Liz Truss und die gescheiterte Präfiguration des politischen Thatcher-Mythos

Nun hat Großbritannien den Salat: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich – doch gerade auch Konservative laufen in der Sehnsucht nach “guten, alten Zeiten” Gefahr, das zu übersehen.

Schon in den vergangenen Wochen war ich im Hinblick auf das britische Post-Brexit-Scheitern tief fasziniert von der Entsprechung zu einem mythologischen Rückgriff, den Hans Blumenberg (1920 – 1996) aus der Theologie als “Präfiguration” beobachtet und für die Zukunft vorausgesagt hatte. Und als dann heute Liz Truss nach dem erfolglosen Bauernopfer ihres Finanzministers ihren eigenen Rücktritt als Kurzzeit-Premierministerin des Vereinigten Königreiches erklärte, twitterte ich mit einem spontanen Foto des Blumenberg-Buches aus meiner Tasche nur halb-scherzhaft:

Wer zum Rücktritt von UK-PM #LizTruss 🇬🇧 Philosophisches denken, sagen oder schreiben mag, hier 1 Vorschlag nach #Blumenberg: „Durch Mehrheitswahlrecht entfesselt, verstrickte sich Liz Truss in einer #Präfiguration des #Thatcher-Mythos, den selbst die Markt-Götter verschmähten.“

Blumenbergs Auskopplung aus “Arbeit am Mythos”, posthum erschienen unter dem Titel “Präfiguration”. Foto: Michael Blume

Da der Münsteraner Philosoph schon für mein “Rückzug oder Kreuzzug?” eine tragende Rolle spielte, möchte ich Ihnen das Ergebnis seiner Mythenforschung gerne vorstellen.

Hans Blumenberg wollte eigentlich katholischer Priester werden, musste jedoch wegen der jüdischen Herkunft einer Mutter seine Laufbahn abbrechen und sich vor dem NS verstecken. Als sein Hauptwerk gilt das genialische “Arbeit am Mythos” (1979), in dem er zwischen Ernst Cassirer (Mythos ist eine von Vernunft zu überwindende Stufe) und Martin Heidegger (der Mensch kann dem Mythos in “Sein und Zeit” nicht entkommen) erfolgreich vermittelte: Menschen “entängstigen” sich, indem sie in Mythen die “absolute Wirklichkeit” in erzählbare Gewalten und Namen teilen. Sie können also einerseits dem Bedarf an Mythen nicht entkommen, aber über diese reflektieren und mit ihnen wachsen. Damit war auch eine mythologische Überwindung oder doch Bekämpfung des Antisemitismus möglich!

Auch in diesem Sinne hieß mein Buch von 2020 (mitten in Covid19- & Donald Trump-Zeiten) schlicht: “Verschwörungsmythen“.

Lt. Blumenberg bleiben Mythen mächtig, aber wir können sie reflektieren, mit ihnen wachsen. Foto: Michael Blume

Bei aller – bis heute wachsenden – Zustimmung zu Blumenbergs “AaM” bemerkten jedoch schon frühe Kritiker wie Götz Müller 1981, dass der Autor ausgerechnet politische Mythen nur angedeutet hatte. Ihm antwortend gab Blumenberg zu, ein eigenes Kapitel dazu geschrieben, aber nicht in das Gesamtbuch aufgenommen zu haben. Dieses Skript wurde dann als “Präfiguration” erst 18 Jahre nach seinem Tod, 2014, posthum durch Angus Nicholls herausgegeben.

Den titelgebenden Begriff “Präfiguration” entnahm Blumenberg dabei der kirchlichen Theologie: Frühe Ausleger behaupteten, die hebräische Bibel (der Tanach, das “Alte Testament”) habe die christliche Bibel “präfiguriert”, vorgebildet: Der vor dem Lande Israel sterbende Moses habe auf den in Israel gekreuzigten Jesus verwiesen, die Arche Noah auf die Kirche usw.

