Konferenzbericht – Explaining Religion in Bristol 2010
BLOG: Natur des Glaubens
Was für eine Konferenz! Viele Tagungen durfte ich schon erleben, aber "Explaining Religion" in Bristol wird mir wohl immer im Gedächtnis bleiben. Dies nicht nur wegen der vielen hochklassigen Teilnehmer der verschiedensten Nationen und Disziplinen und intensiven Gespräche, sondern auch wegen der inhaltlichen Entwicklungen. Hier erste, noch ganz frische Impressionen aus dem Vereinigten Königreich.
Zunächst einmal zum Ort: Bristol ist wirklich eine wunderschöne Stadt mit einer freundlichen und vielfältigen Einwohnerschaft, einer reichen Geschichte (nicht ohne dunkle Flecken, z.B. den Sklavenhandel) und leckerem Cider. Das hier ist zum Beispiel keine Kathedrale, sondern der Turm des Bahnhofes in Bristol.
Und wie es sich für eine gewachsene (d.h. kulturell evolvierte 😉 ) Stadt gehört, sind überall spannende Zeugnisse auch unseres Themas zu finden. So befand sich unser Hotel am Victoria Park und dieser wurde durch einen kleinen Brunnen eingeleitet, dessen Aufschrift die Thesen zum "übernatürlichen Beobachter" und des "reproduktiven Potentials von Religiosität" vorweg zu nehmen schien: "The fear of the Lord is a fountain of Life – Die Furcht vor dem Herrn ist eine Quelle des Lebens."
Aber auch das gesellschaftliche Klima war dem Thema nahe. Während Deutschland über die kruden Thesen von Thilo Sarrazin debattierte, titelte "The Times" mit dem Aufmacher, dass sich Stephan Hawkings in seinem neuen Buch "The Grand Design" für das Multiversum-Modell ausgesprochen und eine weitere "Gotteslücke" (God gap) geschlossen habe.
Am zweiten Tag antworteten Religionsgelehrte – wobei Oberrabbiner Jonathan Sacks mit einem klugen (leider nur kostenpflichtig zugänglichen) Essay am meisten Beachtung fand (und sich diverse christliche und islamische Stimmen zustimmend auf ihn beriefen – auch das interessant!). Am dritten Tag dann kamen Kollegen aus der Physik zu Wort, auch in den Fernsehshows debattierten Naturwissenschaftler und Theologen und eine Internet-Debatte zwischen Richard Dawkins und Ruth Gledhill wurde wiederum in den Zeitungen kommentiert. Warum nur fiel mir keine deutsche Zeitung ein, die Themen zwischen Wissenschaft und Religion solche anregenden Titelgeschichten gewidmet hätte?
Die Konferenzbeiträge
Die Beiträge vor der Konferenz waren so vielfältig wie die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen selbst – hier zum Beispiel Susan Blackmore, die die Memetik als wissenschaftliche Hypothese verteidigte und zu der schrumpfenden Fraktion gehörte, die Religiosität noch als funktionsloses By-Product (Nebenprodukt) verstehen wollte.
Zumal ich Susan’s "Macht der Meme" in meiner Doktorarbeit ("Neurotheologie") diskutiert hatte, hatten wir mehrere gute Gespräche – und einen hervorragenden Austausch nach meinem Vortrag. Obwohl die Befunde – Religiöse pflanzen sich im Durchschnitt erfolgreicher fort – sie und einige andere Anwesende durchaus beunruhigten, zeigte sie in der Akzeptanz der Daten und Fallstudien echte Größe, wie sie Antitheisten (psychologisch verständlich) wahrlich nicht immer aufbringen. Wir vereinbarten, den Austausch auf jeden Fall fort zu setzen.
