Labour-Triumph, aber kein Erdrutschsieg. Ein genauerer Blick auf die Wahlen im Vereinigten Königreich

Viele Leserinnen und Leser von Natur des Glaubens werden eine meiner zentralen Thesen schon kennen oder gar mitdiskutiert haben: Konservative scheitern am häufigsten an Reaktanz, Liberale am häufigsten an Gier, Progressive am häufigsten an Arroganz.

Die Parlamentswahlen zum “House of Commons” (Unterhaus) im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland am gestrigen 4. Juli 2024 unterstreichen diesen Punkt: Die einstmals seriös-konservativen Tories fuhren nach 14 Jahren zunehmend rechtspopulistischer Regierung eine historische Niederlage ein und verloren rund zwei Drittel ihrer Mandate auf jetzt noch 131 Sitze. Die sozialdemokratische Labour errang eine massive Mehrheit von 412 der 648 Sitze (zwei werden gerade noch ausgezählt). Verständlich also, dass auch mir auf Mastodon zum Tässle Kaffee das Ergebnis als “Erdrutschsieg” ausgespielt wurde und die Frage nach einem Linksruck nach dem Rechtsruck aufkam.

Doch so einfach ist es leider nicht: Die enorme Verschiebung der Sitzverteilung ergibt sich durch das britische “First-Past-the-Post” genannte Mehrheitswahlrecht, nach dem gewählt ist, wer im ersten und einzigen Wahlgang die höchste Stimmenzahl im Wahlkreis, die sogenannte relative Mehrheit, hat. Während etwa im französischen Mehrheitswahlrecht in einem zweiten Wahlgang die Bestplatzierten noch einmal gegeneinander antreten, können so im UK-Wahlrecht Wahlkreise auch etwa mit 26% der Stimmen gewonnen werden, wenn die anderen Kandidaten noch schlechter abschnitten (23%, 15%, 14% usw.).

Und genau das ist auch passiert: Schauen wir uns die Veränderungen der Stimmenverteilung an, dann sehen wir, dass Labour kaum zwei Prozent der Stimmen hinzugewonnen hat. Selbst die in UK kleinen Greens gewannen deutlich mehr hinzu. Der massive 20 Prozent-Verlust der mit dem Brexit verbundenen Tories geht wesentlich auf die Zerspaltung der Rechten zurück, wo die fossile Anti-EU-Partei “Reform UK” um dem Putin-und-Trump-verbündeten Rechtsdualisten Nigel Farage von 2 auf 14 Prozent massiv zulegte. Auch er selbst zog so erstmals ins Unterhaus ein.

Zwischenergebnis der Stimmenverteilung bei der UK-Unterhauswahl 2024

Betrachten wir nicht die Sitze, sondern die Stimmenanteile, so wird deutlich, dass die stärksten Wählerwanderungen von den rechten Tories zur noch rechteren Reform UK erfolgten. Screenshot von BBC aus dem n-tv-Wahlticker, Michael Blume

Statt von einem Labour-“Erdrutschsieg” – der sich nur aus dem Wahlrecht ergab – oder gar von einem “Linksruck” – den es kaum gab – zu sprechen, wäre es also präziser, zu sagen, dass sich die Rechte zerspalten hat. Dagegen ist es etwa Giorgia Meloni in Italien und Marine Le Pen in Frankreich bei der Europawahl 2024 gelungen, ihre noch rechteren Konkurrenten Matteo Salvini (Italien) und Eric Zemmour (Frankreich) zu schwächen. Und: Auch in Indien, immerhin die zahlenmäßig größte Demokratie der Erde, ging die Wahlniederlage des Hindunationalisten Narendra Modi (BJP) weniger auf einen absoluten Stimmenverlust als vielmehr auf das Wahlrecht zurück.

Was also lässt sich aus der UK-Parlamentswahl 2024 lernen? Ich schlage folgende drei Punkte vor:

Ein Mädchen im UK-Shirt zwischen einer fossil brennenden und umkämpften Mitwelt links und einer halb-fantastischen Solarpunk-Welt rechts.

“Auch das Vereinigte Königreich steht zwischen fossilem Niedergang und Solarpunk”, Michael Blume mit Leonardo.AI, Juli 2024

  1. Konservative Reaktanz führt zur Zerspaltung: Wo immer sich konservative Parteien zu weit nach rechts bewegen, verlieren sie schließlich Wählerinnen und Wähler an die rechtsdualistischen Originale. Wer die demokratischen Brandmauern einreißt, wird von der digitalen Befeuerung des feindseligen Dualismus verzehrt.
  2. Kein Grund für progressive Arroganz: Der Wahlerfolg von Labour ging mit einem entschiedenen Mitte-Kurs von Keir Starmer sowie einer entschiedenen Absage an den linken Antisemitismus um den Vorgänger Jeremy Corbyn einher. Wer glaubt, die politische Antwort auf rechten Dualismus liege im linken Dualismus, stellt sich auch hier gegen jede Empirie. Polarisierung besiegt mensch nicht mit Polarisierung, sondern durch Anstand und Mitte.
  3. Menschen wählen nicht wirtschaftliche Fakten, sondern Status: Unter Ökonominnen und Ökonomen ist völlig klar, dass der Brexit der britischen Wirtschaft schwer geschadet hat, dass die Privatisierung der Wasserversorgung sich als Desaster erweist und das UK-Gesundheitssystem zusammenbricht. Auch all das führte aber nicht zu einer “Sehnsucht nach Sozialismus”, sondern zu weiteren Statuskämpfen zwischen den Sprachwelten von Solarpunk-Archen und fossilen Superyachten. Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts geht nicht mehr mit Marx, sondern mit Denkerinnen wie Elinor Ostrom.

Der Erfolg von Labour im Vereinigten Königreich ist also ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung parlamentarischer Demokratien gegen die vierte Medienrevolution der Digitalisierung. Er ist aber leider noch kein Grund zur Entwarnung – oder gar zu falscher Selbstsicherheit. Vielmehr stellt sich – auch etwa im Hinblick auf die anstehenden US-Präsidentschaftswahlen – die Frage immer dringlicher, ob Mehrheitswahlrecht-Systeme der digitalen Polarisierung gewachsen sind.

 

 

Avatar-Foto

Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Lehrbeauftragter am KIT Karlsruhe, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus und für jüdisches Leben. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren für das Fediversum, Wissenschaft und Demokratie, gegen antisoziale Medien, Verschwörungsmythen und den Niedergang Europas.

38 Kommentare

  1. Gute Analyse. Überrascht bin ich über die englischen Grünen und ihr Ergebnis. Hätte ich so nicht erwartet.

    In Italien regiert eine Koalition aus rechten Parteien. Meloni mag ihre rechte Konkurrenz geschwächt haben, benötigt sie aber zum Regieren.

    In den Niederlanden bildet sich derzeit eine Regierung aus Konservativen und Rechten. Auch wenn Wilders angeblich nicht an der Spitze der Regierung stehen wird.

    Letztlich geht es bei allen Parteien darum, wer die Macht in Händen hält. Selbst wenn konservative Parteien aus den von Ihnen genannten Gründen Wählerstimmen verlieren, bedeutet dies nicht, dass sie nicht regieren.

    Ein wacher Blick in die Niederlande, wenn die Regierung dann im Amt ist, könnte auch für die deutsche Innenpolitik interessant sein.

    2025 sind Wahlen zum Deutschen Bundestag. Innenpolitisch wird sich vermutlich nicht mehr viel bewegen.

    Nachdem es jetzt einen “Untersuchungsausschuss Habeck” geben wird, warte ich, dem Prinzip des feindseligen Dualismus folgend, auf zB einen “Untersuchungsausschuss Spahn”. Die “Journalisten” des Axel-Springer-Verlags würden sich aus unterschiedlichen Gründen über beide freuen. Polarisierung!

    Darüberhinaus befasst sich das BVerfG mit der Reform des Wahlrechts der Ampel. Im Bundestag und in jedweden Medien wurde erbittert darüber gestritten.

    Ich könnte mir vorstellen, dass es auch bei uns nach der nächsten Wahl eine noch instabilere Koalition geben könnte. Zu den im Bundestag vertretenen Parteien könnten dann CDU, CSU?, SPD, Grüne, FDP, Linke, BSW und AfD gehören. Rien ne va plus?

    “Die Menschen wählen…Status”. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten haben viele Menschen Angst vor dem Abstieg. Ich meine nicht die Menschen, die Statussymbole wie teure Autos, ein Chalet in der Schweiz oder eine Jacht in Monaco haben. Sondern Menschen, die als Arbeiter oder Angestellte tätig sind. Denen im TV erzählt wird, dass Arbeitslose nicht arbeiten wollen. Mit etwas Pech ist man plötzlich arbeitslos… Sorgen und Angst sind Gründe, warum das Kreuzchen bei Parteien gemacht wird, die erzählen, es müsse und werde sich nichts ändern.

    Was die USA betrifft, so besteht die Gefahr, dass bei einer Niederlage Trumps ihm der Supreme Court zum Wahlsieg verhelfen würde. Da scheint mir das Wahlsystem mittlerweile irrelevant zu sein.

    • Vielen Dank & viel Zustimmung, liebe @Marie H.!

      Selbstverständlich ist die menschliche Psychologie nicht auf Geld hin evolviert, sondern auf den sozialen Status und damit verbesserte Kooperations- und auch Reproduktionschancen. Deswegen entscheiden sich Menschen in Befragungen immer wieder für weniger Geld, aber mehr als der Durchschnitt als für mehr Geld, aber weniger als der Durchschnitt. Im deutschen Begriff Wohlstand ist das ja auch festgehalten: Es geht vor allem um den Stand im Verhältnis zu anderen. Deswegen hat das Wachstum auf Grundlage fossiler Gewaltenergien auch keine allgemeine Zufriedenheit geschaffen, sondern immer mehr Gier. Rechtslibertäre wurden durch fossil befeuerte Gier zu gegenüber Sozialstaat und Mitweltschutz feindseligen Dualisten.

