Jüdische Charedim & christliche Amish – Zwei sciebooks kostenfrei als pdf

Die heutige Stuttgarter Zeitung (25.05.2023, S. 7) brachte ein intensives Interview mit dem israelisch-jüdischen Historiker Hagai Tsoref (geb. 1953 in einem Kibbuz am See Genezareth), der durch Studien zur ersten Ministerpräsidentin von Israel, Golda Maier (1898 – 1978), auch internationale Bekanntheit errungen hat. Der aktuelle MP kann jedoch nicht mit seinem Lob rechnen. “Die Existenz des Staates wird von der eigenen Regierung gefährdet. […] Unsere Regierung ist dabei, eine faschistische Diktatur zu errichten.”, warnte Tsoref vielmehr. Der derzeitige MP Netanjahu “regiert zusammen mit Nationalisten und den extremen Orthodoxen. Dahinter steckt ein demografisches Problem. Orthodoxe Familien mit zwölf Kindern sind bei uns keine Seltenheit. Die säkularen Familien sind zwar größer als bei Ihnen in Deutschland, aber im Verhältnis zu den Orthodoxen hier viel, viel kleiner.”

Nach solchen Interviews erreichen mich immer wieder viele Fragen, wie hier: Was ist der Unterschied zwischen sog. Modern-Orthodoxen, die zwar religiös fromm leben, aber auch die Republik Israel und die Wissenschaft anerkennen einerseits und den sog. Ultraorthodoxen, die sich selbst als “Charedim” – Gottesfürchtige – bezeichnen? Wie sieht es um die Demografie in Israel aus? Werden auch in anderen Staaten die Religiösen wieder demografisch stärker?

Und tatsächlich arbeitete ich ja fast zwei Jahrzehnte zu Religion & Demografie als Teil der Evolutionsforschung, hier der frei verfügbare GuG-Artikel “Homo religiosus” schon von 2009.

Quer durch alle theistischen und vor allem monotheistischen Weltreligionen zieht sich ein sog. Reproduktionsvorteil. Grafik aus: Gehirn & Geist 04/2009, “Homo religiosus”

Hier finden Sie die wesentlichen Befunde auch in einem Quarks & Co.-Kurzfilm:

In den Darstellungen des Films werden Sie Angehörige unterschiedlicher Religionen, darunter auch Jüdinnen und Juden, erkennen. Denn die demografischen Effekte untersuchte ich selbstverständlich nicht nur in Europa, sondern auch in religiös vielfältigen Staaten wie den USA und Israel sowohl durch persönliche Besuche wie auch durch wissenschaftliche Literatur.

Geburtenraten jüdischer Frauen nach Frömmigkeitsrichtung in Israel von 1980 bis 2013. Oben Haredi (Ultraorthodoxe), dann “Nationalreligiöse”, Traditionell-Religiöse, Traditionelle-Nichtreligiöse und Säkulare inklusive “Andere”. Aus Weinreb, Blass, Taub 2018

Sie sehen also, wie wichtig es ist, auch hier zu differenzieren: Israelisch-säkulare Rechtsextremisten haben wenig oder keine Kinder, jüdische Haredim, die etwa den Wehrdienst für die Republik Israel ablehnen, im Durchschnitt sehr viele. Und dieser durch kulturelle Evolution gewachsene, demografische Unterschied tritt auch nicht nur im Judentum auf, sondern auch im Christentum, wo es ebenfalls extrem kinderreiche Traditionen wie die Amish und die Hutterer (USA / Kanada) oder auch die laestadianischen Lutheraner in Finnland gibt. Im ebenfalls monotheistischen Islam konnten sich vergleichbare kulturelle Evolutionsprozesse mangels längerer Phasen der Religionsfreiheit bislang nicht entfalten.

Im Zuge all dieser Religion-Demografie-Studien veröffentlichte ich auch einige erklärende Bücher, darunter vor zehn Jahren die beiden sciebooks 1. zu den christlichen Amish und 2. den jüdischen Haredim / Ultraorthodoxen. Sie wurden sowohl als eBooks wie Taschenbücher stark nachgefragt und positiv aufgenommen. Ich hoffe und vermute, dies trug zur positiven ChatGPT-Bewertung im Bezug auf jüdische Studien bei. 😉

Allerdings sind die sciebooks inzwischen eingestellt und nicht mehr im Handel erhältlich. Daher stelle ich Ihnen hiermit – wie zuvor schon “Öl- und Glaubenskriege” – die beiden sciebooks kostenfrei als pdf zur Verfügung: Klick aufs Cover reicht.