Doch diese Auslegung entzauberte nicht nur die jüdische, sondern auch die christliche Tradition: Wenn Moses “nur” ein Vor-Jesus war – wer würde dann der nächste Jesus sein? Und wenn Gott nach der Arche eine Kirche geschickt hatte – was käme dann als nächste Institution? Letztlich führte die Präfiguration zurück in ein zyklisches Denken von immergleichen Problemen (wie die Sintflut) und immergleichen Lösungen (Erlöser) ohne ein glückliches Ende. Es führte den linearen Kalender der alphabetisierten (“semitischen”) Religionen ins Esoterische und Absurde. Fast alle kirchlichen Theologien hatten den mythologischen Präfiguration-Rückgriff daher längst aufgegeben.

Blumenberg behauptete nun aber, dass die Politik diese Lektion noch nicht gelernt habe. Als Eingangsbeispiel wählt er den arabischen Überraschungsangriff auf Israel im sog. Yom-Kippur-Krieg 1973: Obwohl säkular-nationalistisch, wählten Ägypten und Syrien den 10. Tag des Ramadan, an dem der Prophet Muhammad die siegreiche Schlacht von Badr eröffnet hatte – und der 1973 auf den jüdischen Feiertag fiel.

Doch die mythologische Präfiguration scheiterte: Nach ersten Überraschungsdurchbrüchen der arabischen Truppen gelang den Israelis nicht nur die Rückeroberung angegriffener Gebiete, sondern sogar die Überschreitung des Golan im Norden und des Suezkanals im Süden, bevor es zu einem neuen Waffenstillstand und später einem Friedensvertrag mit Ägypten kam.

Auch Hitler hatte sich laut Blumenberg in wilden Präfigurationen von römischen Kaisern bis Friedrich dem Großen verloren – was aber wohl auch der Grund war, warum der persönlich vom NS Betroffene die schwere These nicht in AaM aufnahm. Die Präfiguration verleiht dem politischen Akteur “Legitimität”, aber sie ist zum Scheitern verurteilt: Ein Mythos, der sich nicht als Mythos erkennt. Die “Arbeit am Mythos” wäre von einer gelehrten Betrachtung zu einem politischen Statement sowohl gegen linke Kulturkrieger wie gegen konservative Reaktionäre umgewuchtet worden.

Mit dem katastrophalen Scheitern der britischen Tories unter Liz Truss haben wir nun also tatsächlich ein weiteres Beispiel für Blumenbergs Präfiguration-These erlebt: Bis in Sprache, Ideologie und Kleidung hinein bot sich Truss den überwiegend älteren, wohlhabenden Parteimitgliedern als Wiederverkörperung der legendären Tory-Premierministerin Margaret Thatcher (1925 – 2013, PMin 1979 – 1990) gegen einen verkrusteten Staat und altindustrielle Gewerkschaften an. So gewann sie die innerparteiliche Wahl klar – aber verlor das Amt der Premierministerin gleich wieder. Denn die Situation des Vereinigten Königsreichs war nach dem katastrophalen Brexit, der Covid19-Pandemie und auch des Todes von Queen Elizabeth II. (1926 – 2022) eine völlig andere als unter Thatcher: Der britische Staat war bereits nahezu kaputtgespart, die Menschen samt ihrer Gewerkschaften orientierungslos, das Vertrauen auch der Wirtschaft in die Regierung am Boden. Ausgerechnet der vermeintlich unfehlbare Markt, den Truss doch “entfesseln” wollte, wandte sich nun gegen die Reformen (Re-Formen!, wörtlich: Wiederherstellungen!), die sie und ihr Finanzminister gegen alle auch wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentierten: Verstörte Anleger zogen ihre Gelder aus dem Vereinigten Königreich ab, das Pfund und Pensionsfonds taumelten und die schnell steigenden Zinsen drückten Hausbesitzer und Unternehmen an die Wand.

Kurz: Sowohl die Präfigurationen des Prophetensieges wie auch des römisch-preußischen Kriegsglücks und nun des libertären Guter-Markt-Böser-Staat-Dualismus scheiterten an der Realität. Aus der Geschichte lässt sich lernen, dass Wiederholungsversuche, Präfigurationen scheitern.