      Die digitale, vierte Medienrevolution ist noch nicht vorbei und sie könnte noch weitere Demokratien insbesondere mit Mehrheitswahlrecht zu Fall bringen, beispielsweise die USA. Ich hoffe aber noch, dass der geschätzte Joe Biden für jüngere Kandidierende Platz macht.

      Und gleichzeitig schreitet gegen alle fossilen und reaktanten Widerstände die Transformation zu erneuerbaren Friedensenergien, zu weniger Fleischverzehr, zu mehr demokratischem und dialogischem Engagement immer weiter fort. Oft sind es gerade die Begegnungen, Diskussionen und Gespräche mit jungen Menschen, die mir Mut geben, dass wir parallel zur fünften KI-Medienrevolution auch demokratisch aufblühende Solarpunk-Arche-Regionen erleben werden. Denn auch das ergibt sich ja aus der menschlichen Evolutionspsychologie: Menschen vermögen zu erkennen, dass ihnen eine Sinnerhöhung viel mehr bringt als nur eine materielle Gehaltserhöhung. Und junge Menschen werden knapp und sich ihrer Verhandlungsmacht auch zunehmend bewusster.

      • Darf ich fragen, warum Sie Bidens Rückzug wollen? Ich verfolge die Vorgänge drüben auch. Jetzt die Pferde zu wechseln, scheint mir äußerst riskant zu sein. Seine VP ist unbeliebt, wäre aber die am nächsten liegende Person. Dann bleiben noch Gouverneure wie Gretchen Whitmer oder Gavin Newsom. Den durchgeplanten, auf Biden zugeschnittenen Wahlkampf komplett umzustellen, scheint mir fast nicht möglich zu sein. Mit welcher Botschaft sollte ein anderer Kandidat oder eine andere Kandidatin antreten?

        • @Marie H.

          Selbstverständlich dürfen Sie fragen, gerne doch!

          Meine Kinder haben mir sehr deutlich und mehrfach erläutert, dass sie schon angesichts des scharfen Bevölkerungsrückgangs die liberalen Demokratien als überaltert empfinden. Junge Menschen geraten überall in Minderheitensituationen, auch etwa die Jugendorganisationen in den demokratischen Parteien. Eine Präsidentschaftswahl, in der nur noch die Wahl zwischen einem 78jährigen Donald Trump (Republikaner) und einem 81jährigen Joe Biden (Demokrat) bleibe, werde nicht mehr als demokratische Wahl erfahren. Ich kann das sehr gut nachvollziehen und fürchte eine Demobilisierung des US-demokratischen Milieus, wenn (der von mir für sein Lebenswerk sehr geschätzte!) POTUS Joe Biden nicht doch noch den Mut zu einem Rückzug zugunsten jüngerer Kandidierender findet.

          Übrigens sehe ich auch hierbei negative Auswirkungen des Mehrheitswahlrechts, da es das Kandidierendenfeld auf meist nur zwei Personen einschränkt und es in digitalen Zeiten für Jüngere noch sehr viel schwerer wird, national bekannt zu werden. Für Parteien wird es damit immer “riskanter”, sich zu verjüngen – bis es dann schließlich zu spät ist.

          • Herzlichen Dank an Sie und Ihre Kinder. Die Begründung ist einleuchtend.
            Glücklicherweise gibt es in allen Parteien Gemeinde- und Stadtverbände, die bei den Kommunalwahlen junge Leute für eine Kandidatur gewinnen wollen und können. Aber es sind bei weitem nicht genug, zumindest was die Listen in meinem Wohnort betraf.
            Mein K1 hat den Weg in die Politik eingeschlagen. Sehr zeitintensiv. Politik ist Berufung.

          • Oh ja, @Marie H., genau so sehe ich es auch: “Politik ist Berufung.”

            Aus meiner Sicht ist demokratische Politik geradezu ein Paradebeispiel für die Produktion von öffentlichen Gütern und von Gemeingütern nach Elinor Ostrom. Parteimitglieder demokratischer Parteien “zahlen” ja sogar Mitgliedsbeiträge, investieren Zeit und Aktivitäten, um für sich und andere Sinn und Gerechtigkeit zu stiften. Und gerade auch in der Kommunalpolitik geht es zwar auch schon um Statuswettbewerbe, aber nur selten um fossile Gier und Lobbyismus. Schon deswegen ist für mich die Bewältigung der Klima- als Wasserkrise und die Entwicklung von Solarpunk und Arche-Regionen auf Engste mit demokratischer Kommunalpolitik verbunden, vgl.

            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/hoffnung-in-kaisersbach-was-wir-alle-gegen-die-wasserkrise-tun-koennen/

            Danke für die immer wieder so starken Kommentare von Ihnen!

  2. Grundsätzlich passt die Analyse. Großbritannien hat jetzt also auch eine Partei am rechten Rand.

    Einen echten Politikwechsel wird es wohl nicht geben. Labour hat ja insbesondere vor, weiter den gleichen harten Kurs gegen Geflüchtete zu fahren und auch, die Sparpolitik der Konservativen fortzuführen.

    Du schreibst “Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts geht nicht mehr mit Marx”. Stimmt schon, denn Marx hat tatsächlich keine Antworten auf die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit und seine Theorien beruhen ja wie die des Kapitalismus im Grunde auf einer Philosophie des steten Wachstums.

    Die soziale Frage stellt sich allerdings in diesem Jahrhundert genauso wie früher. Wir erleben zur Zeit eine ungeheure Konzentration von Kapital und Macht in den Händen weniger. Der Abwehrkampf der werktätigen Bevölkerung richtet sich jedoch heute nicht mehr gegen die herrschende Klasse, sondern zuvorderst gegen diejenigen, die noch weniger haben. Im gesellschaftlichen Verteilungskampf ist stets der Schwächere der Gegner.

    In meinen Augen ist es bedauerlich und gefährlich, dass die Gerechtigkeitsfrage weder auf nationaler, noch auf globaler Ebene keine Rolle spielt.

    Auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen, auf die alle Menschen natürlich das gleiche Anrecht haben, wäre unser verschwenderischer Lebenstil und erst Recht der, den die globalen Eliten pflegen, duurch nichts mehr zu rechtfertigen.

    • Vielen Dank für den engagierten und starken Druko, liebe @Mina!

      Folgenden Satz von Dir halte ich für einen Schlüsselsatz. Du kommentiertest:

      “Die soziale Frage stellt sich allerdings in diesem Jahrhundert genauso wie früher.”

      Da würde ich Dir sogar Recht geben – aber eben nicht aus einer marxistischen, sondern aus einer evolutionspsychologischen Perspektive. Denn ich halte schon die Annahme für falsch, dass Menschen – und insbesondere Männer – in einer möglichst egalitären Gesellschaft leben wollen. Sowohl die evolutionäre Logik wie auch die Ergebnisse von Befragungen belegen wieder und wieder: Menschen wollen sich voneinander unterscheiden, ihren Ruf für bessere Kooperations- und mittelbar auch Reproduktionsgewinne steigern. Eifersucht und Neid sind tief in unserer Psychologie verankert, die Sucht nach mehr Geld dient vor allem der Erhöhung des Status. Eine sozial und ökologisch verträgliche Arche-Gesellschaft muss daher auch den Disktinktionsbedürfnissen der Menschen entsprechen, ansonsten gewinnen immer wieder die vermeintlich heroischen Superyacht-Gesellschaftsentwürfe.

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/dualistische-superyacht-vs-monistische-arche-wie-ueberleben-menschen-die-mitweltkrise/

      Falls das zu futuristisch klingt, habe ich hier einmal von Perplexity.ai die Konsumerismus-Theorien des frühen US-Soziologen Thorstein Veblen (1857 – 1929).

      Thorstein Veblen entwickelte in seinem Werk “The Theory of the Leisure Class” (1899) eine differenzierte Sicht auf menschliche Gier und Konsum. Seine Hauptthesen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

      1. **Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Gier**:
      Veblen unterschied zwischen einer “guten” und einer “schlechten” Form der Gier[1]. Die produktive Gier, die er mit dem “Instinkt der Arbeitsamkeit” verband, sah er als treibende Kraft für Fortschritt und Produktion. Im Gegensatz dazu kritisierte er die unproduktive, “räuberische” Gier, die auf Ausbeutung und Statusgewinn abzielt.

      2. **Demonstrativer Konsum und Müßiggang**:
      Veblen prägte die Begriffe des “demonstrativen Konsums” und “demonstrativen Müßiggangs”[2][3]. Er argumentierte, dass die Oberschicht ihren Reichtum und Status durch verschwenderischen, auffälligen Konsum und ostentative Freizeit zur Schau stellt. Dies dient nicht der Befriedigung echter Bedürfnisse, sondern dem Prestigegewinn.

      3. **Kritik am unproduktiven Kapitalismus**:
      Veblen kritisierte scharf die “Geschäftsleute”, deren Gewinne aus räuberischen, unproduktiven Aktivitäten stammten[1]. Er sah einen Konflikt zwischen den produktiven “Ingenieuren” und den ausbeuterischen Geschäftsleuten im kapitalistischen System.

      4. **Evolutionäre Perspektive**:
      Veblen betrachtete die Gesellschaft in ihrer evolutionären Entwicklung[1]. Er sah menschliche Instinkte und Neigungen als treibende Kräfte dieser Entwicklung, darunter sowohl produktive Instinkte (Arbeitsamkeit, elterliche Fürsorge, Neugier) als auch räuberische Instinkte.

      5. **Institutionelle Analyse**:
      Veblen untersuchte, wie Institutionen wie Privateigentum zur Entstehung von Besitz, Macht und Prestige führen[2]. Er argumentierte, dass diese Institutionen die Grundlage für demonstrativen Konsum und soziale Differenzierung bilden.

