Josef Honerkamp – Die Entdeckung des Unvorstellbaren. Einblicke in die Physik und ihre Methoden

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Wenn Sie in der Schule Glück wie ich hatten, erinnern Sie sich bestimmt an einen leider seltenen Typus eines Lehrers: Der von seinem Fach zutiefst begeistert und nicht zuletzt deswegen Lehrer geworden war. Der Unterricht bei solchen war nie leicht, weil ihnen in ihrer Begeisterung einfach schien, woran andere – und manchmal eben leider auch "wir", zumindest ich – (ver-)zweifelten. Den weniger und mittelmäßig Begabten des jeweiligen Faches galt freundliches Mitleid, aber für die wenigen Guten lohnte sich doch auch jede Anstrengung – denn nur so meinte jener Lehrer die Fackel des Wissens weitergeben zu können. Und ob je nach Eignung und Neigung im Guten oder Schlechten – der Unterricht bei solchen Lehrern hinterließ einen Eindruck und eine Ahnung von der Begeisterung, die (jede) Wissenschaft entfachen kann.

An genau diesen leider seltenen Typ Lehrer musste ich immer wieder denken, als ich Josef Honerkamp’s "Die Entdeckung des Unvorstellbaren – Einblicke in die Physik und ihre Methode" las. Auf den emeritierten Professor für Theoretische Physik der Universität Freiburg traf ich durch seinen (m.E. hervorragenden) Nachbarblog "Die Natur der Naturwissenschaft" und hier besonders über seinen starken Blogpost zur "Emergenz". Also bestellte ich mir sein Buch beim Science-Shop – und wurde nicht enttäuscht.

Nach dem Vorbild von Leonard Euler, der 1769 ein Buch unter dem Namen "Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie" verfaßt, richtet sich Honerkamp an die Abiturientin Caroline (nach einer Enkelin). Vom Niveau her sollte sie (die Leserin, der Leser) jedoch Mathe oder Physik als Leistungskurs belegt oder in einem anderen Fach studiert haben. Honerkamp bemüht sich um eine verständliche Sprache, ist jedoch allzu sparsam mit Abbildungen und manchmal reißt ihn die Begeisterung auch zu Denksprüngen und Sätzen mit, die von Nicht-Physikern mehrfaches Lesen erfordern. Auch vertritt der Autor ein sehr eindeutiges Geschichtsbild und sagt das auch. So "beginnt" für ihn die Geschichte der modernen Wissenschaft als "Entdeckung der Natur der Natur" erst mit Galileo Galilei (S. 15). Wer da auf die Leistungen etwa der vorschriftlichen Sterndeuter-Kulturen, der griechisch-römischen Antike, der lateinischen Schrift, indischen Null oder arabischen Ziffern verweisen wollte, bekommt eine deutliche Ansage:

Auch vor Galilei hatten schon einige Denker ähnliche Gedanken geäußert, wie z.B. der arabische Philosoph Avicenna um etwa 1000 n.Chr. Er behauptete, dass ein Pfeil nur durch das Medium in seinem Flug behindert wird, dass er aber ohne das Medium nie zum Stillstand käme. Irgendwelche Vorläufer gibt es bei fast allen Erkenntnissen, entscheidend ist, in welchem Kontext die Idee erscheint und welche Bedeutung sie damit gewinnt."

Der Physiker auf der Suche nach dem "geistigen Band"

Denn hier – in der Aufdeckung von zunächst "unvorstellbaren" Kontexten und Bedeutungen – hat die spezifische Begeisterung Honerkamps ihre Begründung: Er beschreibt den wissenschaftlichen Fortschritt in Physik als das Flechten eines "geistigen Bandes", in dem Beobachtungen und Experimente zu mathematischen Hypothesen führen, selbst wenn diese etablierten Vorstellungen und Begriffen zunächst zu widersprechen scheinen – so bei Newtons Entdeckung der "Fernwirkung" von Gravitationskraft oder den zunächst paradox erscheinenden Eigenschaften von Quanten. Seine Bewunderung gilt jenen Männern des Abendlandes, die diese Schritte während der letzten Jahrhunderte wieder und wieder wagten sowie der Eleganz der von ihnen entdeckten Geheimnisse. Oft dauere es Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, bis sich deren Hypothesen als richtig erwiesen und durch neue, "tiefere" Entdeckungen und Begriffe geklärt würden. Auch die Relativitästheorie und die Quantenphysik seien nur Etappen auf diesem Weg, der aber so und nicht anders zu gehen sei.