Doch in dieser Arbeit am Mythos sind Kirchen und Literatur der Politik noch voraus. Wie lange wird es noch dauern, bis die Politikberatung über das “Narrativ”-Gewäsch kurzfristiger Werbekampagnen lernt, Mythen auch weiter zu entwickeln? Davon könnte jede Menge abhängen, zum Beispiel das Überleben unserer Art.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

15 Kommentare

  1. “As Ms. Truss scrambled to hold on to her post this month, a U.K. tabloid decided to have some fun. The tabloid, the Daily Star, picked up a 60-pence head of lettuce from Tesco and started live-streaming it on Oct. 14. It was a stunt to see if the unrefrigerated vegetable would stay fresh long enough to see Ms. Truss out of office.
    “Daily Star lettuce celebrates victory,” the tabloid wrote Thursday after Ms. Truss resigned. ”
    [ … ]
    “Much of the conversation about Ms. Truss on social media Thursday centered not on political minutiae but on the great lettuce showdown of 2022.”

    https://www.wsj.com/articles/united-kingdom-prime-minister-liz-truss-vs-lettuce-11666285887

    Das ist bestimmt irgendwie eine Metapher für irgendwas.

  2. Anstatt von Präfiguration würde man heute eher vom Rückgriff auf die behauptete historische Grösse/Glorie sprechen und den, der ihr wieder zum Durchbruch verhelfen will als Beauftragten einer historischen Mission sehen. Wobei Liz Truss sich den Auftrag die (behauptete) historische Grösse einer Figur wie Margaret Thatcher anzunehmen, selbst gegeben hat allerdings in der Annahme, dass sie Gefolgsleute findet. Wenn hier ein Mythos mitspielt, dann der Mythos, dass Margaret Thatcher Grossbritannien und die konservative Partei zu einer Grösse geführt habe, die ihr vorübergehend fehlte und dass das gleiche, als die Wiederherstellung früherer historischer Grösse, heute (von Liz Truss) erneut in Angriff genommen werden muss.

    Diesen Rückgriff auf die angeblich gloriose Vergangenheit, die es wiederherzustellen gilt, findet sich auch bei den Führern Russlands und Chinas. Russland will sich dementsprechend weiterhin als Grossmacht sehen und China wieder das Reich der Mitte werden. Dabei wird alles in der Vergangenheit je erreichte, je besessene wieder in Anspruch genommen, was sich etwa darin zeigt, dass China alle Inseln im südchinesischen Meer, die je irgendwann unter chinesischer Herrschaft standen wieder ins chinesische Reich integrieren will. Ganz ähnlich erhebt Putin Anspruch auf die gesamte frühere Sowjetzone.

    In Trumps Worten könnte man auch von „Make America/Russia/China great again“ sprechen.

    Die Präfiguration scheint allerdings noch weiter zu gehen und konkreter zu werden indem sie nicht nur eine Wiederherstellung früherer Zustände meint, sondern eine Wiederverkörperung früherer, historischer Figuren durch Zeitgenössische und das Nachspielen, die Mimikri von dem, was bereits einmsl über die (Welt-)Bühne lief.

  3. Mit gutem Willen allein ist man in der Wirtschaft nicht erfolgreich. Man braucht auch Sachverstand dazu.
    Das ist der Nachteil des Mehrheitswahlrechtes, es kommen nur die “Politiker” ins Parlament, aber keine Fachleute.

  4. Danke, die Nacht war gut- 🙂

    Hier ist etwas zur allgemeinen Erbauung:

    =============
    [Der Narrator besucht eine Party im Silicon Valley]

    … And so you find yourself mumbling thanks to your Uber driver and crossing the threshold of another Bay Area house party.

    “Heyyyyy, I haven’t seen you in forever!” says a person whose name is statistically likely to be Michael or David. “What have you been working on?”

    “Resisting the urge to go to events like this”, you avoid saying. “What about you?”

    “Oh man,” says Michael or David, “The most exciting startup. Just an amazing startup. We’re doing procedural myth generation with large language models.”

    “Oh?”