      6. **Kritik an der neoklassischen Ökonomie**:
      Im Gegensatz zur passiven Vorstellung des *homo economicus* in der neoklassischen Theorie betonte Veblen die aktive, initiative Natur des Menschen in der Wirtschaft[1]. Er kritisierte die statische Sichtweise der Mainstream-Ökonomie und plädierte für eine dynamische, evolutionäre Perspektive.

      7. **Soziale Funktion des Konsums**:
      Veblen argumentierte, dass Konsum nicht nur der Bedürfnisbefriedigung dient, sondern auch eine wichtige soziale Funktion erfüllt[3][8]. Er sah den Konsum als Mittel zur sozialen Differenzierung und Statusdemonstration.

      Veblen’s Analyse bietet eine kritische Perspektive auf die Konsumgesellschaft und die Motivationen hinter menschlichem Wirtschaftsverhalten. Seine Ideen haben die Soziologie und Ökonomie nachhaltig beeinflusst und sind auch heute noch relevant für das Verständnis von Konsumverhalten und sozialer Stratifikation.

      Citations:
      [1] https://mpra.ub.uni-muenchen.de/47931/1/MPRA_paper_47931.pdf
      [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Theorie_der_feinen_Leute
      [3] https://brocku.ca/MeadProject/Veblen/Veblen_1899/Veblen_1899_04.html
      [4] https://www.amazon.de/Theory-Leisure-Oxford-Worlds-Classics/dp/019280684X
      [5] https://www.amazon.de/Theory-Leisure-Class-Thrift-Editions/dp/0486280624
      [6] https://www.jstor.org/stable/2118201
      [7] https://www.hodgesfiggis.ie/book/the-theory-of-the-leisure-class/thorstein-veblen/9780199552580
      [8] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Theory_of_the_Leisure_Class
      [9] https://www.amazon.de/-/en/Thorstein-Veblen/dp/0141023988
      [10] https://books.google.de/books/about/The_Theory_of_the_Leisure_Class.html?id=HWVxrmsUvfIC&redir_esc=y
      [11] https://moglen.law.columbia.edu/LCS/theoryleisureclass.pdf
      [12] https://www.britannica.com/money/conspicuous-consumption
      [13] https://www.researchgate.net/publication/304603738_What_Drives_Man_Toward_Greed
      [14] https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-08184-3_4
      [15] https://de.wikipedia.org/wiki/Geltungskonsum

      In seiner negativen Einstellung zum Monotheismus, konkret zum Christen- und besonders Judentum, verstand dabei auch Veblen die produktive Rolle der Religionen nicht:

      https://jcpa.org/article/egalitarianism-and-bias-veblen-and-the-jewish-question/

      Kurz gesagt: Es mag immer wieder wahrhaft Egalitäre in den marxistischen Bewegungen gegeben haben – Marx selbst gehörte nicht dazu, sondern versuchte eine “standesgemäße” Ehe zu pflegen, schwängerte eine Dienstmagd und ließ das Kind vom Unternehmerfreund Engels wegbezahlen. Die “soziale Frage” war schon im späten 19. Jahrhundert vor allem ein Wettlauf zum fossilen Wohlstand. Viele deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter ließen sich dann auch deswegen leicht der NSDAP als angeblicher “Arbeiterpartei” verführen, weil sie mehr Wohlstand auf Kosten von Juden, Sinti und Roma und anderen marginalisierten Gruppen verhieß. Echte Egalität war stets nur das Anliegen von Minderheiten.

      Deswegen empfehle ich die Entwicklung einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft nach Elinor Ostrom et al., um ein höheres Maß an Mitmenschen- und Mitweltschutz mit der Möglichkeit von konstruktivem Wettbewerb zusammen zu bringen. Balkon-Solarkraftwerke boomen auch in Deutschland zu Recht, weil sie erneuerbare Friedensenergien mit wirtschaftlichen Vorteilen und Distinktionsgewinnen zusammenbringen. Das Richtige zu tun, darf erfolgreich sein!

      Wenn wir dagegen die empirische und damit evolutionspsychologische Realität der Menschheit zugunsten politischer Wünsche verdrängen würden, dann würden wir über progressive Arroganz stolpern. Wie es Linke so oft taten und tun. Meine ich.

  3. Naja, Wirtschaftsdaten haben schon lange nichts mehr mit täglich erlebter, real gelebter Wirtschaft zu tun, ich weiß selbst nicht, wie viele der offiziellen Daten Propaganda und Schönfärberei sind, und wie viel davon kommt, dass wir einfach keine Buchhaltung können. Die Kirche des Kapitalismus von Gottes Gnaden predigt erfüllte Fünfjahrespläne und den Sieg des Proletariats dank der Partei, des Adels und des Klerus, während die Bauern die Bastille stürmen und nach einer Berliner Mauer Ausschau halten, über die sie türmen könnten. Worüber sollen wir streiten, wenn keiner Ahnung hat und Wirtschaft selbst für Wirtschaftsexperten bloß Schwarze Magie ist? Welche Glückssocken wir anziehen sollen, wenn wir Jungfrauen in den Vulkan schmeißen, damit der Große Moneytu uns von den logischen Konsequenzen des Dogmas erlöst, dass erfolgreiches Wirtschaften heißt, gedankenlos doch eifrig den Kühlschrank leer zu fressen und dort zu scheißen, wo wir stehen? Wir sind durch diese Wirtschaft groß und fett geworden, hätten die Macht, ihn wieder zu füllen und die Scheiße wegzuräumen, in der wir ertrinken. Doch wir sind immer noch wir.

    Status ist auch Wirtschaft – Sie müssen satt sein, um sich zu prügeln. Die Politik läuft mit Brötchen, und zu viele und zu wenige Brötchen haben sehr ähnliche Wirkung. Wenn der Bauch gefüllt ist, werden halt Ego-Brötchen gebacken. Und wenn ich nicht weiß, wie die Wasserversorgung in Großbritannien zu regeln ist, kloppe ich mich um egal was, denn wenn ich den Gegner vernichte oder unterbuttere, bin ich hinterher derjenige, der sich vor ihm satt trinken darf – Macht holt sich Dinge. Sie wird zur Panazee, wenn es an allen Dingen fehlt. Status ist Macht, und damit Kapital.

    Israel, Gender, Cannabis, Abtreibung – all diese Dinge haben gemein, dass die wenigsten Menschen davon betroffen sind, und es hat auch kaum Einfluss auf den Staat, welche Seite auch immer gewinnt. Es sind Siegerpokale, Fußbälle, die zufällig da sind, wenn uns nach Treten ist, Knochen, um die sich Hunde streiten.

    Es war oft so unter kroßkotzigen Feudalherren – bringst du meinen Sklaven um, bringe ich deinen um. Ein Teil der Menschheit ist so reich und mächtig geworden, dass man keine andere Motivation braucht oder haben darf, als dass man ein Arschloch ist. Eine andere Motivation hat keinen Sinn, da man gegen die Macht und Übermacht der Arschlöcher eh nicht ankommt, da versteckt man sich lieber zuhause und schmollt.

    Das zwingt natürlich auch die Armen und Schwachen, erst mal nur Arschlöcher zu sein, die alles zerstören, was ihnen im Wege steht, ohne Sinn und Verstand – was man will, spielt keine Rolle, wenn man erst mal das Hindernis wegräumen muss, das verhindert, dass man es bekommt.

    Ob Israel oder Ukraine, Sie sehen das gleiche Schema: Ein Arschloch lädt alle anderen zu einem Wettbewerb in Arschlöchigkeit ein, die können der Versuchung nicht widerstehen, dann, indem man versucht, einander zu überbieten, eskaliert das Ganze bis zur Champion’s League. Niemand gibt sich mehr große Mühe, wenn er sich billige Ausreden für sein Arschlochsein aus den Fingern saugt – wir sind’s einfach, wir tun, was Arschlöcher so tun, wir bekommen umso mehr Applaus, je weniger Sinn es macht, denn Chuzpe hinter Rationalisierung wirkt schwach und feige, und im Endspiel dürften die überzüchteten Turbo-Elite-Super-Arschlöcher nicht zögern, die Gegend mit Pilzwölkchen zu bepflanzen.

    Ideologien sind meist bloß Uniformen im Kriege. So schlau oder dumm sie in der Theorie auch sein mögen, in der Praxis werden sie schnell auf ein paar Slogans und Symbole reduziert. Olympische Spiele, Fußball-EM, all das ist dazu da, Kriege und Konflikte zu verhindern, indem man sie spielerisch austrägt. Vielleicht hätten die Briten und Franzosen mit den Wahlen bis nach der Katharsis warten sollen. Ist schwer, mitten im Orgasmus nicht auf Sex geil zu sein, und Ähnliches gilt auch für Kampf.

    In Diktaturen sind Revoluzzer Demokraten, in Demokratien Faschisten, wo die Mächtigen Kätzchen verteufeln, miauen sie. Dieses einfache Kraft-Gegenkraft-Bizarro-World-Schema, bei dem der König die Uniform seines Henkers diktiert, gerät durcheinander, wenn sich das Karussell durch Wahlen dreht, die Revolution immer wieder gewinnt, sich dann als genauso unfähig erweist wie das Ancien Régime, und man so von Pontius Skylla Regen zu Pilatus Charybdis Traufe und zurück springt, wie der Irre in der Gummizelle, der mal von der einen Wand abprallt, mal von der anderen.

