Islam in der Krise – Die Reaktion von Musliminnen und Muslimen auf das Buch und die Unterscheidung von religiösem und staatlichem Mitgliedschaftsrecht

“Bist Du sicher, dass Du ein Buch zur Krise des Islams veröffentlichen willst? Du weißt doch, viele Muslime haben es nie gelernt, über ihre eigene Religion zu reflektieren! Die werden denken, Du greifst ihren Glauben an!” – Solche und ähnliche Bedenken habe ich während des Schreibens und vor Veröffentlichung von “Islam in der Krise” (Patmos 2017) sehr oft gehört. Ein geschätzter Freund bat mich sogar, ihn keinesfalls in den Danksagungen zu erwähnen, man wisse ja nie…

Nun ist das Buch erschienen, die zweite Auflage im Druck. Und, ja, es gab erwartbar eine kleine Zahl von Muslimen, die reflexhaft annahmen, es handele sich um eine “Diffamierung des Islam”, denn dieser könne ja – im Gegensatz etwa zu Christentum und Hinduismus – gar nicht in eine “Krise” geraten. Praktisch niemand dieser – wenigen – Empörten hatte das Buch überhaupt gelesen.

Unglaublich, dass man Bücher vor der Empörung erst mal lesen sollte!
Tweets vom 28.8.2017, Screenshot: Michael Blume

Doch diesen wenigen Negativerfahrungen standen spontanes Interesse und unzählige positive Rückmeldungen von Musliminnen und Muslimen gegenüber. Aus den Instituten islamischer Theologie und Religionspädagogik kamen ebenso spontane Anfragen und Empfehlungen wie auch die Einladung eines deutsch-bosnischen Moscheeverbandes für einen Fachvortrag vor Imamen und Moscheevorständen. Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, verlinkte und würdigte auf Facebook meinen Gastbeitrag zur Anzahl der Muslime in der HuffingtonPost und die religiös gemischte Redaktion von Qantara.de übernahm nicht nur ein Interview bei der Deutschen Welle ins eigene Online-Angebot, sondern übersetzte dieses auch ins Arabische. Inzwischen hat sich sogar ein erster, arabischer Verlag wegen einer möglichen Lizenzausgabe gemeldet, ein religiös aktiver Deutschtürke bot die Übersetzung ins Türkische an usw. Auch auf Facebook und Twitter äußern Muslime öffentlich ihr Interesse und bringen sich – mit oft echtem Interesse am Lesen – in die Debatten ein.

Auch per Twitter bekunden Muslime ihr Interesse. Screenshot: Michael Blume

Positives Interesse nur auf den ersten Blick überraschend…

Natürlich freue ich mich über das so rege und positive Interesse und nehme mir auch gerne dafür Zeit. Ehrlich gesagt hatte ich aber auch darauf zu hoffen gewagt. Denn tatsächlich stehen gerade auch Muslime und Ex-Muslime – wie im Buch beschrieben – in ihrem Alltag doch sehr viel häufiger vor den schwierigen Fragen der “Krise des Islams”. Viele sind täglich mit der nachlassenden Praxis der jüngeren Generationen konfrontiert, ringen mit eigenen Glaubenszweifeln und suchen nach Erklärungen für den Niedergang der einstigen Hochkultur jenseits absurder und verbrauchter Verschwörungsmythen. Viele suchten und suchen geradezu nach vertrauenswürdigen Personen, um endlich mal offen darüber sprechen, sich austauschen zu können. Gerade weil sie häufiger “in” den Gemeinden verwurzelt sind, erkennen sie die Probleme, ja Zerfallserscheinungen besser als all diejenigen, die eine Frau ohne Kopftuch gleich gar nicht mehr als Muslimin wahrnehmen (wollen). Selbst in autoritären Theokratien wie dem Iran lassen sich mediale Debatten über einen “Tsunami des Atheismus” bis 2013 zurückverfolgen!

Die Beoachtungen zu einer “Krise des Islams” sind daher auch für sehr viele, wenn nicht gar die meisten Musliminnen und Muslime unmittelbar zugänglich. Allerdings gab und gibt es eine Verständnisfrage, die mir besonders oft – aber nicht nur – von Muslimen gestellt wurde und die ich hier daher einmal gerne aufgreifen möchte.