    “Yeah. We fine-tune an AI on a collection of hundreds of myths from every culture in the world. Then we can prompt it. A myth about snowflakes. A myth about mountain-climbing. A myth about lunch.”

    “How do you make money?”

    “So think about it. Myths aren’t just old stories. They’re methods for understanding and relating to the universe. Have you ever listened to Jordan Peterson’s lectures on Genesis? They’re life changing. Myths are our psychic motor, our source of inspiration, the way that we make sense of our world. Without them we’d be spiritually adrift. Well, it stands to reason that if we had more of them, we’d be more inspired, and we’d be able to make sense of our world better. So far we’ve been limited by the number the Greeks or Norse or whoever passed down to us. But if we could generate new myths on demand, man, we’d be unstoppable. That’s why I’m pitching this to corporations. Imagine if your competitor’s still working out of Bulfinch’s Mythology, but you can generate thousands of myths, on any topic, whenever you want. You’d be unstoppable!”

    “I know people say myths give life meaning,” you say, “but I think it’s just cope for galaxy-brainers who are too obsessed with the classical western humanities tradition. I definitely don’t think you can make life have extra meaning just by making more myths.”

    “See, that’s the kind of negative talk that used to get me down. I would have given up. But now I just think to myself – did Jesus give up when the Minotaur kidnapped his daughter? No! He set out through the Fiery Forest to find the magic helmet that would bring her back! And that’s why I’m not going to give up either. See! I’ll let you have that one for free.”

    Maybe Michael or David senses your skepticism. His tone becomes more confrontational. “And if myths are really just for ‘galaxy-brainers who are too obsessed with the classical western humanities tradition’, then explain why my startup has already gotten $10 million in funding from Peter Thiel!”

    Rather than be forced to answer that, you push further into the party. You curse the Devil bitterly for tricking you into coming here. But like Jesus in the middle of the Fiery Forest, it’s too late to turn back now.
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    Quelle: Scott Alexanderr auf https://astralcodexten.substack.com/p/another-bay-area-house-party?utm_source=post-email-title&publication_id=89120&post_id=74852396&isFreemail=false&utm_medium=email

    Etwas ernsthafter: Es gibt schon eine Materialsammlung von Volksgeschichten, klassifiziert nach Typen.* Das lässt sich ausbauen auf Mythen und Mytheme, wenn man nicht mit Jung und Campbell zufrieden ist.

    *Der “Aarne-Thompson-Uther Classification of Folk Tales”:
    https://www.atlasobscura.com/articles/aarne-thompson-uther-tale-type-index-fables-fairy-tales

    Und die Wirtschaft hat das Ausbauen und postmoderne Kombinieren von Mythen längst entdeckt. Was das Marvel Cinematic Universe auf die Leinwand zeichnet ist sicher interessant in Hinblick auf das dahinter stehende Weltbild bzw. seine mythische Fundierung.

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    Re Yom-Kippur-Krieg 1973:
    Die Datumswahl wird auch militärstrategisch erklärt (was mythische Denken nicht ausschließt). Die Annahme auf Angreiferseite war, dass am Feiertag das öffentliche Leben ruht und deshalb die Israelis nur langsam und konfus reagieren würden. Übersehen wurde, dass dann so ziemlich jeder in Israel zu hause war, dh. leicht und schnell erreichbar, und durch keine Beschäftigung von einer sofortigen Mobilisierung zurückgehalten wurde. (Frei nach Martin van Creveld.)

    • Danke auch für die spannenden Funde, @Noch‘n Wort! Werde ich mir geben!

      Blumenberg berichtet sogar über einen Disput zwischen ägyptischen und syrischen Militärs über die richtige Stunde des Angriffs, den Sonnenstand. Bis heute heißt dieser Feldzug in der arabischen Welt überwiegend Ramadan-Krieg.

      • Wenn Ihnen die fiktionalen Texte von Scott Alexander*
        gefallen, dann müssen Sie unbedingt auf den Unsong**-Trip gehen.