Erkenntnistheoretisch bezieht sich Honerkamp dabei einerseits auf die Evolutionstheorie, wonach die Sinne des Menschen auf dessen Lebenswelt (Mesokosmos) hin evolviert seien, die auf die Mikro- und Makrowelt (z.B. Quanten, Schwarze Löcher) nicht einfach anzuwenden sei. Hier biete, andererseits, nur die Mathematik "einen Schlüssel, der ihnen auch die anderen Welten aufschließt."

Wenn wir also nun in die Welt der kleinsten und größten Dimensionen eindringen können, und zwar mithilfe einer mathematischen Theorie, können wir uns bei der Erweiterung unserer Vorstellungen und Bilder eigentlich nur von der Theorie, geprüft durch das Experiment und formuliert in der mathematischen Sprache, leiten lassen, und wir müssen damit rechnen, dass wir "Unvorstellbares" vorfinden." (S. 367/368)

Von Anfang an räumt er aber auch ein, dass in "Chemie, Biologie oder gar Medizin" doch "wesentlich speziellere und komplexere Prozesse" studiert würden (S. 15). Und läßt dabei durchaus offen, ob "eine Mathematisierung einer Wissenschaft aber auch immer zur Entdeckung fundamentaler Mechanismen und Gesetze führt". Möglicherweise sei die "Sprache der Mathematik" dafür "notwendig, aber vielleicht nicht hinreichend." (S. 16) Und doch gelte – mindestens in der Physik – die klare Richtung:

Reines Spekulieren überschätzt maßlos die Fähigkeiten und die Fantasie des Menschen. Erst die mathematische Beschreibung, die Argumentation auf dieser Ebene und die Prüfung durch das Experiment führen uns zu verlässlichem Wissen über die Natur." (S. 368)

Kein physikalischer Reduktionismus

Josef Honerkamp will die Welt durch die Reduktion auf wissenschaftliche Beschreibungen verstehen und erkennt doch an, dass sie sich selbst in immer neue und immer komplexere Strukturen entfaltet. Beim Lesen seines Buches fiel mir immer wieder ein Zitat ein, das dem berühmten Physiker und Chemiker Ernest Rutherford (1871 – 1937, 1908 Nobelpreis für Chemie, ab 1931 Baron of Nelson) zugeschrieben wird: "Wissenschaft ist entweder Physik oder Briefmarkensammeln."

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in den Kultur- und Geisteswissenschaften empfinden bei diesem Satz bzw. dieser Betrachtungsweise spontane Empörung und fühlen sich in der Würdigung ihrer Fächer und deren erforschter Eigengesetze bedroht. Doch ich meine, diese Sichtweise lässt sich auch ganz anders lesen: Als Staunen darüber, dass eine bestimmte wissenschaftliche Methode – und nahezu nur diese – im fundamentalen Bereich von Materie funktioniert, die späteren Phänomene der Naturgeschichte – das Leben, die Musik, die Religion etc. – aber nicht umfassend zu erklären vermag. Aus Quanten werden Briefmarken mit je einzigartiger Geschichte, Bedeutung, Symbolik etc., die aus fundamentalen Bausteinen bestehen mag, die ein Physiker aber alleine dennoch nicht zu entschlüsseln vermag. Aus der Physik und Chemie eines Kunstwerkes ergeben sich dessen Aussage(n) noch lange nicht.

Wer "Die Entdeckung des Unvorstellbaren" entsprechend neugierig und offen liest, erhält also nicht nur eine profunde Einführung in die neuere Geschichte der abendländischen Physik. Sondern auch Stoff zum Staunen und Nachdenken. Und dass er selbst ein Physiker mit Leib "und" Seele ist und durchaus Gefühle der Ehrfurcht (Spiritualität?) zu schätzen vermag, läßt Josef Honerkamp in seinem Finale anklingen:

Als Werner Heisenberg als 23-jähriger Privatdozent der Universität Göttingen während seiner Arbeit an der Quantenmechanik auf die Insel Helgoland geflohen war, um Linderung für seinen Heuschnupfen zu erhalten, hatte er eines Nachts eine Idee, die ihn entscheidend bei seinen Überlegungen weiterbringen sollte. Er setzte sich sofort hin und rechnete aus, was aus dieser Idee folgen würde – und, wie er später Carl Friedrich von Weizsächer berichtete: "…es stimmte. Da bin ich auf den Felsen gestiegen und habe den Sonnenaufgang gesehen und war glücklich". Nun ist es nur wenigen Menschen vergönnt, so wesentlich an großen Erkenntnissen mitwirken zu können. Aber empfindet man nicht auch Glück, wenn man daran ein wenig teilhaben kann, und ist es nicht überhaupt ein Glück, wenn man erkennen kann, dass man ein Teil einer solchen großartigen Welt ist? …"

Von Religionswissenschaftler zu Physiker dazu einfach ein: Ja, dem stimme ich zu. Und ein "Danke!" für dieses überaus anregende Buch!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

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