/personality-tests/
    [31] https://dictionary.langeek.co/en-DE/word/211121
    [32] https://www.merriam-webster.com/dictionary/tested
    [33] https://www.klug-md.de/Wissen/Persoenlichkeitstest.htm
    [34] https://www.vocabulary.com/dictionary/character
    [35] https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/english-german/character
    [36] https://www.sciencedirect.com/topics/social-sciences/personality-test
    [37] https://en.wikipedia.org/wiki/Test
    [38] https://www.cancer.gov/publications/dictionaries/cancer-terms/def/diagnostic-test
    [39] https://www.hp-fc.de/infos/lexikon/?mode=show&lexid=331
    [40] https://www.collinsdictionary.com/us/dictionary/english/character
    [41] https://de.wikipedia.org/wiki/Charakter
    [42] https://www.berkeleywellbeing.com/personality-tests.html
    [43] https://www.thefreedictionary.com/test
    [44] https://www.managerseminare.de/ms_Artikel/Charaktertest-Was-macht-mich-zufrieden,219812
    [45] https://www.merriam-webster.com/wordplay/word-history-of-character-origins
    [46] https://languagemate.io/dictionaries/de/en/Charakter
    [47] https://www.collinsdictionary.com/dictionary/english/personality-test
    [48] https://www.collinsdictionary.com/us/dictionary/english/test
    [49] https://www.lw.uni-leipzig.de/wilhelm-wundt-institut-fuer-psychologie/arbeitsgruppen/persoenlichkeitspsychologie-und-psychologische-diagnostik/persoenlichkeitstest
    [50] https://characterlab.org/character/
    [51] https://goethe-lexicon.pitt.edu/GL/article/view/41
    [52] https://www.id37.io/en-post/what-is-a-personality-test
    [53] https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/learner-english/test
    [54] https://de.testsworld.net/charaktertest.html
    [55] https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/us/definition/english/character
    [56] https://www.dwds.de/wb/Charakter

  7. @Fakenews

    Hier noch ein interessanter Artikel:

    https://www.spektrum.de/news/warum-soziale-medien-weniger-gefaehrlich-sind-als-wir-denken/2210667

    So viel Desinformationen kursieren demnach in den antisozialen Plattformen gar nicht. Entscheidender scheint es zu sein, dass das Vertrauen in Politik, Massenmedien und Wissenschaft weniger wird.

    Wie nachvollziehbar das jetzt wieder ist, ist mir recht unklar.

    So hat etwa in der Coronazeit die Medizinerlobby im wesentlichen die Führung übernommen. So mussten dann auch jede Menge Schüler in die Kontaktsperre gehen, die selbst von Corona praktisch gar nicht selbst betroffen waren. Dieselben Schüler sind in zwischen älter und wählen jetzt verbreitet die AfD.

    Ein anderer Effekt fällt mir noch ein. Die vielen Stunden, die die Leute täglich in den antisozialen Medien verbringen, die fehlen doch, sich vernünftig mit der Welt und dem Leben auseinander zu setzen. Das alleine kann schon weitreichende Folgen haben.

    Die Leute werden nicht nur uninformierter, sondern womöglich auch charakterlich weniger ausgebildet. Wenn die Leute sich jetzt stattdessen mehr per KI schlau machen, dann kann das sehr hilfreich werden.

    Was in dem Spektrumtext gar nicht angesprochen wurde, dass ist das Fehlen jeglicher Moderation in den einschlägigen Medien. Was dazu führen kann, dass man beleidigt, verleumdet und bedroht werden kann, ohne die Möglichkeit, sich dagegen wehren zu können.

    Und so wird dann auch der allgemeine Diskurs dort schneller destruktiv. Selbst wenn Politik weniger überhaupt ein Thema ist. Hier hilft dann z.B. Mastodon weiter.

    • Vielen Dank, @Tobias, und Zustimmung. Mein Argument ist ja auch ausdrücklich nicht, dass die meisten Menschen alles glauben würden, was sie zu lesen oder zu sehen bekommen. Sondern dass wir alle (!) dazu neigen, jene Medienströme zu abonnieren, die uns in unseren Vor-Urteilen bestätigen. Mir gefällt dazu der Begriffsvorschlag von Yuval Noah Harari in Nexus (2024) zwischen digitalen Blasen einerseits und KI-verstärkten Kokons andererseits zu unterscheiden.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/von-der-neurohacking-blase-zum-ki-kokon-oder-zur-dialogischen-realitaet/

      Ein aktuelles Beispiel für den Übergang zum KI-Kokon ist die neue, chinesische KI DeepSeek, die bei starker Performance jede Menge für die chinesische KP heikler Themen verweigert.