        Goodreads dazu***:
        “Aaron Smith-Teller works in a kabbalistic sweatshop in Silicon Valley, where he and hundreds of other minimum-wage workers try to brute-force the Holy Names of God. All around him, vast forces have been moving their pieces into place for the final confrontation. An overworked archangel tries to debug the laws of physics. Henry Kissinger transforms the ancient conflict between Heaven and Hell into a US-Soviet proxy war. A Mexican hedge wizard with no actual magic wreaks havoc using the dark art of placebomancy. The Messiah reads a book by Peter Singer and starts wondering exactly what it would mean to do as much good as possible…

        Aaron doesn’t care about any of this. He and his not-quite-girlfriend Ana are engaged in something far more important – griping about magical intellectual property law. But when a chance discovery brings them into conflict with mysterious international magic-intellectual-property watchdog UNSONG, they find themselves caught in a web of plots, crusades, and prophecies leading inexorably to the end of the world. ”

        *https://en.wikipedia.org/wiki/Slate_Star_Codex
        https://www.reddit.com/r/slatestarcodex/comments/3u39yg/a_collection_of_scott_alexanders_literary_works/ (auf dem Stand von 2016)

        **https://unsongbook.com
        https://www.goodreads.com/book/show/28589297-unsong

        ***https://www.goodreads.com/book/show/28589297-unsong

  5. Liz Truss‘ wollte mit Growth, Growth, Growth Grossbritannien aus den Post-Brexit Schwierigkeiten herausholen. Und das mit allen Mitteln wozu eine mit Schulden finanziertes Wachstum gehörte sollte. Sie gab vor in die Fusstapfen Margaret Thatchers zu treten um das Unseriöse ihrer Wirtschaftspolitik für die konservative Partei besser akzeptierbar und verdaubar zu machen. Letztlich war das also ein Ablenkungsmanöver Der Historiker Tooth hat es im SPON-Artikel so formuliert: Tooze: Sie hat versucht, den Bluff des Brexits auf eine weitere Stufe zu heben. Die ökonomischen Folgen des britischen EU-Austritts wurden lange durch die lockere Geldpolitik übertüncht. Man könnte sagen: Die Zeche für den Brexit wurde bis heute nicht bezahlt.

    Der Brexit wiederum wurde nur möglich, weil weite Teile der englischen Elite immer noch an das Grossbritannien der Vergangenheit glaubte, welches der Demokratie, dem Kapitalismus und der Industrialisierung zum globalen Durchbruch verholfen hatte und deshalb – so glaubten sie – immer noch eine globale Bedeutung habe (global Britain). Das war eine Selbsttäuschung, denn Grossbritannien hatte sogar schon im ganzen 20. Jahrhundert seine globale Bedeutung verloren.

    Fazit: Wissen um die Geschichte und Mythenbildung schliessen sich nicht aus, sondern sie spannen oft zusammen. Leute denken sich die Geschichte in ihrem Sinne zurecht und wollen sie unter falschen Voraussetzungen fort- und weiterführen.

  6. Die Toten erheben sich aus den Gräbern. Ob Kristallkugel-Johnny oder Zombie-Apokalypse, der Rückwärtsgang bei Welten-Crashs fand in vielen Mythen sein Echo. Sie sehen sogar die Entrückung, sehr viele Stars unserer Jugend sterben auf einmal, während der elende Rest sich mit der Apokalypse herumplagen muss. Schätze mal, wenn’s zu Ende geht, sind immer wieder alte Säcke an der Macht, die sich nur noch verzweifelt ans Vergangene klammern können, denn wenn Jüngere an der Macht sind, können sie sich an Veränderungen anpassen, der Weltuntergang läuft als großangelegtes Renovierungsprojekt ab und wird nicht als solcher in den Geschichtsbüchern verbucht, sondern als Beginn eines Goldenen Zeitalters. Doch wenn die Alten so viel Macht haben, die Welt mit sich ins Grab zu reißen, haben sie auch die Idole gestellt, was ein synchronisiertes Todes-Timing ergibt.