    Was Sie in vielen Ländern sehen ist ein mächtiger Möchtegern-Diktator mit einer faschistoiden Großpartei, dem eine demokratische Opposition gegenüber steht, die zu zerstritten ist, um ernsthaft eine Gefahr darzustellen. In Brüssel sehen Sie schon, dass sich das Schema umkehrt – während die eher demokratisch orientierten Kräfte kooperieren lernen, um die Rechten aufzuhalten, laufen bei den Rechten die Egos Amok und spalten sie. Wer am wenigsten denkt, hat es am Einfachsten, seine Anhänger zusammenzuhalten, denn die hirnlosen Triebe sind bei allen Menschen gleich – einerseits. Andererseits ist’s halt so, wer nach Beute strebt oder sie verteidigt, steht geeint, wer glaubt, gewonnen zu haben, zerstreitet sich, denn bei der Verteilung steht jeder für sich alleine.

    Entweder die Amok-Revoluzzer schaffen es, die Koma-Demokratie aufzuwecken, damit sie Lösungen für ihre Probleme findet, oder wir werden alle immer mehr zu Populisten, Faschisten, Aggro-Amokläufern, und Konservative, Liberale, Progressive werden einander immer ähnlicher, sodass sie nur noch an Uniformen und Symbolen erkennen, wer ihnen hilft wen umzubringen. Die Zombie-Apokalypse läuft, aber sie kann sublimiert werden – die Wut ist stets der Anfang. Wenn sie nicht in sinnvolle Handlungen kanalisiert wird, entlädt sie sich in Hass und Gewalt. Wenn sie in sinnvolle Handlungen kanalisiert wird, entlädt sie sich in sinnvollen Handlungen und löst die Probleme, die sie verursacht haben.

    • @Paul S.

      Ich möchte Sie bei allem Respekt bitten, mehr auf eine angemessene und dialogische Sprache zu achten und Schimpfwörter zu vermeiden. Mit Kraftausdrücken überrumpeln wir unser eigenes Denken. Überlassen Sie das Trollen bitte den Trollen, sonst bekommen auch Sie von mir eine freundliche Ansage.

      Angesichts Ihrer langen Textfluten habe ich Perplexity.ai um die Formulierung kurzer Hinweise zu den Umgangsformen in den drei kognitiven Grund-Weltanschauungen gebeten:

      Dr. Michael Blume sieht einen Zusammenhang zwischen schlechten Umgangsformen und problematischen Weltanschauungen wie egozentrischem Relativismus oder feindseligem Dualismus. Dies lässt sich folgendermaßen erklären:

      Egozentrischer Relativismus ist eine Weltanschauung, bei der die eigene Perspektive im Mittelpunkt steht und absolute Wahrheiten verneint werden[3]. Menschen mit dieser Haltung neigen dazu, ihre eigenen Ansichten und Bedürfnisse über die anderer zu stellen, was zu rücksichtslosem Verhalten und mangelndem Respekt gegenüber anderen führen kann.

      Der feindselige Dualismus hingegen teilt die Welt in absolute Gegensätze wie Gut und Böse ein[3]. Diese Denkweise fördert Intoleranz und kann zu Dehumanisierung und Dämonisierung anderer führen[3]. Menschen, die dieser Weltanschauung anhängen, zeigen oft aggressives oder feindseliges Verhalten gegenüber jenen, die sie als “anders” oder “feindlich” wahrnehmen.

      Beide Weltanschauungen können sich in schlechten Umgangsformen manifestieren:

      1. Mangel an Empathie: Sowohl egozentrischer Relativismus als auch feindseliger Dualismus können die Fähigkeit zur Empathie einschränken, was zu rücksichtslosem Verhalten führt.

      2. Respektlosigkeit: Die Überbetonung der eigenen Perspektive oder die Abwertung anderer kann sich in respektlosem Umgang äußern.

      3. Aggressive Kommunikation: Insbesondere beim feindseligen Dualismus kann die Wahrnehmung von “Feinden” zu aggressiver oder feindseliger Kommunikation führen.

      4. Intoleranz: Beide Weltanschauungen können Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen oder Lebensweisen fördern.

      5. Mangelnde Kompromissbereitschaft: Die Absolutheit dieser Denkweisen kann die Fähigkeit zum Kompromiss und zur konstruktiven Konfliktlösung beeinträchtigen.

      Dr. Blume betont, dass im Gegensatz dazu der dialogische Monismus eine reifere Weltanschauung darstellt, die auf respektvollen Austausch und Verständigung setzt[3]. Diese Haltung fördert gute Umgangsformen und eine konstruktive Interaktion mit anderen.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass schlechte Umgangsformen oft Ausdruck einer unreifen oder problematischen Weltanschauung sind. Sie können auf ein egozentrisches Weltbild oder eine feindselige, dualistische Denkweise hindeuten, die den respektvollen Umgang mit anderen erschweren.

      Citations:
      [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Blume
      [2] https://www.demokratie-bw.de/antisemitismus
      [3] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-hand-des-feindseligen-dualismus-was-antisemitismus-rassismus-und-sexismus-verbindet/
      [4] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/warum-dualistisch-der-bessere-begriff-als-manichaeisch-ist/
      [5] https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/themen/beauftragter-gegen-antisemitismus
      [6] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/relativismus-dualismus-und-monismus-auf-twitter-mastodon-chatgpt-und-instalive/

  4. Danke für den spannenden Artikel. Hat mir sehr gefallen. Aber nun zum Kommentar.

    Was Mehrheitswahlsysteme betrifft so fand ich diese schon immer problematisch. Sie stellen den Wählerwillen unzureichend dar. Minderheitsposition kommen unter die Räder. Das ist nicht gut im Sinne der Demokratie und schadet der Akzeptanz. Zudem laden solche Systeme zu Gerrymandering ein, wie man in den USA sehr schön aber auch im UK beobachten kann.

    In Diskussionen mit PoWi-Studis wurde aber als Key-Feature des Systems seine Stabilität angepriesen. Es würde in der Regel zu 2 Parteien-Systemen führen (was ja im UK nicht so recht geklappt hat) und damit für weniger Volatilität sorgen, die grundsätzlich schlecht sei.

    Ich fand und finde, dass das kein gutes Argument ist:
    1. sind nach der Lesart Diktaturen noch stabiler, weil die Regierung über viele Jahre die selbe ist und das kann ja kaum das Ziel sein um gesellschaftliche Repräsentation zu erreichen. Es ist diese alte Logik mit dem guten König.
    2. halte ich das für eine solche statische Stabilität nicht für sinnvoll. Wichtiger ist doch, dass es einen gemeinsamen Diskurs gibt und wir die Gesellschaft und unser Gemeinwesen weiterentwickeln und an die Herausforderungen anpassen.

    Im Prinzip könnte man auch mit Minderheitsregierungen arbeiten, die sich nur auf exekutive Aufgaben beschränken und im Parlament gibt es wechselnde Mehrheiten. In Skandinavien wurde das auch schon so gemacht. Durchaus mit Erfolg.

    Mein Eindruck zu Mehrheitswahlsystemen ist, dass selten die Menschen ihren Präferenzen nach repräsentiert werden. Das sorgt für Unmut und zu mehr Entfremdung von der Politik.

    Deshalb würde ich mir wünschen es gäbe mehr Länder mit Verhältniswahlrecht. Und ich weiß das wird jetzt sehr offtopic, aber wir sind hier ja unter uns. Ich möchte kurz zwei Modelle vorstellen wie man unser System noch besser gestalten könnte.

    Option 1
    Anstelle von 1. und 2. Stimme, erhalten alle Wählerinnen und Wähler N Punkte (lassen wir es mal 5 sein). Das Land wird in Wahlregionen aufgeteilt, die in etwa so groß wie X (sagen wir mal 5) Wahlkreise. Pro Wahlkreis stellt jede Partei 2*X Personen auf. Das Wählerinnen und Wähler würden dann ihre 5 Stimmen auf 5 Politiker*innen verteilen. Die Gesamtsumme aller Punkte für Kandidat*innen werden zusammengezählt und der jeweiligen Partei zugeordnet. Darüber wird wie bisher die Fraktionsgröße bestimmt. Dann werden die Kandidat*innen pro Partei mit der Anzahl der Punkte, die sie in ihrer Region bekommen haben, sortiert und die beliebtesten bekommen die Sitze im Parlament.

    Option 2
    Wie aber neben den 5 Punkten wie oben, erhalten die Wähler*innen weitere Punkte für eine Art Zweitstimme (wie wäre es mit 30 aber nicht mehr als 5 pro Partei) über die man Kandidat*innen der anderen Parteien auswählen kann.
    Damit kann man dann mitbestimmen welche Kandidat*innen der anderen Parteien ins Parlament kommen sollen ohne aber die Partei direkt zu wählen oder ihre Zahl an Sitzen zu ändern. Diese Stimmen würden sich nur auf die Reihenfolge in der Parteiliste auswirken.

    Folgende Anforderungen versuchen diese Optionen zu lösen:
    1. Von Parteien aufgestellte Wahllisten limitieren die Möglichkeit der Bürger*innen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments zu haben. So könnte man z.B. die CSU ganz toll finden, aber den Söder doof und deshalb wählt man ihn nicht sondern jemand anderen aus der Partei.
    2. Es gäbe nur eine Liste pro Partei für den Einzug ins Parlament, aber die Priorisierung erfolgt durch die Bürger.
    3. Man hat keine Überhangmandate.
    4. Trotzdem haben die Wahlregionen einen lokalen Bezug und die Menschen können noch persönlichen Kontakt mit den Politiker*innen haben. Ich halte das für wichtig um Politiker*innen nicht im Politraumschiff abzuheben und den Bodenkontakt zu verlieren.
    5. Option 1 ist kaum komplexer als das aktuelle Prinzip das könnte wirklich gehen. Option 2 fordert die Wähler*innen auf sich auch um die Kandidat*innen der anderen Parteien vor Ort auseinanderzusetzen. Da die Regionen klein genug sind, kann man den Überblick behalten. Etwas was bei einer globalen Liste nicht gut geht.

    Soweit mal meine Gedanken dazu.

    • Vielen Dank, @Reiner Jung!