Generell zeigte sich, dass die evolutionäre Religionsforschung in den verschiedensten Bereichen – von der Kognitions- und Entwicklungspsychologie über die Soziologie bis zum evolutionsbiologischen Rahmen – große Fortschritte macht und vor allem immer besser vernetzt und zusammen geführt wird, so beispielsweise durch Robert McCauly (Atlanta) und E.T. Lawson (Michigan). Konrad Talmont-Kaminski (Lublin) brachte den mit bedenkenswerten Argumenten flankierten Vorschlag ein, statt von "übernatürlich" (supernatural) eher von "überempirisch" (superempirical) zu sprechen, um religiöse und magische Überzeugungen zu charakterisieren. Wenn solche philosophischen Anregungen auch immer willkommen waren, so spielten inzwischen Experimente und Daten in den Vorträgen und Diskussionen die Hauptrolle, mit denen das Überangebot an theoretischen Modellen zunehmend gelichtet wird. So zeigten beispielsweise Ara Norenzayan (Vancouver) und Ryan McKay (Oxford) weitere Ergebnisse neuer spieltheoretischer Experimente zu Kooperation und Spendenbereitschaft zwischen religiösen und nichtreligiösen Akteuren auf, die das bestehende Bild verfeinern und vertiefen. Und Jesse Bering (Belfast) gelang es, mit neuen Experimenten zu erkunden, wie je Atheisten und Theisten Lebenssinn konstruieren (oder eben nicht). Auf sein kommendes Buch "The God Instinct" und die geplante, deutsche Übersetzung dürfen wir schon mehr als gespannt sein! Auch bauten seine Arbeiten eine starke Brücke zu Deborah Kelemen (Boston) und Bruce Hood (Bristol), die Realitätswahrnehmungen und -erzählungen von Kindern erforschen.
Klar, dass auch nach den Vorträgen bis spät in die Nacht weiter diskutiert wurde, hier ein Bild aus einer munteren Debatte mit Ara und Jesse.
Generell lässt sich sagen, dass immer mehr Wissenschaftler (an-)erkennen, dass es sich bei Religiosität um ein evolutionär erfolgreiches Merkmal – eine Exaptation oder Adaptation – handelt. Die Nebenprodukt-These befindet sich auf dem Rückzug (übrigens auch in dem neuen Buch von Pascal Boyer "The Fracture of an Illusion", das ich auf dem Flug lesen konnte und in den kommenden Wochen besprechen möchte). Mit Ausnahme von Susan’s Memetik-Vortrag gingen alle weiteren Stimmen inzwischen von einer Gen-Kultur-Evolution und also einer biokulturellen Gesamtsicht auf die (Evolutions-)Geschichte aus.
"Typisch britisch" war aber auch die gute Tradition, auch originelle Stimmen zu Wort kommen zu lassen. So nahmen viele Graduierte an der Tagung teil und es gab spannende Tischgespräche z.B. mit einem ungarisch-jüdischen Linguisten, der gerade in den Niederlanden promoviert oder einer US-amerikanischen Chemikerin, die gerne Religion in einen Science-Fiction-Roman einbauen würde. Besonders gelungen fand ich die Präsentation eines Posters durch John Jacob Lyons, der sich im Ruhestand mit der Evolutionsforschung beschäftigt.
Mein eigener Vortrag "The Reproductive Advantage of Religiosity: Religious Demography benefitting Evolutionary Fitness" wurde sehr angeregt aufgenommen, intensiv debattiert und resultierte in einigen Kontakten, Einladungen und Journal-Publikationsangeboten. Allerdings wurde hinterfragt, warum ich diese Forschung eigentlich weiter in Deutsch machen wolle und nicht mehr in Englisch veröffentliche. Hier eine Folie aus dem Vortrag (per Klick können Sie sich das Ganze anschauen).
Sicher wird es noch eine ganze Weile dauern, bis die Eindrücke, Ideen und Anregungen aus der Bristol-Konferenz verarbeitet sind. Aber es ist wundervoll zu sehen: Das Feld macht enorme Fortschritte und es ist eine unglaubliche Freude, dazu einen kleinen Teil beitragen zu dürfen.
Ein ganz großer Dank gebührt jedoch an dieser Stelle dem hervorragenden Organisationsteam um Finn Spicer, Nathalia Gjersoe, Andrew Atkinson und Samantha Barlow. Ihnen gelang es, an der Universität Bristol eine europäische Konferenz zu organisieren, an die sich die Teilnehmer aus nah und fern noch lange erinnern werden.