    Ich bin selbst ein alter Sack. Man wird ängstlich, paranoid, stur, aggressiv ablehnend gegen alles. Wir wählen Querulanten und die machen uns alle zu Querulanten. Alte Leute müssen respektiert werden, sie haben oft viel mehr drauf als die Jüngeren, und auch Altenheime muss es geben. Doch wenn sie die Macht haben, die ganze Welt zum Altenheim umzubauen, wird es ein Sterbehospiz. Wir sollten alles Mögliche tun, außer zu herrschen, denn unsere Wege haben die Krisen herbeigeführt und wir können uns nur noch an die alten Wege klammern. Erfahrungsschatz ist ein Lego-Bausatz, kein Fertigrezept zum Nachkochen.

    Westliche Religionen wirken auf mich wie Ausschnitte der östlichen Religionen. Während der Osten viele Welten kennt mit je einem Gott drin, zoomt der Westen auf eine einzige. Und während der Osten gemerkt hat, dass die Welt in Zyklen verläuft, zoomt der Westen auf einen Ausschnitt eines Zyklus: Geburt, Tod, Wiedergeburt. Die Erlösung nach dem Tod ist keine, es geht einfach weiter. Der Himmel ist nur ein vorübergehendes Glück, der Rausch der Befreiung und des Neuanfangs. Zumindest, wenn man die Mythen mit der Wirklichkeit vergleicht, die sie symbolisieren. All die Abstraktionen, die religiöse Überhöhung, scheinen einfach vereinfachte, symbolische Abbilder der Realität im Gehirn zu sein, plus eine kräftige Droge, die einem das Gefühl gibt, etwas Großes, Wichtiges, Ehrfurchtgebietendes zu betrachten.

    Geschichte wiederholt sich, aber zu viel auf einmal. Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu versuchen und immer wieder ein anderes Ergebnis zu erwarten – aber auch, immer wieder das Gleiche zu versuchen, und immer wieder das gleiche Ergebnis zu erwarten. All die Zyklen sind Versuchsreihen, Experimente, wir wiederholen Bewahrtes, bessern nach, kombinieren die Vergangenheiten neu, versuchen, sie der gegenwärtigen Umwelt anzupassen. Normale Evolution, alle Information ist ein Gencode, der zu überleben versucht, nach darwinistischen Spielregeln.

    Messias ist ein Job, keine Person. Moses wurde Moses, weil er derjenige von Duzenden Möchtegern-Mosesen war, dem alle hinterher gedackelt sind. Jesus wurde Jesus, weil er derjenige von all den Fernsehpredigern war, die alle das Gleiche faselten, über den Fox News Paulus gestolpert ist. Heute sehen Sie lauter Zombie Kings aus dem Boden sprießen, von denen jeder einen erstklassigen Antichristen ergeben würde, und jeder wird wie ein Messias verehrt. Welcher Luzifer der nächste Gott wird, nachdem der alte abgenippelt ist, entscheidet die Casting-Show namens Apokalypse, durch freien Wettbewerb. Die Favoriten sind Trump, Putin, Xi, einem Orban oder Erdogan fehlen die Ressourcen, aus einem Söder lässt die Demokratie kaum den Teufel raus. Ich mag Demokratie, da halten sich die ganzen Irren gegenseitig in Schach und die Monster in ihnen können höchstens was im Schlaf murmeln. Falls ich einen echten Messias will, bastele ich eine Petri-Schale, eine sichere Umgebung, in der sich die Modelle gegenseitig hochzüchten können, ich gebe ihm ein Reagenzglas in die Hand, nicht die Nuklearheere von Gog und Magog.

    Geografie schreibt Geschichte und Geografie ist dazu verdammt, sich ewig zu wiederholen. Es gibt halt nur ein paar Ideen, die in Europa Sinn ergeben und Geografie macht Entwicklungen wahrscheinlicher. Europa ist eng und voller isolierter Petrischalen, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und in unterschiedliche Richtungen entwickeln können, wenn sie dann miteinander wetteifern, boostet der freie Markt die zivilisatorische Gesamtevolution des Kontinents. Der angrenzende Teil Asiens ist weit und voller Ressourcen und Menschen, er hat es nicht nötig, sich zu entwickeln, der Druck fehlt. Schnelle Entwicklung schafft Technologie und strebt nach Ressourcen, die Europa nicht hat, Asien hat Ressourcen, es braucht Technologien, um sich zu entwickeln, das zieht sie magisch an. Jeder Konflikt, der groß genug wird, aus dem Regionalen ins Kontinentale zu wachsen, wird zu einem Konflikt zwischen Europa und Asien. Aus Romulus und Remus wurden Rom und Konstantinopel, Christentum und Islam, Katholiken und Orthodoxe, Polen und Litauen, Hitler und Stalin, EU und Putin.