Cover: Michael Blume, “Die Haredim. Geschichte und Erfolg des ultraorthodoxen Judentums“, sciebooks 2013 

Cover: Michael Blume, “Die Amish. Ihre Geschichte, ihr Leben und ihr Erfolg“, sciebooks 2013

Selbstverständlich freue ich mich über jedes konstruktive Interesse, möchte aber auch betonen:

Wissenschaft ersetzt den Dialog nicht

Klar – besonders observante und patriarchale Gruppen sind auch für Medien besonders interessant. Aber nur ein kleiner Teil der jüdischen Menschen sind Haredim und ein noch viel kleinerer Teil der christlichen Menschen sind Old Order Amish. Wer das Judentum, das Christentum, den Islam, Hinduismus, Buddhismus, Humanismus oder sonst eine Religion bzw. Weltanschauung wirklich kennenlernen möchte, sollte daher stets den Dialog mit lebendigen, idealerweise auch gewählten bzw. beauftragten Vertreterinnen und Vertretern suchen.

Hier sehen Sie beispielsweise Professorin Barbara Traub und mich umringt von Jusos in einem Hörsaal des Kupferbau Tübingen. Wir hatten dort eine Lesung unseres gemeinsamen Dialog-Buches “Wenn nicht wir, wer dann? Ein Gespräch nach 1700 Jahren jüdischen Lebens” (Patmos 2022) – das sich schnell in ein unglaublich intensives Gespräch mit den jungen Demokratinnen und Demokraten sowie weiteren Gästen entwickelte.

Jüdisch-christlicher Dialog bei den Jusos Tübingen im Mai 2023. Foto mfG: J. Müller 

Barbara ist u.a. die gewählte Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), entstammt einer sozialdemokratischen, vom NS verfolgten Familie aus Wien und vertritt ein wissenschafts-, kunst- und dialogoffenes Judentum. Entsprechend konnten wir auf dialogisch-monistischer Basis (v.a. nach Popper & Buber) auch gemeinsam auf Themen wie die Säkularisierung, die antisemitische BDS-Bewegung und die Wasserkrise blicken. Auch wenn einige IRGW-Rabbiner der (von mir sehr geschätzten) Orthodoxen Rabbinerkonferenz in Deutschland (ORD) angehören, so lebt doch die Mehrheit der IRGW-Mitglieder nicht-orthodox und schon gar nicht haredisch.

Auch Hagai Tsoref schloss sein StZ-Interview mit der Hoffnung, dass die Demokratie in Israel 🇮🇱 an den Herausforderungen wachsen werde. „Unsere Proteste haben dazu geführt, dass die Justizreform gestoppt wurde. Wir spüren die Kraft, dass wir mehr erreichen können. Wir wollen eine öffentliche Debatte über unsere Werte, und jeden Tag werden es mehr, die das unterstützen. Es herrscht eine Atmosphäre der Hoffnung, dass wir Israel wieder zum Guten verändern können – und dann vielleicht auch die Kraft haben, um andere Probleme zu lösen, zum Beispiel das mit den Palästinensern.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für die Bereitstellung der Sciebooks, habe die drei hier verlinkten quasi verschlungen! Klitzekleines sprachliches Detail: Für mich ist die Übersetzung von “kerosene” ein wiederkehrendes “Mikroärgernis”- ähnlich wie bei “vital”. Meiner Meinung nach wäre “Petroleum” richtig, da “Kerosin” Flugbenzin bezeichnet.
    Das hat aber die Freude an der Lektüre nicht geschmälert!

    • Vielen Dank für die erfreuliche Rückmeldung zu den beiden gebloggten sciebooks, @Sebastian! Und gerne werde ich zukünftig genauer auf die Wortwurzeln von Petroleum vs. Kerosin achten! 🙂

  2. Vielen Dank für Ihren Beitrag zu Lanz/Precht, leider wird dies wohl relativ wenig an der Situation ändern, wie man aus der Reaktion des ZDF ersehen kann.

    Die vorgefassten Denkmuster bekommt man einfach nicht aus den Köpfen, wie gesehen auch nicht aus den gebildeten, ich benutze absichtlich nicht „intelligenten“

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