      In einem starken Debattenbeitrag im SPIEGEL 04/2025 hat Armin Nassehi auf den S. 46 – 47 davor gewarnt, die “kritische Öffentlichkeit” mit der Erwartung zu überfrachten, sie könne der Ort von dialogisch-monistisch zu erschließenden Sachfragen sein.

      Sachkenntnis zählt nicht, nur die richtige Haltung. […]

      Ein engagierter Diskurs wird vor allem darüber geführt, dass Sätze großer Dringlichkeit gesagt werden. Die Beschwerdeführer sind gewissermaßen damit zufriedengestellt, wenn sie wiederholt werden, Sätze freilich, die von so großer Allgemeinheit und so sehr in der Zwei-Seiten-Form von Zustimmung und Ablehnung gefangen sind, dass sie frei von Konsequenzen bleiben. […]

      Erkenntnisfragen werden durch Bekenntnisfragen ersetzt. […] Man sollte zumindest anerkennen, dass die meisten wichtigen Entscheidungen nicht im Meinungsmodus öffentlicher Debattenforen getroffen werden. Auch wenn es sich befremdlich anhört: Die öffentlichen Debatten, deren Unerbittlichkeit auch zu einer Gefahr für demokratische Loyalität und Toleranz anderen ‘Meinungen’ gegenüber wird, entfernen sich immer mehr von ihren Sachfragen.”

      Aus meiner Sicht trifft dies auch die Neurohacking-Algorithmen-verzerrten Meinungsforen in antisozialen Medien zu, aber deutlich weniger auf die nichtkommerziellen und ehrenamtlich moderierten Fediversum-Foren wie Wissenschaftsblogs und Mastodon. Auch hier wird über Meinungen gestritten, aber es ergeben sich auch immer wieder – und sogar zunehmend – sehr komplexe Dialoge über die Sachthemen. Und immer mehr KI-Anwendungen erlauben es Menschen, sich schnell in neue Spezialgebiete und -begriffe einzuarbeiten. So habe ich heute morgen innerhalb weniger Minuten eine Gamma-KI-Präsentation zum eskalierenden Commitment bzw. der Commitmentfalle basteln können, einer bislang nur wenigen Fachleuten bekannten Begriffswelt:

      https://commitmentfalle-uhpb7zv.gamma.site/

      Danke, dass auch Du Dich so interessiert und sachlich orientiert an einer Vielzahl von Themen von Medien über Demografie bis zu Wirtschaft einbringst! Das macht mir Hoffnung, dass immer mehr sachorientierte und dialogische Mikro-Öffentlichkeiten entstehen. NdG ist bereits eine davon, auch dank Dir. 🌞📚🙏☕

  8. Auf den Medienmix kommt es an.

    Diese Aussage finde ich für mich sehr wichtig. Die Vielzahl der Medien, die im Angebot sind, beschreiben Krisen, Katastrophen, politische Desaster. Ich mag mich davon aber nicht herunterziehen lassen und so suche ich gezielt nach den Medien und Informationen, die positiven Nachrichten verbreiten. Für mich sind das die Beispiele, die zeigen, inwieweit die erneuerbaren Energien in Deutschland voranschreiten, die zeigen, wie Menschen sich für andere einsetzen, also eine positive Richtung haben. Dabei verschließe ich mich nicht, auch über die Krisen dieser Welt zu lesen, aber ich brauche immer wieder einen Ausgleich dafür und manchmal ganz einfach eine mentale Pause.

    Ich habe viel über Goethe gelesen und recherchiert, das war eine wunderbare Abwechslung.