    Sibirien und Zentralasien sind eine riesige Eizelle, die von Kultur-Spermien umringt ist – um die Schöne zu erobern und zu befruchten, muss eine Technologie-Schwelle bezwungen werden, denn die unermesslichen Ressourcen, die es dort gibt, sind woanders leichter zu haben, also wendet sich die Menschheit zunächst dorthin. Erst Technologie macht die leere Mitte konkurrenzfähig, und wer diese Technologie hat, die Menschen, die Kraft, kann dort ein Imperium errichten, das alles drum herum überstrahlt. Schicksal, gemeißelt in Berge und Steppen, Jahrmillionen, bevor es Menschen gab. Und all die Völker und Kulturen wetteifern darum, es zu erfüllen, ohne viel davon zu merken.

    Natürlich kann Technologie auch zum Game Changer werden, der dazu führt, dass wir es nicht mehr nötig haben, es zu erfüllen. Schicksal boostet Wahrscheinlichkeiten, mehr nicht.

    Schicksal ist nur sehr allgemein vorgegeben, doch es reicht, um Wiederholungsmuster zu erzeugen. Kapitalismus ist keine Wirtschaft, sondern vergessene Wirtschaft: Die Technologie hat uns die Tore des Paradieses geöffnet, ein Bonus-Level geknackt, wodurch plötzlich Ressourcen nutzbar wurden, die bislang unerreichbar gewesen waren. Natürlich werden alle Paradiese von Höllen erhalten, wer keine Sklaven hatte, konnte nicht mithalten und wurde Sklave oder Dünger, doch das sind Details. Wo Milch und Honig fließen, brauchen Sie keinen Ackerbau, die erfolgreichste Wirtschaftsform ist Heuschrecke: Jeder frisst für sich alleine, alle fressen um die Wette, die Dicken fressen die Dünnen gleich mit. Irgendwann war das große Fressen vorbei, wir fingen an, es zu simulieren, mit Börsen, Papier, Pixeln, die SIMS-Wirtschaft verdrängte die materielle Wirtschaft.

    Der Geist verlässt den Körper und lässt einen hungrigen, verfaulenden Körper zurück. Wir sind hirnlose Arbeitszombies, die von Vampiren regiert werden, und weil sie uns das ganze Blut ausgenuckelt haben, schicken sie uns jetzt als hungrige Horden in den Krieg. Es steckt Logik in den Mythen, auch wenn sie nur Details zeigen. Es sind Formeln in Bilderschrift, ihre Symbole sind abstrakte Variablen. Doch welche Werte als Variablen eingefügt werden, um ein sinnvolles Ergebnis zu bekommen, ist von Fall zu Fall verschieden. 2+2=4, doch wenn da eine Katze eine Maus gefangen hat und zwei Mäusekumpels kommen, um sie zu retten, ist 2+2=1 nach Stückzahl, und nach Pfund lautet sie: 3lbs Katze + 1lbs Mäuse.