Klingt nach außerordentlich guten Tagen in (und für) Bristol!
Zwar habe ich meine Probleme mit Theorien, die sich auf Statistiken stützen. Statistik kann ja niemals beweiskräftig sein, sondern nur einen Hinweis geben, daß man in dieser oder jener Richtung mal schauen möge. Trotzdem kommt für mein Dafürhalten einfach zu viel Wirkmächtigkeit der Religionen in zu viel verschiedenen Richtungen zusammen, als daß man sie so einfach vom Tisch wischen könnte.
Ob ein Schwinden der etablierten Religionen (d.h. der “Normalität” von Religiosität) und ein Schwinden künstlerischer Höhenflüge zufällig gleichzeitig stattfindet oder in Abhängigkeit voneinander, kann ich nicht sagen – kann nicht einmal beweisen, daß es überhaupt stattfindet, auch wenn es zahlreiche Anzeichen dafür gibt. Vielleicht wäre auch das mal eine Untersuchung wert.
@ Claudia: Was wäre denn “beweiskräftig”?
Es tut mir leid, wenn die nachfolge Frage gleich vom eigentlichen Thema des Beitrags ablenkt, aber wo ist denn genau das Problem mit Statistik & Theorie (hier Theorien, die empirisch er/fassbare Phänomene beschreiben)? Was wre denn “beweiskräftig”?
Claudia schrieb:
@Claudia, Bernd W
Vielen Dank für die Rückmeldung! Persönlich fände auch ich ein reines Feststellen von statistischen Korrelationen (Mitglieder von Religionsgemeinschaften = höhere Kinderzahl, auch wenn für weitere Variablen kontrolliert wurde) auch unzureichend, weil ja zum Beispiel die Wirkungsrichtung noch nicht klar wäre: Es könnte ja z.B. auch einfach sein, dass sich Eltern häufiger Religionsgemeinschaften anschließen, also der Kinderreichtum zu Religiosität führt.
Allerdings sind wir natürlich längst weiter: So erkunden wir ja über die Statistik hinaus auch Fallstudien kinderreicher Gemeinschaften wie der Amischen, Hutterer, orthodoxen Juden etc., die kaum Konvertiten aufnehmen. Umgekehrt aber fanden wir trotz intensiver Suche keine einzige (!) dauerhaft kinderreiche, säkulare Gemeinschaft gefunden. Auch fügen sich die demografischen Befunde in die psychologischen und soziologischen Beobachtungen und Experimente ein, so dass sich derzeit ein Gesamtbild ergibt und durchzusetzen beginnt.
Die Idee mit der Kunst finde ich interessant. Tatsächlich sind ja viele der größten Bau- und Kunstwerke aus (auch) religiöser Motivation entstanden und konnten mitunter das Engagement von Generationen gewinnen. Andererseits aber hat auch die säkulare Moderne neue Kunstformen hervor gebracht, ich lese z.B. gerade eine Kulturgeschichte der Comics. (Wobei diese, zugegeben, ebenfalls mit Mythen arbeiten…)
Klar ist: Die Forschungsarbeit wird auch kommenden Generationen nicht ausgehen, gerade nicht in der Evolutionsforschung, die ja immer “nur” Annäherungen an eine komplexe Wirklichkeit und Vergangenheit erschließt. Umso (positiv) überraschter war ich über die intensiven, philosophischen Debatten, die die (überwiegend säkularen, teilweise religionskritischen) Teilnehmer führten. Vielen fiel es erkennbar nicht leicht, die Befunde zum evolutionären Erfolg von Religiosität zu verarbeiten, aber wie Susan Blackmore so gelungen scherzte: “I am truly distressed about your findings – but that’s what science is about.” Diese Größe fand ich schon menschlich und wissenschaftlich beeindruckend.
Bernd W. und Michael Blume: Statistische Daten alleine können deshalb niemals beweiskräftig sein, weil ein Zusammentreffen mehrerer Sachverhalte noch keine logische Verknüpfung derselben darstellt.