      Es freut mich sehr, dass Sie nicht nur in die inhaltliche Kritik am Mehrheitswahlrecht einsteigen, sondern sogar auch eigene Vorschläge entwickeln. Wenn ich Ihr vorgeschlagenes System richtig verstehe, dann verbindet es Elemente des Verhältniswahlrechtes mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens. Es scheint jedoch so komplex zu sein, dass es sehr viele Menschen überfordern dürfte.

      Als begeisterter Demokrat in Baden-Württemberg muss ich durchaus einräumen, dass unser dem nahekommendes, m.E. sehr gutes Kommunalwahlsystem mit zunehmender Gerechtigkeit eben auch immer komplexer wurde. So wird es von vielen Menschen als überaus kompliziert erlebt und hat bei den letzten Kommunalwahlen auch zu einer Zersplitterung vieler Gemeinde- und vor allem Stadträte geführt. In der Diskussion sind jetzt veränderte Auszählungen oder auch Mindestgrenzen wie die 5%-Hürde, mit der nach den Weimarer Erfahrungen ja auch der deutsche Bundestag stabilisiert wurde. Aber dadurch verfallen eben wiederum auch Stimmen – und es ist unklar, ob solche Reformen vor Gerichten Bestand hätten.

      Perplexity.ai erklärt:

      ## Kommunalwahlsystem in Baden-Württemberg

      Das Kommunalwahlsystem in Baden-Württemberg ist bekannt für seine Komplexität und bietet den Wählern eine Vielzahl von Möglichkeiten, ihre Stimmen abzugeben. Hier sind die wichtigsten Merkmale und Verfahren:

      ### **Wahlverfahren**

      Bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg werden die Gemeinderäte, Ortschaftsräte, Kreistage und die Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart gewählt. Die Wahlen finden alle fünf Jahre statt.

      #### **Kumulieren und Panaschieren**

      **Kumulieren**: Wähler können ihre Stimmen auf einzelne Kandidaten konzentrieren, indem sie einem Kandidaten bis zu drei Stimmen geben. Dies ermöglicht es, besonders bevorzugte Kandidaten stärker zu unterstützen[2].
      **Panaschieren**: Wähler können ihre Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen verteilen. Dies bedeutet, dass man Kandidaten aus unterschiedlichen Parteien wählen kann, was eine größere Flexibilität und Individualität bei der Stimmabgabe ermöglicht[2].

      #### **Positive Markierung**

      Die Stimmzettel müssen klar markiert werden, um gültig zu sein. Dies kann durch ein Kreuz oder durch die Angabe der Anzahl der Stimmen (1, 2 oder 3) neben dem Namen des Kandidaten erfolgen. Eine unklare oder übermäßige Stimmvergabe führt zur Ungültigkeit des Stimmzettels[2].

      ### **Wahlgebiete und Sitzverteilung**

      – **Wahlkreise**: Das Wahlgebiet ist in Wahlkreise unterteilt. Die Verteilung der Sitze erfolgt zunächst innerhalb der Wahlkreise nach dem Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers. Danach erfolgt ein Verhältnisausgleich auf Ebene der Gesamtgemeinde, um sicherzustellen, dass die Sitzverteilung dem Stimmenanteil der Parteien und Wählervereinigungen entspricht[4].
      – **Unechte Teilortswahl**: In einigen Gemeinden wird die unechte Teilortswahl angewendet, bei der die Sitze zunächst getrennt für jeden Wohnbezirk verteilt werden und danach ein Verhältnisausgleich auf Gemeindeebene erfolgt[4].

      ### **Wahlberechtigung und Wählbarkeit**

      – **Aktives Wahlrecht**: Wahlberechtigt sind alle Deutschen und EU-Bürger, die das 16. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnen[8].
      – **Passives Wahlrecht**: Wählbar sind alle Deutschen und EU-Bürger, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnen[8].

      ### **Besondere Merkmale**

      – **Direktwahl der Bürgermeister**: Bürgermeister und Oberbürgermeister werden direkt von den Bürgern gewählt. In Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern können die Bezirksbeiräte direkt gewählt werden, sofern der Gemeinderat dies beschlossen hat[4].
      – **Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart**: Diese wird ebenfalls nach den Bestimmungen des Kommunalwahlrechts gewählt. Die Wahl findet alle fünf Jahre zusammen mit den Gemeinderats- und Kreistagswahlen statt[4].

      ### **Herausforderungen und Kritik**

      Das System des Kumulierens und Panaschierens wird oft als kompliziert empfunden, was zu einer höheren Anzahl ungültiger Stimmen führen kann. Trotz dieser Komplexität bietet das System den Wählern jedoch eine größere Freiheit und mehr Wahlmöglichkeiten, was als Vorteil angesehen wird[2].

      Insgesamt ermöglicht das Kommunalwahlsystem in Baden-Württemberg eine detaillierte und flexible Stimmabgabe, die den Wählern erlaubt, ihre Präferenzen genau auszudrücken und die Zusammensetzung der kommunalen Vertretungen aktiv mitzugestalten.

      Citations:
      [1] https://www.kommunalwahl-bw.de/wie-wird-gewaehlt-kommunalwahl
      [2] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/kommunalwahl/kommunalwahl-bw-2024-wahlsystem-kumulieren-panaschieren-100.html
      [3] https://www.lpb-freiburg.de/fileadmin/landeskunde/pdf/Politisches_Leben/Frech_Kommunalwahlsystem_Handbuch_Kommunalpolitik.pdf
      [4] https://im.baden-wuerttemberg.de/de/land-kommunen/lebendige-demokratie/wahlen/kommunalwahlen
      [5] https://www.kommunalwahl-bw.de/faq-wahlverfahren
      [6] https://www.politikundunterricht.de/aktuell_22/kommunalwahlen_24_bf.pdf
      [7] https://www.kommunalwahl-bw.de
      [8] https://www.kommunalwahl-bw.de/kommunalwahlen-2024
      [9] https://www.politikundunterricht.de/aktuell_22/kommunalwahlen_24.pdf
      [10] https://www.lpb-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/publikationen/wahlen_2024/fb_kommunalwahl_2024_bf.pdf
      [11] https://www.youtube.com/watch?v=UUPIUy00eXU
      [12] https://www.wahlrecht.de/lexikon/unechte-teilortswahl.html
      [13] https://im.baden-wuerttemberg.de/de/land-kommunen/lebendige-demokratie/wahlen/kommunalwahlen/infomaterial-kommunalwahlen
      [14] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/kommunalwahl-bw-2024-kurz-erklaert-100.html
      [15] https://www.youtube.com/watch?v=LQQA9qZzw0Q

      Nochmal vielen Dank für Ihre Gedanken – vielleicht gelingt es uns ja, dialogisch noch ein wenig mehr Verständlichkeit zu schaffen.

  5. Die Wahlanalyse und der Dialog, der durch die Kommentare entstanden ist, haben mich sehr nachdenklich gemacht. Viele Punkte finden meine Zustimmung.
    Meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Mehrheitswahlrechts werden dadurch aber auch bestätigt.

    Da gibt es nun in Großbritannien eine Labour Party, die eine hohe absolute Mehrheit an Sitzen im Unterhaus hat, aber nur knapp 34 % der Wähler repräsentiert bei einer Wahlbeteiligung von 60 %. Das bedeutet, dass diese Regierung die verlässliche Unterstützung von etwa 20 % der Bevölkerung hat.
    Ein sehr merkwürdiger Erdrutsch.
    Ob das Ergebnis dem britischen Volk wirklich Hoffnung auf positive soziale und wirtschaftliche Veränderungen macht?

    • Vielen herzlichen Dank, @Elisabeth K.!

      Ich sehe die Kritikpunkte am britischen First-Past-the-Post-Mehrheitswahlrecht – deutsch etwa: Die erstmalig Erstplatzierten bekommen den Wahlkreis-Posten – auch so: Es begünstigt nicht nur Polarisierung, sondern entwertet viel zu viele Stimmen. Dafür ist es aber sehr schnell und effektiv – zwischen dem Schließen der Wahllokale und dem Regierungswechsel vergeht kaum ein Tag. Ich denke, das kommt sehr vielen Leuten sehr entgegen.

      Insgesamt glaube ich, dass post-fossile, demokratische Politik vor allem durch Hoffnungen und Engagement aus den Völkern heraus gestaltet werden sollte. Gerade auch angesichts der schnellen Alterung und massiven Migration in immer mehr Gesellschaften sehe ich große Herausforderungen insbesondere auf die Nationalstaaten zurollen. Deren Medium war ja der Zeitungsdruck – und dieser kommt m.E. leider nicht mehr in der klassischen Form zurück. Neue Medien bringen neue Politikformen hervor. Auch das ist ein Aspekt eines wirklich technologieoffenen Solarpunk.

      Den Zusammenhang von Zeitungsdruck und demokratischen Regierungsformen hier erläutert mit dem Ihrerseits dankenswerterweise vorgeschlagenen Perplexity.ai:

      Dr. Michael Blume beschreibt einen engen Zusammenhang zwischen Zeitungsdruck und der Entwicklung von Demokratien. Laut seiner Analyse spielte die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks, insbesondere von Zeitungen, eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Festigung demokratischer Systeme[3].

      Blume argumentiert, dass der Zeitungsdruck mehrere wichtige Funktionen für die Demokratie erfüllte:

      1. Informationsverbreitung: Zeitungen ermöglichten eine breite und schnelle Verbreitung von Nachrichten und Informationen an die Bevölkerung.

      2. Meinungsbildung: Durch regelmäßige Berichterstattung und Kommentare trugen Zeitungen zur öffentlichen Meinungsbildung bei.

      3. Kontrollfunktion: Die Presse übernahm eine wichtige Rolle als “vierte Gewalt”, indem sie die Regierung und andere Machthaber kritisch beobachtete und kontrollierte.

