Letzte Wege in die Freiheit – Sechs elsässische Pfadfinderinnen retteten Leben gegen den NS
Meinen Kindern – die allesamt bei christlich-evangelischen Royal Rangers-Pfadfindergruppen aktiv waren bzw. sind – versuchte ich immer wieder zu vermitteln: “Die größte Lüge unseres Lebens lautet: Du kannst ja doch nichts ändern! Die zweitgrößte Lüge lautet: Deine Mitwelt ist nur für Dich da.”
Hätte ich aber das bewegende Buch von Thomas Seiterich “Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus” gekannt, so wäre ich mit ihnen noch einmal nach Straßburg gereist! Denn dass sechs junge, christliche Pfadfinderinnen unglaubliche Mühen auf sich nahmen und ihr eigenes Leben und das ihrer Lieben riskierten, um über 500 christliche und jüdische Verfolgte über geheime Pfade in Sicherheit zu bringen, war mir völlig neu – obwohl ich auch mit jüdisch-amerikanischen Freund:innen bereits im Elsass direkt an Schauplätzen des Geschehens war!
Die Namen dieser französischen Pfadfinder-Heldinnen, die eigentlich jedes europäische Kind kennen sollte, sind Lucienne Welschinger (1911 – 2001), Emmy Weisheimer (1918 – 2005), Alice Daul (1916 – 2011), Marie-Louise Daul (1919 – 1970), Lucie Welker (1920 – 2008) und Marcelle Faber-Engelen (1923 – 2023).
Die beeindruckende Geschichte von sechs elsässischen Pfadfinderinnen-Resistantes beschreibt Thomas Seiterich in “Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“, Hirzel 2023. Foto: Michael Blume
Auch dass fünf der sechs Pfadfinderinnen schließlich verhaftet und vom NS-Scharfrichter Roland Freisler in einem öffentlichen Schauprozess im besetzten Strasbourg zu Lagerhaft und Tod verurteilt werden und nur auf Intervention des damaligen Papstes überlebten – hatte ich nirgendwo erfahren, obwohl doch Baden-Württemberg das direkte, deutsche Nachbarland zum Elsass ist! Ja, die Anführerin der Gruppe, Lucienne Welschinger, war – nachdem sie die Verantwortung für die Widerstandsgruppe und das Todesurteil alleine auf sich genommen hatte – sogar 262 Tage lang in Stuttgart inhaftiert gewesen; wovon ich leider noch nie gehört bzw. gelesen hatte! Gerade auch im Alter kehrten ihr die Alpträume an die Inhaftierung wenige Schritte von der Hinrichtungsstätte zurück. (S. 139 – 145)
Kaum im französischen und fast gar nicht im deutschen Gedächtnis ist die von Thomas Seiterich beschriebene Geschichte des Elsass und seiner Kirchen unter dem NS. Schon auf dem NS-Reichsparteitag von 1930 in Nürnberg hatte Hitler davon gesprochen, er wolle das Strasbourger Münster, die “Kathedrale des Elsass” als “Krone des deutschen Mittelalters” in das kommende Reich “zurückholen”. (S. 104)
Und gleich nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten wurde das Münster mit Hakenkreuzfahnen versehen, von Hitler triumphierend besucht, ein Gottesdienstverbot erlassen. Die jüdische Religionsgemeinschaft sowie die evangelischen und katholischen Kirchen, denen nach dem nur hier noch geltenden napoleonischen Konkordat staatliche Hilfen zustanden, wurden vom NS umgehend ausgeschaltet – jüdische Menschen deportiert und ermordet, christliche bedroht, in die NS-Organisationen und die Wehrmacht gepresst und bei Widerstand verfolgt. Hunderte oft geistliche Widerständige wurden vertrieben, in eigene NS-Lager wie Schirmeck deportiert und gefoltert oder wie der 25jährige Fluchthelfer Alphonse Adam (1918 – 1943) in Strasbourg exekutiert. Zu Recht erinnern wir in Deutschland der vom NS ermordeten Widerständler der “Weißen Rose” wie Hans und Sophie Scholl. Aber wer von uns Deutschen hat schon von den sechs am 15. Juli 1943 von den Nationalsozialisten ermordeten Studierenden und Pfadfindern der “Front de la Jeunesse d’Alsace” (JFA) um Adam und Pfarrer Leon Neppel gehört, die nachts gedruckte Flugblätter gegen die Zwangsrekrutierung junger Elsässer in die deutsche Wehrmacht verteilt hatten? (S. 100)
Die inhaftierten Pfadfinderinnen der die NS-Rassenlehre ironisierenden “Equipe Pur-Sang” / “Reinblut-Team” genannten Gruppe mussten als Fluchthelferinnen grüne Dreiecke tragen (S. 67). Vom NS als “Homosexuelle, Prostituierte, Zuhälter und Priester” Verfolgte hatten dagegen ein blaues Rechteck zu tragen, “einen Stoffstreifen vom Nacken bis zum Gesäß”. (S. 120) Zu den zahlreichen Toten gehörte auch der Priester und katholische Theologieprofessor Joseph Schmidlin (1876 – 1944), der über vier Tage hinweg in Schirmeck “zu Tode geprügelt” wurde. (S. 74 – 77)
Um die unfassbare Menge an Wissenswertem zu bündeln, greift Seiterich in seinem Buch auf zahlreiche Zeitsprünge, einige Fotografien und eine nützliche Zeittafel (S. 187 – 204) zurück. Wer sich auf “Letzte Wege in die Freiheit” einlässt, wird sich unwillkürlich fragen, warum es noch keinen Film über diese mutigen Jugendlichen und Frauen gibt; warum das Deutsch-Französische Jugendwerk und die europäischen Pfadfinder:innen hier noch keine gemeinsamen Wege (Pfade) der Erinnerung gefunden haben.
Meinen Kindern werde ich zu Ostern, Pessach und Ramadan – die sich in diesem Jahr alle am gleichen Wochenende in unserem Familien- und Freundeskreis begegnen – von den sechs Pfadfinderinnen erzählen, ihnen das Buch nahelegen. Damit sie auch durch das Vorbild tapferer Frauen gegen die beiden größten Lügen unserer Leben geschützt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und allen, die sie begehen, von Herzen gesegnete Feiertage!
Schönen Dank für diesen völlig überraschenden Lese-Tipp!
Vielen Dank für das Interesse, @rolak!
Gesegnete Feiertage! 🖖🌈
Immer wieder überraschend – da dachte man als Interessierter schon viel gelesen zu haben – Pustekuchen!
Toller Bericht!
Mehr davon !
Danke, @Dietrich Willemsen – und, ja, so ging es mir auch! Habe mich gefragt, warum wir selbst von unserem direkten Nachbarland und echten Heldinnen darin so wenig wissen. Hoffe, dass sich das zukünftig ändern lässt.
Im Bereich der Wissenschafts- und Demokratiegeschichte kämpfe ich ja seit Jahren für eine Wahrnehmung der beeindruckenden Zeitgenossin und Kollegin von Charles Darwin, Antoinette Brown Blackwell:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/antoinette-brown-blackwell-als-starke-frau-entdeckt/
Danke für Ihr Interesse und gute Feiertage!
Man lernt halt nie aus. Ich frage mich, ob diese Frauen in Frankreich bekannter sind als bei uns?
Ja, @Matthias – laut Buch erhielten diejenigen, die in deutscher Haft waren, später auch französische Auszeichnungen. Allerdings wird auch deutlich, dass sich der französische Zentralismus & Laizismus und der elsässisch-kirchliche Hintergrund der Pfadfinderinnen durchaus aneinander rieben. Auch wurde und wird der Anteil von Frauen an den Widerstandsbewegungen offensichtlich in ganz Europa noch immer unterschätzt.