Beispiel: 2006 gab es überdurchschnittlich viele Erdbeben, und die Kindersterblichkeit sank laut Unicef erstmals unter 10 Mio. Hieraus schlußfolgern zu wollen, daß Erdbeben gut gegen Kindersterblichkeit sind, ist offenbar Unsinn.
Die genannten Untersuchungen zusammengenommen sind allerdings ein äußerst starkes Indiz. Aber gerade weil mir der Gedanke, Religion rettet das Fortbestehen der Menschheit, so überaus gut gefällt, bin ich ihm gegenüber mißtrauisch; es ist so einfach, zu glauben, was in den Kram paßt. Damit will ich keinesfalls die Redlichkeit derartiger Untersuchungen prinzipiell anzweifeln. Nur glaube ich, es gibt für so komplizierte Dinge wie Bevölkerungswachstum (positives wie negatives) immer mehr als einen Grund.
“Die genannten Untersuchungen” meint natürlich nicht den von mir absichtlich verzapften Blödsinn über Kindersterblichkeit und Erdbeben, sondern die sorgfältigen über Religion und Vermehrung!
Nach zehn Uhr abends kann ich mich zuweilen nicht auf Anhieb klar ausdrücken. 😉
@ Claudia: Aktuelle Forschungsmethoden der (quantitativen) Sozialwissenschaften
Um es kurz zu machen: Ich stimme natürlich völlig zu! Aber: Die aktuelle empirische Sozialforschung (inkl. Demographie) ist weit davon entfernt, es sich so einfach zu machen. Studierende der Sozialwissenschaften lernen im Grundstudium/Bachelor unter anderem die folgenden Schwierigkeiten im Rahmen quantitativer Analysen kennen: Korrelation != Kausalzusammenhang, diverse Fehlschlüsse, Selektivitätsprobleme etc. Es gibt allein in der Soziologie diverse Zeitschriften, die sich ausschließlich mit Methodenproblemen befassen. usw. usf.
Bei Kommentaren wie dem Deinen frage ich mich, welches Bild die (empirischen) Sozialwissenschaften (empirisch-quantitative Forschung i.A.) in der Öffentlichkeit haben und wie wir deutlich machen können, dass wir uns das (Forschungs-)Leben eben nicht so einfach machen.
@Claudia
Claudia schrieb: Aber gerade weil mir der Gedanke, Religion rettet das Fortbestehen der Menschheit, so überaus gut gefällt, bin ich ihm gegenüber mißtrauisch; es ist so einfach, zu glauben, was in den Kram paßt.
Nun, man kann es natürlich auch andersherum sehen: Ohne Säkularisierungsprozesse und den folgenden Rückgang der Geburtenraten würde unsere Welt in einen Alptraum aus Überbevölkerung und demografischen Konflikten taumeln (von denen es selbst jetzt schon zuviele gibt!). In gewisser Hinsicht fühlt sich das für mich an, als würden sich Religiöse und Säkulare irgendwie gegenseitig retten.
Und dann bin ich wieder froh, nicht Philosophie studiert zu haben, sondern wieder zu meinen empirischen Studien zurück kehren zu können, um zu versuchen, diese staunenswerte Welt und die Menschen darin wieder ein klein wenig besser zu verstehen. 🙂
Das Bild ist zugegebenermaßen nicht besonders günstig, vielleicht weil mit Statistik so überaus einfach betrogen werden kann und es zugleich so herrlich süffisante Sätze über sie gibt.
Was redliche Wissenschaftler dagegen machen können? Im Prinzip wohl nicht mehr als Du gerade im Verein mit Michael machst: Leuten wie mir geduldig erklären, wie empirische Wissenschaft vor sich geht und daß Ihr schon richtig gut auf Euch aufpassen könnt. Und dann einfach hoffen, daß Leute wie ich solche Erklärungen dankend annehmen und im stillen denken “Wieder ein Vorurteil abgelegt”.
Im Großen und Ganzen werden natürlich empirische Wissenschaftler es nicht einfacher haben als alle anderen Wissenschaftler – man mißtraut ihnen, weil man von irgendwoher weiß, daß es auch ziemlich Gauner unter ihnen gibt.