      4. Politische Partizipation: Zeitungen förderten das politische Engagement der Bürger, indem sie Diskussionen anregten und politische Themen zugänglich machten.

      Blume betont, dass die regelmäßige Produktion und Verteilung von gedruckten Informationen eine Voraussetzung für die Entstehung stabiler demokratischer Strukturen war. Er sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Druckerzeugnissen und der Entwicklung demokratischer Gesellschaften[3].

      In Bezug auf die gegenwärtige Situation weist Blume darauf hin, dass der Rückgang des klassischen Zeitungsdrucks und die Verlagerung der Informationsverbreitung ins Internet neue Herausforderungen für die Demokratie mit sich bringen. Er empfiehlt daher, dass demokratisch engagierte Menschen weiterhin aktiv Blogbeiträge, Reden und andere Formen der öffentlichen Kommunikation nutzen sollten, um den demokratischen Diskurs aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln[3].

      Citations:
      [1] https://www.boell-bw.de/de/2022/12/05/dr-michael-blume-gegenstrategien-von-seiten-der-politik-und-den-institutionen
      [2] https://www.youtube.com/watch?v=p6sO4WOpfeg
      [3] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-ki-medienrevolution-warum-ich-demokratisch-aktiven-dringend-blogposts-reden-und-drukos-empfehle/

  6. Lieber @Michael Blume, danke für die gute Zusammenfassung und Einordnung!

    Ich will eine kurze Anmerkung zum Thema Umgang der Medien mit dem Thema machen. Ich habe mich gerade dabei ertappt, dass ich mich über die konsistente Verwendung des Begriffes „Erdrutschsieg“ (heute auf vielen der bekannten Portale) aufregen wollte.

    Denn Begriff ist in der Tat zunächst irreführend, da er, wie Sie es ja schön zeigen, über die wirklichen Mehrheitsverhältnisse hinwegtäuscht. Umso wichtiger Ihre Analyse.

    Beim nochmaligen Nachdenken bin ich dann darauf gekommen, dass der Begriff insofern ganz gut passt, als das besondere Wahlrecht in Großbritannien kleine Unterschiede in den Stimmenanteilen massiv verstärkt. Und bei einem Erdrutsch ist es ja auch so, dass durch die besonderen Kräfteverhältnisse an einem Hang ein kleiner Eingriff einen massiven Effekt zur Folge hat.

    Der Teil einer Perplexity-Antwort lautet denn auch ganz prägnant:
    „Nichtlineare Dynamik: Kleine Veränderungen in den Umgebungsbedingungen, wie etwa starke Regenfälle oder leichte seismische Aktivität, können eine unverhältnismäßig große Reaktion auslösen, indem sie das empfindliche Gleichgewicht der Hangstabilität stören.“

    Wahlrechtssysteme wie in den USA und Großbritannien haben Destabilisierung und Polarisierung zur Folge. Sie verstärken Unterschiede und begünstigen gesellschaftliche Verwerfungen und „Erdrutsche“. Und das ist in einer Konstellation, in der durch die Medienlandschaft ohnehin schon Polarisierung stark begünstigt wird, fatal. Umso wichtiger sind Dialogformen, die ein gemeinsames Verstehen und Lernen begünstigen – Dialogformen wie die, die beispielsweise wir hier kultivieren.

    • Vielen Dank, @Peter Gutsche!

      Das Argument finde ich sehr spannend und stark: Mit Erdrutschen können durch kleine Verschiebungen große Massen bewegt werden. Insofern würde es sogar erstmal zum britischen First-Past-the-Post-Mehrheitswahlrecht passen – schon geringe Stimmenverschiebungen können die Mehrheitsverhältnisse im Parlament umwälzen.

      Was mir an diesem Sprachbild jedoch missfällt und mich auch zur Kritik dieser Begriffsverwendung hier geführt hat, ist die irreführende Endgültigkeit: Ein Erdrutsch lässt sich – im Gegensatz etwa zu einem Pendelschlag – nicht mehr umkehren. Er steigert die Entropie, ist damit für Menschen überwiegend negativ und irreversibel wie das Zerbrechen einer Tasse.

      Und genau diesen Fehlschluss würde ich gerne vermeiden: Labour hat mit Keir Starmer einen triumphalen Pendelsieg errungen und eine Zweidrittelmehrheit von um die 412 von 610 Wahlkreis-Mandaten gewonnen. Das Pendel könnte jedoch bei der nächsten Wahl auch wieder zurückschlagen. Auch die in einigen britischen Medien zu lesende Bezeichnung als “Massaker” finde ich zwar zu gewaltvoll, aber sie unterstreicht immerhin die Gefahr auch der nächsten Wahl.

      https://www.fr.de/politik/labour-uk-parlament-grossbritannien-wahl-2024-umfragen-letzte-aktuell-tories-zr-93165502.html

      Was wir beide hier übrigens gerade machen, lieber @Peter Gutsche, ist Metaphorologie und würde von Hans Blumenberg (1920 – 1996) sehr begrüßt! So freute er sich beispielsweise ausführlich darüber, dass im Begriff vom “Fließgleichgewicht” die “Antwort auf eine Antinomie zwischen biologischer Systemtheorie und physikalischer Thermodynamik” gefunden sei. Denn grundsätzlich bestehe bei der Übertragung physikalischer Begriffe – wie hier Erdrutsch, oder auch Strom, Eisberg usw. – das Problem:

      “Das Entropieprinzip der Physik bestimmt die Tendenz eines Systems zum Zustand größerer Wahrscheinlichkeit, also gesteigerter Unordnung; das Prinzip der biologischen Evolution verlangt dem gegenüber Zunahme von Ordnung und Steigerung der Organisation sowohl unter dem ontogenetischen wie dem phylogenetischen Aspekt.”

      Hans Blumenberg in: “Quellen, Ströme, Eisberge”, Suhrkamp 2012, S. 155

      Das habe ich gerade auch deswegen aus dem Bücherschrank geholt, da Sie ja neulich als Physiker zu Entropie und Externalisierung interdisziplinär beigetragen haben. Ich vermute, hier gibt es auch metaphorologisch noch viel zu entdecken!

      Aus meiner Sicht ist der Labour-Triumph zwar tatsächlich durch geringe Stimmenverschiebungen ausgelöst worden, hat aber den Wunsch nach geringerer Entropie ausgedrückt und ist gerade auch aufgrund des britischen Wahlrechtes keineswegs irreversibel.

  7. Habe jetzt auch mal Perplexity.ai zur Erdrutsch-Metapher gefragt:

    Der Triumph der Labour-Partei bei den britischen Parlamentswahlen 2024 sollte besser nicht als “Erdrutsch” bezeichnet werden, obwohl das Wahlergebnis einen deutlichen Sieg für Labour darstellt. Hier sind einige Gründe dafür:

    ## **Unzufriedenheit mit den Tories statt Begeisterung für Labour**

    Ein wesentlicher Faktor für den Wahlsieg von Labour war die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der konservativen Regierung unter Rishi Sunak. Viele Wähler stimmten gegen die Tories, nicht unbedingt aus Begeisterung für Labour, sondern aus Frustration über die Leistung der konservativen Regierung in den letzten Jahren. Probleme wie die Krise im Gesundheitswesen, Skandale und gebrochene Versprechen haben das Vertrauen in die Tories stark beeinträchtigt[1][2][7].

    ## **Fehlende überwältigende Unterstützung für Labour**

    Obwohl Labour eine klare Mehrheit im Parlament errungen hat, lag die Unterstützung der Partei in den Umfragen bei unter 40 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass Labour nicht die überwältigende Zustimmung der Wähler genießt, sondern vielmehr von der Schwäche der Tories profitiert hat[5][7].

    ## **Vergleich mit früheren Erdrutschsiegen**

    Der Wahlsieg von Labour 2024 fällt im Vergleich zu früheren Erdrutschsiegen, wie dem von Tony Blair 1997, weniger dramatisch aus. Blair erzielte damals eine noch größere Mehrheit und eine deutlich höhere Wählerunterstützung. Im Gegensatz dazu ist der Sieg von Keir Starmer zwar bedeutend, aber nicht so überwältigend, dass er als Erdrutsch bezeichnet werden könnte[2][3].

    ## **Politische Landschaft und Wahlbeteiligung**

    Die politische Landschaft in Großbritannien ist derzeit stark fragmentiert, mit bedeutenden Gewinnen für andere Parteien wie die Liberal Democrats und Reform UK. Diese Fragmentierung zeigt, dass die Wählerstimmen auf mehrere Parteien verteilt wurden, was ebenfalls gegen die Bezeichnung “Erdrutsch” spricht[2][3].

    ## **Zukunftsaussichten und Herausforderungen**

    Keir Starmer steht vor erheblichen Herausforderungen, um die versprochenen Veränderungen umzusetzen und das Vertrauen der Wähler zu gewinnen. Die politische und wirtschaftliche Lage des Landes erfordert umfassende Reformen, und es bleibt abzuwarten, ob Labour diese Erwartungen erfüllen kann. Die bevorstehenden Herausforderungen und die Notwendigkeit, das Vertrauen der Wähler zu festigen, unterstreichen, dass der Wahlsieg nicht als uneingeschränkter Triumph betrachtet werden sollte[1][6].

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Wahlsieg von Labour 2024 zwar bedeutend ist, aber aufgrund der oben genannten Gründe nicht als “Erdrutsch” bezeichnet werden sollte. Die Wahl spiegelt eher eine Ablehnung der konservativen Regierung als eine überwältigende Unterstützung für Labour wider.

