Margot Käßmann und die Sehnsucht nach Leben – Rezension einer postmateriellen Erbauung
BLOG: Natur des Glaubens
Nachdem der Blogpost über den evangelischen Kirchentag erstaunlich viel Interesse gefunden hat und im Sommer eine Zeit der Bücher winkt, möchte ich Ihnen in den kommenden Tagen zwei Rezensionen zu Büchern von Theologen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, erstellen: Hier zum Überraschungs-Bestseller von Margot Käßmann "Sehnsucht nach Leben" und kommende Woche zum religionskritischen "Der Jesuswahn" von Heinz-Werner Kubitza.
Sehnsucht nach Leben – Postmaterielle Erbauung von Margot Käßmann
Die emotionale Seite von Religiosität
Als sich Charles Darwin – als studierter Theologe – mit der Evolution der religiösen Erfahrung befasste, war ihm klar, dass er wenig erkundetes Terrain betrat. In seiner „Abstammung des Menschen“ (1871, deutsch 1875) vermerkte er: „Das Gefühl religiöser Ergebung ist ein in hohem Grade complicirtes, indem es aus Liebe, vollständiger Unterordnung unter ein erhabenes und mysteriöses höheres Etwas, einem starken Gefühle der Abhängigkeit, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft und vielleicht noch anderen Elementen besteht. Kein Wesen hätte eine so complicirte Gemüthserregung an sich erfahren können, bis nicht seine intellectuellen und moralischen Fähigkeiten zum mindesten auf einen mässig hohen Standpunkt entwickelt wären.“
Akademische Versuche, Glauben als rein rationales und intellektuelles Abenteuer zu erfassen, hat es seitdem zahlreich gegeben – meist erreichten sie nur ein überschaubares Publikum. Umso vernehmbarer sind nun Empörung und Zähneknirschen darüber, dass die ehemalige Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann mit „Sehnsucht nach Leben“ einen Bestseller verfasst hat, der von Abertausenden gelesen, empfohlen und verschenkt wird.
Pastellfarbene Bilder, Träume und Sehnsüchte
Dabei signalisiert schon der Titel wie auch das Buchcover und schließlich die in dezenten Pastellfarben zu jedem Kapitel gestalteten Impressionen von Eberhard Münch, dass hier keine lehramtliche Abhandlung geboten wird, sondern warmherziges Gefühl. Mehr noch: Die Autorin knüpft an eine lange fast brachliegende Gattung religiöser Literatur an – die Erbauungsschrift. In zwölf Kapiteln greift sie im Dialog mit Münchs Bildern „Sehnsüchte“ auf: Nach Leben, Stille, Heimat, Mut, Kraft, Freiheit, Frieden, Engeln, Gott, Trost, Geborgenheit und Liebe. Und im betont persönlichen Stil einer lebensklugen Brieffreundin fügt sie dazu je Erfahrungen, Gedanken und Auswahlen an Bibelstellen, theologischen Auslegungen und Gedichten zu einem roten Faden zusammen: Träume und Sehnsüchte sind nicht lächerlich, sondern wertvoll. Du bist nicht alleine. Du wirst von Gott getragen. Für sich selber nimmt Margot Käßmann dabei gar keine besondere Heiligkeit in Anspruch, sondern erzählt auch von Zweifeln und Scheitern. Dass sie als erste Frau zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt wurde, streift sie beispielsweise nur mit einem Bericht über ihr Zögern, ob sie überhaupt eine Kandidatur wagen sollte. Ein Freund ermutigt, und der beste Freund ist Gott.