@Michael Blume
“In gewisser Hinsicht fühlt sich das für mich an, als würden sich Religiöse und Säkulare irgendwie gegenseitig retten.”
Den Satz nehm ich jetzt mit ins Bett, er gefällt mir so!
Praktische Ergebnisse…
Eine Konferenz mit „…vielen hochklassigen Teilnehmer der verschiedensten Nationen und Disziplinen und intensiven Gespräche, sondern auch wegen der inhaltlichen Entwicklungen.“
Wohin wird es gehen?
Welche Rolle spielen die 6000 Jahre Erde Kreationisten? Wie geht man in Zukunft mit den vielen Fakten in den Heiligen Schriften um, die durch unsere Moderne Fachwissenschaften und Technik erklärbar werden, ja nutzbar werden könnten? Wunder sind es solange, wie wir es nicht erklären können.
„Die Furcht vor dem Herrn ist eine Quelle des Lebens.” – Die Informationen für die Fachwissenschaften dürfen es nicht sein? Ob z. B. Bibel oder Buch Mormon – sie sind voll davon. Warum betrachten wir sie nicht als Hinweis, Anleitung…? Prof. Lesch sagte im Interview bei AH 5/06: „…dass die Naturgesetze, die wir kennen, überall im Universum gültig sind…“
Furcht – und was ist mit der Liebe Gottes?
„Religion rettet das Fortbestehen der Menschheit.“ Das sollte man schon differenzierter sehen! Viele Kriege wurden unter dem Deckmantel der Religion geführt – gespaltene Religion sogar gegeneinander – auch heute noch. Und die Gegner beten zum gleichen Gott! Welch Irrsinn!
Religionen wollen starke Gemeinschaften (zweideutig) – was entstehen u. a. dadurch? „Überbevölkerung und demografische Konflikte“… Im Interesse unserer Umwelt und unserer eigenen Population sollten wir das Problem der Geburtenregelung (z. B. Kondomverbot?…) ernsthaft angehen, damit wir bei den zunehmenden Wetterkatastrophen … als Menschheit eine Chance zum Überleben haben! Das lässt sich statistisch recht gut aufbereiten.
Denken wir nach: Die Erde braucht uns nicht – wir aber die Erde!
“Kude Thesen von Herrn Sarrazin” – Herr Blume, haben Sie denn sein Buch schon gelesen, daß Sie das so sagen können? Immerhin bezieht er sich darin auch auf Ihre Erkenntnisse zum Zusammenhang von Religiosität und Fruchtbarkeit.
@Hans Faber
Ja, ich habe das Buch gelesen. Und als Wissenschaftler kann man sich ja auch nicht dagegen wehren, zitiert zu werden. Wer sich also durch 300 Seiten+ quält, erfährt dann am Ende doch noch, dass eben nicht einfach “die Muslime” mehr Kinder haben, sondern dass der Zusammenhang von Religion und Demografie quer durch die Weltreligionen besteht. Leider ist das in der Öffentlichkeit bislang kaum angekommen – und ich habe nicht den Eindruck, dass dies Herrn Sarrazin besonders stört.
Und es ändert insgesamt auch nichts an der völlig verqueren Darstellung von Befunden z.B. der Intelligenzforschung, von Interview-Aussagen wie dem “Juden-Gen” ganz zu schweigen. Da kann man gerade auch aus wissenschaftlicher Perspektive nur verärgert den Kopf schütteln…
Dank und Bitte @Michael Blume
Lieber Michael,
danke, dass Sie so klar Stellung dagegen beziehen. Ich finde jedoch, es wird noch viel zu wenig Gegenwind gerade aus wissenschaftlicher Ecke geblasen. Und gerade, weil anscheinend große Teile der Bevölkerung dem volksverhetzenden Populismus des Hernn S. aufsitzen, reicht es eben nicht aus, “nur den Kopf darüber zu schütteln”. Vielmehr ist gerade die Wissenschaft aufgefordert – sofern ihre Vertreter eine gewisse Öffentlichkeit haben – Klarheit darüber zu schaffe, was Unsinn ist an diesen “Thesen”. Damit nicht nur die Politk-Clowns ihren Auftritt haben im Zirkus Sarrazini.