    [1]: [Tagesschau]
    [2]: [CNN]
    [3]: [BBC]
    [5]: [Focus]
    [6]: [Frankfurter Rundschau]
    [7]: [Welt]

    Citations:
    [1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/wahlsieg-labour-100.html
    [2] https://edition.cnn.com/2024/07/04/uk/uk-election-exit-poll-results-labour-conservative-starmer-gbr-intl/index.html
    [3] https://www.bbc.com/news/articles/c4nglegege1o
    [4] https://www.fr.de/politik/labour-live-ticker-grossbritannien-wahl-2024-ergebnisse-prognosen-hochrechnungen-tories-zr-93167353.html
    [5] https://www.focus.de/politik/ausland/parlamentswahlen-in-grossbritannien-gleich-kommen-die-ersten-prognosen-premier-sunak-droht-historische-klatsche_id_260110276.html
    [6] https://www.fr.de/politik/grossbritannien-wahl-2024-reaktionen-labour-triumph-tories-masaker-starmer-sunak-zr-93170045.html
    [7] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/wahl-vereinigtes-koenigreich-100.html
    [8] https://www.welt.de/politik/ausland/article252358408/Labour-Triumph-bei-Wahl-in-Grossbritannien-Keir-Starmer-siegt-Debakel-fuer-Tories-Achtungserfolg-fuer-Nigel-Farage.html
    [9] https://apnews.com/live/uk-election-results-updates
    [10] https://www.reuters.com/graphics/BRITAIN-ELECTION/RESULTS/lbvgllknbpq/
    [11] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/prognose-erdrutschsieg-fuer-labour-bei-britischer-parlamentswahl,UHaAzaR
    [12] https://www.wiwo.de/politik/europa/wahl-in-grossbritannien-weit-mehr-als-ein-erdrutsch-/29881400.html
    [13] https://www.merkur.de/politik/live-ticker-grossbritannien-wahl-2024-labour-tories-ergebnisse-prognosen-hochrechnungen-93167354.html

    • guten Morgen @Michael Blume,
      vielen Dank für die ausführlichen Überlegungen zum Begriff “Erdrutschsieg”!
      Ich bin begeistert. Zum Frühstück gibt es nicht nur Kaffee und Brot, sondern viel Denkfutter.
      Herzliche Grüße!

      • Vielen Dank, @Peter Gutsche!

        Ich freue mich gerade sehr über den Bericht des Teckboten zu meinem Besuch in der Weilheimer Realschule (die dafür sicher auch Hate abbekommt, aber schon mitgeteilt hat, dass sie das gelassen sieht). Gerne habe ich den sehr interessierten und teilweise auch mit Recherchen und Fragen vorbereiteten Neunt- und Zehntklässlern ihre Fragen zu Antisemitismus und Rassismus, zu Deutschland – Israel und auch zur KI-Digitalisierung, zu Cybertrolling und interreligiösen Familien beantwortet:

        Antje Dörr: “Bildung – Wie Michael Blume gegen die Trolle kämpft”
        https://www.teckbote.de/nachrichten/teckregion/wie-michael-blume-gegen-die-trolle-k%C3%A4mpft_arid-500350.html

        Danke Ihnen für unseren guten Dialog, heute morgen zur Metapher vom Erdrutsch! 🙂

  8. Dieses Wahldebakel immernoch als Triumph zu bezeichnen, zeugt von der ignoranten Arroganz der Bildung in allen denkbaren …losigkeiten.

    • Komisch, @hto – wie ich mich erinnere, lehnen Sie doch demokratische Wahlen mit konkurrierenden Parteien ohnehin ab? Dann wäre ja aus Ihrer linksdualistischen Sicht jede Wahl ein Debakel, nicht wahr?

  9. @Michael Blume, sehr schöner Artikel!
    Ich denke, junge Menschen merken sofort, ob jemand etwas Relevantes zu sagen hat, und das ist steht bei Ihnen außer Frage.
    Ich denke, Sie erreichen an Schulen bestimmt eine ganze Menge.

    • Danke, @Peter Gutsche

      Mir ist vor allem wichtig, gegen die ewig-gleichen, reaktanten (öfter rechts) oder auch arroganten (öfter links) Vorurteile über “die Jugend von heute” aufzuklären. Die meisten jungen Menschen verstehen die Macht von Medien sehr gut und sind auch an Themen wie Antisemitismus und feindseliger Dualismus sofort interessiert, wenn es ehrlich und interessant vermittelt wird. Und mein Team achtet sehr bewusst darauf, dass ich immer wieder die verschiedensten Schularten besuche und damit auch ein Gefühl dafür entwickele, was junge Menschen und ihre Lehrenden aktuell bewegt.

      Und wenn es dann auch noch Jugendliche stärkt und vor dem falschen Abbiegen bewahrt! Schulbesuche mache ich sehr gerne, allerdings haben wir alleine in Baden-Württemberg weit über 4.000 Schulen und müssen also immer wieder abwägen, was wann leistbar ist.

  10. Übrigens, linksdualistisch ist falsch, mein Verständnis von links ist spirituell inspiriert – Gemeinschaft des ganzheitlich-ebenbildlichen Wesens Mensch, in Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, “wie im Himmel all so auf Erden”.

    • @hto

      Also wäre esoterisch-linksdualistisch aus Ihrer Sicht präziser? Gerne doch! 🙂

      Über die Gnosis (als Anspruch auf geheimes Offenbarungswissen) hatten wir ja schon vielfach debattiert, aber ich denke nicht, dass wir sie als allgemein bekannt voraussetzen sollten.

  11. Zur Analyse möchte ich noch einen Punkt hinzufügen: die alte Regierung hatte im Rahmen des Klimaschutzes vor ca. 1 bis 2 Jahren versucht die in GB allgegenwärtigen Gasthermen als Heizung zu verbieten, was dann auf eine Art Wärmepumpenzwang hinausgelaufen wäre. Nach längerem Hin und Her wegen der Überforderung der Wohnungs- und Hausbesitzer wurde das Gesetz oder Gesetzesvorhaben wieder zurückgenommen.
    Meine Vermutung: dieses Thema hat auch zum Verlust vieler Wählerstimmen bei den Tories geführt.

    • Danke & ja, @Wolfgang Richter – selbstverständlich gelten im Vereinigten Königreich die gleichen Grundlagen der Medienpsychologie wie bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Ob rechts oder links: Wer zentralistisch und bevormundend agiert, wird Reaktanz ernten.

      Schauen Sie sich dagegen nur mal den aktuellen Boom bei Solar-Balkonkraftwerken an! Hunderttausende Deutsche bemühen sich, machen zunehmend positive Erfahrungen, internalisieren ihre Verantwortung und Selbstwirksamkeit für die Mitwelt. Viele werden in den kommenden Jahren weitere Schritte tun. Eine echte, post-fossile Solarpunk-Transformation demokratischer Gesellschaften kann und sollte nach meiner Einschätzung immer mit den willigen Menschen geschehen, nie gegen sie. Es steckt auch viel Gutes, viel dialogischer Monismus in uns!

      Perplexity.ai hat meine Empfehlungen daher längst verstanden:

      Dr. Michael Blume rät dazu, die Energiewende freiheitlich und basisdemokratisch voranzutreiben, um der menschlichen Reaktanz entgegenzuwirken und eine breitere Akzeptanz für den Wandel zu schaffen. Seine Empfehlung basiert auf mehreren psychologischen und sozialen Faktoren:

      1. Vermeidung von Widerstand: Reaktanz ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen auf wahrgenommene Einschränkungen ihrer Freiheit mit Widerstand reagieren[3]. Indem die Energiewende freiheitlich und basisdemokratisch gestaltet wird, kann das Gefühl der Bevormundung oder des Zwangs reduziert werden, was wiederum die Reaktanz minimiert.

      2. Förderung der Akzeptanz: Durch einen partizipativen Ansatz können sich Bürger aktiv an der Gestaltung der Energiewende beteiligen. Dies erhöht das Gefühl der Selbstbestimmung und Kontrolle, was die Akzeptanz für Veränderungen steigert[1].

      3. Nutzung lokaler Expertise: Basisdemokratische Prozesse ermöglichen es, lokales Wissen und Erfahrungen in die Planung und Umsetzung der Energiewende einzubeziehen. Dies kann zu besseren, an die jeweiligen Gegebenheiten angepassten Lösungen führen.

      4. Vermeidung von Externalisierung: Blume weist darauf hin, dass Menschen dazu neigen, Verantwortung und Kosten auf andere abzuwälzen (Externalisierung)[1]. Ein freiheitlicher und basisdemokratischer Ansatz kann dazu beitragen, dass Menschen mehr Verantwortung für den Prozess übernehmen.

      5. Überwindung von Dualismus: Blume kritisiert “rechtsdualistische” Ansichten, die oft mit Klimawandelleugnung und Widerstand gegen erneuerbare Energien einhergehen[1]. Ein inklusiver, demokratischer Prozess kann helfen, solche polarisierenden Sichtweisen zu überwinden.

      6. Förderung von Motivation: Anstatt Menschen durch Verbote oder Zwang zu demotivieren, kann ein freiheitlicher Ansatz die intrinsische Motivation zur Teilnahme an der Energiewende stärken[4].

      7. Langfristige Nachhaltigkeit: Eine von der Basis getragene Energiewende hat bessere Chancen, langfristig erfolgreich und nachhaltig zu sein, da sie auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruht.

      Blume betont, dass es wichtig ist, trotz möglicher Widerstände und Herausforderungen an der Energiewende festzuhalten. Er argumentiert, dass diejenigen, denen die Zukunft und die Umwelt am Herzen liegen, sich nicht von reaktanten oder dualistischen Argumenten entmutigen lassen sollten[2]. Stattdessen plädiert er für einen konstruktiven, wissenschaftlich fundierten und demokratischen Ansatz zur Bewältigung der Klimakrise und zur Förderung erneuerbarer Energien.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Blumes Empfehlung darauf abzielt, die psychologischen Barrieren gegen Veränderungen zu überwinden und gleichzeitig die Vorteile einer breiten gesellschaftlichen Beteiligung zu nutzen, um die Energiewende erfolgreich und nachhaltig zu gestalten.