Eine Generation jenseits der herkömmlichen Fortschrittserzählungen
Ihr eigener Hintergrund und ihre Zielgruppe ist eine Generation, die noch von Krieg, Leid und der Zuflucht zum Glauben gehört hat, aber selbst in zunehmender Sicherheit, Bildung und Wohlstand aufgewachsen ist – und nun zunehmend feststellen muss, trotzdem nicht das Paradies erreicht zu haben. Wenn noch mehr Bruttosozialprodukt alleine kein Lebensglück mehr verheißt, wenn Freiheitsmaximierung in ein Zerbröseln von Familien umgeschlagen ist, wenn die Wehrpflicht abgeschafft wird, aber in anderen Erdteilen Kinder sterben, wenn Alter, Krankheit und Tod aus den Werbewelten ausgeblendet werden und doch geschehen – dann greifen die herkömmlichen Fortschrittserzählungen und Antworten nicht mehr.
Erfolgreiche, religiöse Erbauung
Die Autorin teilt diese Erfahrungen und bietet auch keine neuen Fertiglösungen an, sondern ermutigt erst einmal „nur“ dazu, auf die je eigenen Gefühle und ausgewählte Weisheiten christlicher Tradition zu lauschen. Dass plötzlich so viele Menschen davon angesprochen werden und sich in Sehnsüchten als verwandt erfahren kann als das eigentliche Aha-Erlebnis ihres Buches verstanden werden. Auch Anders- und Nichtglaubende sind Kaßmann nicht Bedrohung und Feindbild, sondern Mitsuchende, mit denen wir uns beraten sollten. Ihre Absage gilt einzig jenen Zynikern und Werbeprofis, die über das Sehnen und Träumen anderer nur noch zu spotten vermögen. Es ist kein Zufall, dass der Autorin auf evangelischen Kirchentagen viele Herzen zufliegen. Aber auch wer selbst keinen emotionalen Zugang zu religiöser Erbauung (mehr) findet, kann sich durch ihren Bucherfolg als postmaterialistische Aktualisierung einer einst kulturprägenden Literaturgattung anregen lassen.
Sehnsucht nach Leben
Mir ist an Ihrer Rezension von Frau Kässmanns Buch aufgefallen, dass Sie versuchen, Evolutionstheorie und Theologie zu vereinigen.
Darwins Charakterisierung menschlicher Eigenschaften entsprach dem “Geist” (Zeitgeist) des 18. Jahrhunderts in Europa: “vollständiger Unterordnung unter ein erhabenes und mysteriöses höheres Etwas, einem starken Gefühle der Abhängigkeit, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft und vielleicht noch anderen Elementen”.
Frau Kässmanns vertritt “geistige” Elemente, die Wünschen von Menschen nach Glücksgefühlen im heutigen Deutschland entsprechen: “Stille, Heimat, Mut, Kraft, Freiheit, Frieden, Engeln, Gott, Trost, Geborgenheit und Liebe”.
Die Mehrzahl dieser Wünsche haben nichts mit Religion zu tun. Welche Wünsche aus eigener Kraft unter gegebenen Umständen realisiert werden können,ist entscheidend. Gott und seine Engel mögen einigen Menschen das schöne Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Das Gefühl hilft nicht, um im harten Leben zu bestehen.
Ich bin ziemlich sicher, dass Darwin das heute genau so sehen würde.
Übrigens hat auch Zarazin einen Bestseller gelandet.
@Peter Hiemann
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung!
In der Tat liegen Sie “dicht dran”: Der Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit (und auch dieses Blogs) ist die Frage, wie Religiosität und Religionen im Evolutionsprozess entstanden sind. Und genau diese Frage beschäftigte auch bereits Charles Darwin (der studierter Theologe war). Heute arbeiten in der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen sowie Atheisten, Agnostiker und Glaubende verschiedenster Religionen zusammen. Das Feld entwickelt sich sehr dynamisch und hat inzwischen sogar ein eigenes Fachjournal.
http://www.chronologs.de/…ion-brain-and-behavior
Einen deutschsprachigen Überblicksartikel zum Thema finden Sie auch z.B. hier:
http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/982255
Herzlichen Dank für Ihr Interesse und herzlich willkommen auf dem Blog.