… Sarrazin?
@ Michael: “… der völlig verqueren Darstellung von Befunden z.B. der Intelligenzforschung, von Interview-Aussagen wie dem “Juden-Gen” ganz zu schweigen. Da kann man gerade auch aus wissenschaftlicher Perspektive nur verärgert den Kopf schütteln…”
So, so, das sehen nun aber Heiner Rindermann und Detlef Rost in der FAZ so ganz und gar anders. Von Verärgerung bei ihnen keine Spur. Wäre interessant, Michael, nachdem Du doch schon irgendwo mal auf Deinem Blog selbst sagtest, daß der IQ starke erbliche Komponenten aufweist, und mit mir diskutiertest, daß es eine Koevolution zwischen Intelligenz und monotheistischer Religiosität gegeben haben könnte, genaueres über Deine Gedanken zur Sarrazin-Lektüre zu erfahren.
Findest Du nicht, daß das Sarrazin-Buch die wissenschaftliche Debatte sehr befruchten könnte? Daß man jetzt auch einmal Forschungsergebnisse eines Philippe Rushton und anderer endlich frei, unbefangen und offen erörtern kann?
Sarrazin
Hallo Herr Blume, vielen Dank für den interessanten Bericht zur Konferenz.
Allerdings fällt darin ein Satz mit den “kruden Thesen Sarrazins”.
Ich habe einen neuen Knol mit dem Titel “Sarrazin und das ‘biologistische Menschenbild'” verfasst:
http://knol.google.com/…stische/6u2bxygsjec7/122
Darin deute ich erstmalig in schriftlicher Form an, wie ich mir die Evolution der Religionen aus Sicht der Systemischen Evolutionstheorie (also ganz Memetik-frei) vorstelle. Einen längeren Artikel habe ich zwar immer noch in der Planung, den wird es wohl aber nicht vor Mitte 2011 geben.
Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass Sarrazin sich mit Themen beschäftigt, die zu den Kernelementen der Moralsystemen von Religionen gehören, für die es in säkularen Gesellschaften (wohl aus Gründen der Tabuisierung) bislang keine Entsprechungen gibt. Und ja: Religionen waren der Motor von Hochkulturen, u.a. sicherlich auch über die Intelligenzentwicklung mittels ihrer Moralsysteme.
Gleichzeitig möchte ich bei der Gelegenheit auf meinen anderen Sarrazin-Knol aufmerksam machen: “Der Fall Thilo Sarrazin”:
http://knol.google.com/…arrazin/6u2bxygsjec7/120
Auch dort komme ich zu dem Ergebnis, dass wir es weniger mit kruden Thesen, als eher mit einem kruden Demokratieverständnis zu tun haben.
Beste Grüße
Peter Mersch
@alle
Nun hat sich auch Susan Blackmore zur Bristol-Konferenz geäußert. Und mich dabei richtig beeindruckt!
http://www.guardian.co.uk/…e-religion-virus-mind
Ich bin noch ganz baff, werde aber versuchen, die Tage zu antworten.
Susan Blackmore
@Michael Blume
Das ist nichts weniger als eine kleine Sensation. Gratuliere, offenbar waren Sie der entscheidende Auslöser.
Viele Grüße
Peter Mersch
P.S.
Man sollte sich m. E. in der evolutionären Religionsforschung nicht zu sehr auf die Zahl der Nachkommen konzentrieren. Bzgl. der Nachkommenzahl ist die getrenntgeschlechtliche Fortpflanzung dem Hermaphroditismus klar unterlegen, sie hat sich aber dennoch durchgesetzt, und zwar weil sie “eugenischer” ist als letztere: Sie ist eine qualitative, keine rein quantitative Strategie. Eugenische Strategien werden ja auch für die sog. Gen-Kultur-Koevolution benötigt.