      Citations:
      [1] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/den-digitalen-rechtsruck-verstehen-durch-die-psychologie-von-externalisierung-und-reaktanz/
      [2] https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/windkraft-zur-produktion-erneuerbarer-friedensenergie-gegen-krieg-und-antisemitismus/
      [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Reaktanz_%28Psychologie%29
      [4] https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/reaktanz-45104
      [5] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/reaktanz/12519
      [6] https://www.boell-bw.de/de/2022/12/05/dr-michael-blume-gegenstrategien-von-seiten-der-politik-und-den-institutionen

  12. @Blume: “als Anspruch auf geheimes Offenbarungswissen”

    Wie kann etwas geheim sein, wenn es in der Bibel beschrieben steht???

    Es steht jedem frei daran zu glauben, aber Vernunft und Verantwortungsbewusstsein funktionieren eben nur in diesem Sinne, auch wenn Mensch nie mit der ganzen Kraft des Geistes der Schöpfung gestalten wird.

    • Nein, @hto – Sie befinden sich hier im gleichen erkenntnistheoretischen Irrtum wie schon Martin Luther: “Die Bibel” kann und wird immer nur durch Menschen in ihrer Zeit und mit ihrem Vorverständnis interpretiert. Was Ihnen völlig eindeutig erscheint, kann für eine andere Leserin und einen anderen Leser völlig widersinnig erscheinen.

      Und in Ihrem Fall ist das auch der Fall. Ich bin Christdemokrat und finde schon den Anspruch grundfalsch, mit Berufung auf die Bibel demokratische Wahlen verbieten zu wollen. Hier zur Einführung in die Hermeneutik (Auslegungslehre) als Blogtext und “Verschwörungsfragen”-Podcast-Folge:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/verschwoerungsfragen-33-die-schluempfe-und-der-luther-hermeneutik-statt-verdraengung/

      Allerdings werde ich Ihnen nicht den Gefallen zu tun, das Trolling zu füttern. Versuchen Sie es gerne ein andermal wieder. Solange Ihre Drukos einigermaßen verständlich ausfallen und ohne Beschimpfungen auskommen, schalte ich auch Sie gerne hin und wieder frei. 🙂

      • Positiv ist, dass die Demokratie in UK noch stabil zu sein scheint. Der durchaus große Erfolg von Reform UK ist besorgniserregend, aber erst einmal geht es demokratisch weiter. Hoffentlich biedert sich Labour nicht zu weit rechts an. Das würde auf Dauer nicht gut gehen, auch weil das die Tories noch weiter an den Rand drücken würde. Und dort freut sich Farage mit teuflischem Lächeln.

        Nicht nur das Wahlrecht in UK ermöglicht eine starke Mehrheit einer eigentlich nur kleinen Mehrheit. Die Legislative ist generell relativ stark und machtvoll. Im Unterhaus wird zwar viel gestritten und gepöbelt, aber die regierende Partei hat nur wenige Hürden zu nehmen, um durchregieren zu können.

        Anders als z. B. in der BRD, sind relativ wenige Player an den politischen Entscheidungen beteiligt (s. Vetospielertheorem von George Tsebelis). Das hat den großen Vorteil, dass in Krisen schnell gehandelt werden kann. Aber es können auch schnell weitreichende Fehler gemacht werden. Die BRD ist da deutlich mehr auf Kompromisse angewiesen und viel langsamer, aber sie ist dadurch auch berechenbarer und stabiler.

        Es ist ein schmaler Grat zwischen einem Mehr an Handlungsspielraum (auf Kosten von Minderheiten) und einem Mehr an Stabilität. Ich bevorzuge Letzteres klar.

        Doch machen wir uns nichts vor. Kein politisches System ist letztlich vor einem sehr starken politischen Extremrand sicher. Das System kann aber trotzdem den Unterschied machen, ob eine Demokratie verteidigt werden kann oder nicht.

        Ich sitze hier hundemüde und schweife ab. Einen Gedanken zum Verteidigungskampf möchte ich trotzdem loswerden. Ich bin ein Befürworter eines Verbotverfahrens gegen die AfD. Aber falls das kommen und erfolgreich sein würde, dürfte das ein extrem starker Boost für das BSW werden. Vor dem habe ich fast genauso viel Angst, wie vor der AfD.

  13. Vielleicht mache ich mich gerade unbeliebt, aber als ich nochmal darüber nachgedacht habe bin ich dahin gekommen das ich zum ersten Mal im Leben das Wahlsystem in GB gut finde. Es hat uns Farage vom Hals gehalten. Keine Hochburgen keine Kekse.
    Wenn ich ehrlich bin finde ich leider mittlerweile eigentlich alles gut was diesen Identitären Einhalt gebietet. Oder sie wenigstens mal behindert. Die sind einfach auf der Siegerstrasse. Und mich beschleicht (tatsächlich zu meinem Leidwesen) so langsam das Gefühl das die nur mit humanistischen Vorstellungen nicht zu stoppen sind..
    Aber was rede ich noch in einem Land das damals das Sommermärchen ernsthaft nicht für nationalistisch gehalten hat und in dem der Glaube vorherrscht ohne Normalisierung des deutschen Nationalstolzes hätte es auch den AfD Erfolg gegeben. Oder wo Menschen ernsthaft denken Patriotismus wäre von Nationalismus trennbar.
    Aber freut euch gerne weiter an dem Gedanken das die Linke ja eigentlich gar nicht gewonnen hat. Ich bin alt genug um vielleicht rechtzeitig abzukratzen damit ich das bittere Ende nicht erleben muss.

  14. @Michael Blume mit den letzten beiden Sätzen hatte ich eher weniger dich gemeint. Sieht ein bisschen so aus aber nach dem Absenden ist es zu spät 😉

    • @Uli Schoppe

      Das Paradox besteht doch gerade darin, dass auch demokratische Wahlsysteme national (!) gewachsen sind und nicht einfach geändert werden können. Und dem UK-Mehrheitswahlrecht ist doch auch zugute zu halten, dass es regelmäßig klare Mehrheiten und schnelle Regierungswechsel bringt. Wenn es Keir Starmer und Labour gelänge, ordentliche und ausgewogene Regierungsführung wieder zum Maßstab zu machen, dann wäre auch für die anderen Demokratien Europas viel gewonnen! Ich wurde ja auch zu diesem Blogpost aufgefordert und sehe das wachsende Interesse an den politischen Systemen anderer Demokratien eigentlich als sehr positiv.

  15. Ein Blick ins Ausland kann nicht schaden, wenn wir das Verhältniswahlrecht beurteilen wollen. Die meisten Länder haben ein Verhältniswahlrecht in Mischform, wobei es in den Wahlkreisen die sogenannten Direktmandate gibt.
    Der Nachteil zu vieler Parteien umgeht man mit der Sperrklausel.
    “Eine Sperrklausel ist eine Regelung in einem Verhältniswahlrecht,”
    Sie verhindert die Zersplitterung von Parteien. Und sie ist umstritten.

    Auch hier sollten wir mal einen Blick auf die Schweiz werfen, die haben auch Sperrklauseln, aber jeder Kanton kann die Höhe der Sperrklausel selbst bestimmen.

    Das ist ein Kompromiss zwischen “keine Stimme darf verloren gehen” und “ein politisches System muss handlungsfähig bleiben.”

    • Ja, @N – auch ich bin ein Befürworter von Verhältniswahlrecht mit Sperrklauseln. Gleichwohl sehe ich natürlich, dass es nach Geschichte und Größe völlig unterschiedliche, nationale und regionale Wahlkulturen gibt. In der von Ihnen angesprochenen Schweiz gibt es beispielsweise starke Traditionen der sog. Konkordanzdemokratie, nach der etablierte Parteien in Regierungen aufgenommen werden, die wiederum durch Volksabstimmungen und Justiz stärker kontrolliert werden. In den meisten Demokratien mit Verhältniswahlrecht – wie auch in Deutschland oder Israel – werden Koalitionsregierungen gebildet, die wiederum in anderen Ländern bislang noch kaum praktiziert werden. Sinnigerweise wird im Hinblick auf die heutige, zweite Runde der französischen Parlamentswahl auch genau darüber diskutiert.

  16. Meine geliebte Stuttgarter Zeitung vermeldet heute auf S. 2 spannende Details zum neuen House of Commons, deutsch “Unterhaus” (auch richtig wäre: Haus der Gemeinen, Volksvertretung):

    Demnach sei der Frauenanteil des Parlaments von 35 auf 41 Prozent gestiegen, was vor allem an der Labour-Fraktion mit einem Frauenanteil von 47 Prozent liege. 1979, als Margaret Thatcher Premierministerin wurde, seien es 3 Prozent gewesen.

    Etwa ein Zehntel der 650 Abgeordneten gehöre nun nach eigenem Bekunden der LGBTQ-Bevölkerungsgruppe an, sogar 90 Abgeordnete “ethnischen Minderheiten”.

    Der Anteil der Gewählten, die bei der Vereidigung auf die Krone eine säkulare Variante wählten, stieg von 24 Prozent in 2019 auf 40 Prozent in 2024. Auch der neue Premier Sir Keir Starmer gehöre dazu.

    Christliche Abgeordnete legten ihren Eid auf Bibeln ab, 14 Muslime auf den Koran und drei Hindus auf die Bhagavad Gita, darunter auch der ehemalige Ex-Premierminister Rishi Sunak, der die Amtsübergabe an Labour fair und konstruktiv vollzogen hat.

    Ein Hauch von Solarpunk, zumal die neue Regierung u.a. die Baugenehmigung für ein Kohlekraftwerk widerrief und weitere Windkraft-Anlagen genehmigte:

    https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/solarpunk-ist-mehr-als-utopie-schon-heute-gegen-reaktanz-und-arroganz-leben/

    Danke allen an UK Interessierten! 🙂

Schreibe einen Kommentar