    Ganz wichtig sind die echten Dialoge mit anderen Menschen bei einer Tasse Kaffee oder Tee. Ich bin dankbar, dass ich in meinem Wohnort die Möglichkeit habe, unkompliziert ins Café zu gehen. Dabei stelle ich fest, dass ich mich vorwiegend in meiner Altersgruppe bewege und der Austausch mit jüngeren Menschen fehlt. Selten ist in einer Woche so viel mit Besorgnis über Politik geredet worden. In diesem aktuellen Zusammenhang den Charaktertest zu bestehen, ist wirklich schwierig. Da gilt es, sich immer wieder selbst zu hinterfragen, was man von den Medien verarbeiten und verbreiten soll/darf. Da ist/war viel Empörung, auch leider in unschöner Sprache.
    Die eigene Aufgeregtheit und Beunruhigung zu sortieren und in eine Ordnung zu bringen, ist im Moment für mich eine Herausforderung.

    • Vielen Dank, liebe @Elisabeth K

      Oh ja, auch ich erarbeite mir immer wieder einen neuen Medienmix, wobei ich auf persönliche Gespräche und die morgendliche Tageszeitung keineswegs verzichten möchte. Auch Bücher gehören für mich zur täglich beglückenden Mischung.

      Sehr gerne lese ich aber auch Artikel etwa in Wochenmagazinen wie dem SPIEGEL oder dem Monatsheft der HERDER Korrespondenz (HerrKorr).

      Ein Beispiel für einen Text, der mich wirklich glücklich gemacht hat, ist der Kultur-Text von Anja Bettenworth zum Thema Von Adam gebracht. Wie sich das Christentum den Kakao aneignete in der HerrKorr 01/2025, S. 33 – 35.

      Darin erfahren wir, um nur ein Beispiel zu nennen, dass Petrus Martyr d’Anghiera (1457 – 1529), den “cacao” in seinem achtbändigen Werk “De orbe novo / Über die neue Welt” als Geld-Währung vorstellte.

      “Diese Form von Geld, so Petrus Martyr, sei glücklich zu nennen, denn da die ‘Münze’ auf einem Baum wachse, müsse man zu ihrer Gewinnung nicht aus Habgier die Eingeweide der Erde aufwühlen, wie es bei Münzen aus Gold und Silber der Fall sei. Und da es sich bei den indigenen ‘Münzen’ zugleich um Nahrungsmittel handele, komme man auch nicht auf den Gedanken, sie wie Goldmünzen im Boden zu vergraben, um später damit die eigene Völlerei zu bezahlen oder sie bei Kriegsgefahr dort zu verstecken.” (S. 33)

      Solche und viele weitere, narrativen Informationen lassen mich unsere Lebenswelt immer wieder neu entdecken und wertschätzen, zumal ich den Aufruf mag: “Rettet die Erde, es ist der einzige Planet mit Schokolade!” 🌞📚☕🙏

      Mir tun dagegen jene Menschen durchaus ein wenig Leid, die sich den ganzen Tag nur mit oberflächlichen oder sogar hasserfüllten Informationen bis hin zu Verschwörungsmythen vollballern lassen. Gerade auch bei Themen wie Kriminalität wird ja sehr deutlich, dass dadurch völlig verzerrte Formen der Wahrnehmung bis hin zu Angst, Hass, Rassismus und Antisemitismus eskalieren. Gerade auch Deutschland ist ein viel besserer Ort, als er in antisozialen Medien oft präsentiert wird.

  9. @Michael 02.02. 18:59 / SPIEGEL 04/2025

    „Die öffentlichen Debatten, deren Unerbittlichkeit auch zu einer Gefahr für demokratische Loyalität und Toleranz anderen ‘Meinungen’ gegenüber wird, entfernen sich immer mehr von ihren Sachfragen.“

    Die wirklichen Meinungen der Bürger entwickeln sich doch über Jahrzehnte. Und hier ist der öffentliche Diskurs über eben diese Jahrzehnte ganz maßgeblich beteiligt.

    Toleranz und überhaupt der Umgang mit konträren Standpunkten zieht sich ebenso über größere Zeiträume.

    So ist es ganz natürlich, wenn etwa im akuten Wahlkampf wenig inhaltlich diskutiert, dafür aber umso deutlicher die Standpunkte bezogen werden.

    Populismus zeichnet sich meisten darin aus, dass gar kein richtiges Programm verfolgt wird, sondern einfach nur irgendwie nach Zustimmung gesucht wird. Und letztlich überwiegend Themen besetzt werden, die einfach nur ziehen. Ohne ein wirkliches Konzept dahinter, das jetzt konkret verfolgt werden soll.

    Autokraten zeichnen sich regelmäßig dadurch aus, dass sie einfach nur die Staatskasse plündern.

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