    Ich bin geistig inzwischen ins Jenseits verrutscht, träume vom Goldenen Zeitalter, wie die Christen vom Himmelreich auf Erden. Der Körper verrottet mit der Welt, in der er lebt und sieht zu, wie die Vernunft mit jeder neuen Stufe des Verfalls aggressivere, skrupellosere, verzweifeltere Lösungen vorgibt, die nicht verwirklicht werden, sodass wir die nächste Stufe des Verfalls erreichen und auch die Lösungen immer weiter in Richtung hirnloser Hunger und hirnlose Gewalt drängen. Putin ist ein Prophet, denn dank Gewissenlosigkeit ist er schon dort, wo wir alle hingehen, wir folgen einem wie ihm, weil er den Mut hat, in die Hölle voranzugehen. Der Zeitgeist ruft, die Führer folgen. Wir wählen sie, nicht sie uns. Die Zombie-Apokalypse ist in vollem Gang, die Horden brauchen nur Zeit, die Seele aus den Hirnen zu exorzieren. Vanille-Raubtierkapitalismus à la Tatcher gehört auf eine frühere Eskalationsstufe. Als die harte Währung noch mit Pfund- und Dollarzeichen gekennzeichnet wurde, nicht mit Z und Hakenkreuz. Timing ist alles in Comedy, und das macht die Truss zur Witzfigur.

  7. Ein lineares Zeitverständnis ist Kennzeichen Monotheistischer Religionen, wo es einen Anfang und ein Ende gibt, sich Ereignisse in der Regel jedoch nicht wiederholen.
    Hingegen war oder ist ein zyklisches Weltbild eher unter Naturreligionen verbreitet, wo man sich am immer wiederkehrenden Zyklus der Natur und ihrer Jahreszeiten orientiert. Eine Präfiguration oder Typologie kennt man aber auch noch aus frühchristlicher Zeit. Auf Wikipedia kann man dazu lesen: „Typologie (von altgriechisch τύπος týpos „Abbild, Vorbild“) – auch Präfiguration genannt– ist in der Auslegungstradition der Bibel die Inbezugsetzung einer Person oder eines Geschehens aus dem Alten Testament (selten auch aus der antiken Mythologie oder aus antiken Legenden), des Typos, mit einer Person oder einem Ereignis aus dem Neuen Testament, dem Antitypos. Es geht dabei in erster Linie um „Verheißung“ und „Erfüllung“: Das, was im Alten Testament angekündigt wird, vollendet sich im Neuen Testament.“

    Meinten demnach einige Politikertypen sie wären eine Art Inkarnation früherer Herrscher und müssten nur das Werk Ihrer Vorgänger vollenden bzw. übertreffen, wie das Liz Truss im Hinblick auf Margaret Thatcher glaubte, um erfolgreich zu sein? Das ist nicht nur vermessen, sondern in der Regel auch zum Scheitern verurteilt, weil erfolglose Nachahmer keinen Respekt genießen.

    • So ist es, @Mona.

      Schon Alexander der Große modellierte seine Taten nach dem Achill der Ilias; die Diadochen dann wiederum nach dem jung Gestorbenen.

      Ich denke, Blumenberg hat mit der politischen Präfiguration einen auch politikwissenschaftlich bedeutenden, mythologischen Zug entdeckt und beschrieben.

  8. Hohe sog. Staatsquoten sind problematisch, vergleiche :

    -> https://de.statista.com/statistik/daten/studie/161337/umfrage/staatsquote-gesamtausgaben-des-staates-in-relation-zum-bip/

    -> https://de.statista.com/statistik/daten/studie/158265/umfrage/staatsquote-in-grossbritannien/

    War es nicht der “Dicke”, der irgendwann mal gesagt hat, dass ab einer Staatsquote von 50 % der Sozialismus anfängt?

    Die nun gescheiterte ehemalige britische Premierministerin wollte wohl Steuern senken, um im Sinne von Reagan oder Thatcher die Wirtschaft anzukurbeln, um dann der zugenommenen Staatsverschuldung eine gewachsene Wirtschaftsmacht entgegenzusetzen, um sie so zu kompensieren.
    Frau Merkel hatte im Bundestagswahlkampf 2005 angeblich nichts anderes vor, Paul Kirchhoff und so, Steuererklärung auf Bierdeckeln und so, auch Friedrich Merz wünschte sich seinerzeit noch das so wörtlich Ende der Sozialdemokratisierung der Union.

    Nun geht es wohl nicht nur in der BRD, sondern auch im Vereinigten Königreich in die andere Richtung, es muss so nicht schön werden.
    Denn der Staat ist ein frickin schlechter Unternehmer, sofern dieser “Mythos” geht.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

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