Mein Verdacht wäre, dass einige erfolgreiche Religionen auch ausgeprägt “eugenische” Reproduktiosstrategien entworfen haben (zumindest beim Christentum scheint das der Fall zu sein) und hierdurch kulturunterstützend gewirkt haben.
Auch das könnte man untersuchen. Und auch hier würde die säkulare Norm (Frauen und Männer gegen beide arbeiten. Familienarbeit wird paritätisch aufgeteilt) vermutlich ganz klar den Kürzeren ziehen: Es werden nicht nur weniger Kinder als bei den Religiösen geboren, sondern sogar ausgeprägt umgekehrt proportional zum Bildungsniveau und zum sozialen Erfolg.
Gratulation!
Auch ich möchte gratulieren, Michael. Es ist großartig.
Großartig, dass Fronten zu bröckeln beginnen (wobei es “psychologisch verständliche” Blockierungen ja nicht nur bei “Antitheisten” gibt sondern überall, wo Wissenschaft in erkenntnisleitende Zwecke eingebunden wird) .
Es ist auch großartig, dass Du auf internationalem Parkett nicht nur in dieser Sache sondern auch sonst offensichtlich einen Durchbruch geschafft hast. (Sieht man ja auch an den Querbezügen in deinem englischen Blog). Da lässt sich manche kleinkarierte Kritik wohl leichter wegstecken.
Deshalb: Herzliche und zukunfts-optimistische Gratulation.
@Peter Mersch, H. Aichele
Vielen Dank! Ich bin auch noch ganz überwältigt von den Reaktionen, zumal auch weiterhin sehr erfreuliche Mails und Anfragen aus dem internationalen Bereich eingehen. Davon hätte ich ja nicht zu träumen gewagt…
Es scheint doch so zu sein, dass die Jahre in deutschen Forschungsbereichen, Diskussionen – und nicht zuletzt Blogs! – das Thema und die Daten so geschärft haben, dass das Ganze nun auf ein gewisses Interesse stieß. Insofern auch ein herzliches Danke an alle Begleiter & Kommentatoren!
Hermann hat ja schon auf meinen englischen Blogpost hingewiesen:
http://www.scilogs.eu/…an-blackmore-impressed-me
Wenn möglich, möchte ich die Tage aber auch einen deutschen Post dazu schalten.
Herzlichen Dank & viele Grüße!
Kleinkarierte Kritik /@ H. Aichele
» Da lässt sich manche kleinkarierte Kritik wohl leichter wegstecken. «
Ich hoffe, Sie haben, als Sie das schrieben, dabei nicht an mich gedacht ;-). Denn meine Kritik an Michael Blumes These von der evolutionären Überlegenheit religiöser Menschen ist ja wohl eher fundamental als kleinkariert.
Zur Erinnerung: Ich halte es für grundverkehrt, die evolutionäre Fitness einer Bevölkerungsgruppe anhand aktueller Nachkommenzahlen bestimmen zu wollen, zumal bei einem so unspezifischen, diffusen Merkmal wie die Religiosität. Wenn man es doch tut, erliegt man nämlich der sogenannten “soziobiologischen Täuschung” (“sociobiologal fallacy”, Buss 1991 oder 1995), die darin besteht, Menschen als Fitness-Maximierer zu betrachten. Da braucht man also noch nicht einmal die ethischen Implikationen einer Kategorisierung der Menschen nach ihrem vermeintlichen “evolutionären Erfolg” zu bemühen.
Dass es genetische Varianten gab und gibt, die den Fortpflanzungserfolg der Betroffenen minderten bzw. mindern (z.B. bei Sichelzellenanämie oder Mukoviszidose), steht außer Frage. Aber fehlender Glaube an wirkmächtige übernatürliche Agenten zählt heute sicherlich nicht zu den reproduktionsmindernden Faktoren. Da bin ich ganz bei Sarah Hrdy (es gab da mal ein Interview in der ZEIT).
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Buss DM (1991). Evolutionary personality psychology. Annu Rev Psychol. 1991;42:459-91.
Buss DM (1995). Evolutionary Psychology: A New Paradigm for Psychological Science. Psychological Inquiry 1995;6:1-30.