Warum ist die Unterscheidung religiöser und staatlicher Mitgliedschaftsfragen so wichtig?

Nicht nur im Buch, sondern auch in einigen Interviews und dem HuffPost-Gastbeitrag habe ich wiederholt darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland und Europa einen schweren, statistischen Fehler begehen: Während wir als Christen und Juden zu Recht nur Mitglieder der Religionsgemeinschaften als solche erfassen, leiten wir die islamische Religionszugehörigkeit aus der ethnischen Herkunft ab.

Würden wir bei Christen ebenso verfahren, so wären auf einen Schlag wieder über 90% der Sachsen “christlich” – denn sie stammen von christlichen Vorfahren ab und begehen jährlich Weihnachten! Und viele von ihnen bekennen sich auch zum “christlichen Abendland”, ohne je zu beten. Tatsächlich erfassen wir jedoch nur die Mitglieder der Kirchen in Sachsen (23%) und vergleichen also mitgliedschaftliche Äpfel mit ethnisierten Birnen.

Manche Muslime und auch einige Nichtmuslime wenden dagegen ein, “im Islam sei das eben so” – man werde durch Geburt oder Übertritt islamisch und bleibe dies mindestens solange, wie man sich selbst so verstehe oder “innerlich” das Glaubensbekenntnis bejahe.

Doch das ist hier nicht der Punkt: Auch Jüdin, Hindu oder Yezide wird man durch Geburt – und es sind weder bestimmte Rituale, noch bestimmte Glaubensbekenntnisse oder Gebet notwendig, um dies zu bleiben. Und auch eine christliche Taufe wird durch einen Austritt aus der Kirche nicht ungültig – und es mag Nichtchristen inner- und Christen außerhalb der Kirchen geben.

All dies geht nur den Staat überhaupt nichts an – und wir würden uns zu Recht empören, wenn eine staatliche Behörde wie die BAMF auf wissenschaftlicher Basis Berechnungen zur Zahl der “eigentlichen” Juden, Hindus oder “Weihnachtschristen” anstellen und darüber entscheiden würde, ob sog. “Vaterjuden”, Konvertiten oder Adventskranzbesitzer zu den Gläubigen zu zählen und beispielsweise zum staatlich eingerichteten Religionsunterricht anzumelden seien. Bei allen Religionen – derzeit: außer dem Islam – legt der freiheitliche Staat zu Recht nur die freiwillige (und ab der Religionsmündigkeit von 14 Jahren auch jederzeit auflösbare) Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften seiner Politik zugrunde. Der aus der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ins Grundgesetz übernommene Artikel 136 schreibt sogar ausdrücklich:

(3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.

Natürlich können und sollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über das enge Mandat der Behörden hinaus alles vergleichend erforschen und beispielsweise persönliche Glaubensbekenntnisse, Gebetshäufigkeiten, Gottesdienstbesuche und Opfergaben beobachten und verzeichnen. Es ist nur zutiefst unseriös und auch politisch schädlich, diese so unterschiedlichen Datensätze dann zusammenzurühren. So wird beispielsweise die Säkularisierung unter Christen und Juden durch jeden (auch beitragssparenden) Austritt und jede nicht erfolgte Taufe statistisch sichtbar – wogegen selbst Muslime, die in ihrem ganzen Leben nie eine Moschee von innen gesehen und nie einen Beitrag entrichtet haben, weiterhin als “Muslime” gezählt werden. Unsere bisherigen, verzerrten Statistiken täuschen eine “Islamisierung” vor, die sich bei der eigentlich gebotenen Beschränkung auf die realen Mitgliedschaften im Vergleich schnell als Chimäre entpuppen würde.

Ich möchte mit einem Beispiel schließen, dass die Absurdität der Vermischung religiöser und staatlicher Rechtsnormen verdeutlichen soll. Stellen wir uns das Argument einer katholischen Institution vor, die verkünden würde, unter katholischen Christen gebe es ja Gott sei Dank fast keine Scheidungen – denn die katholische Kirche erkenne diese kirchenrechtlich schlicht nicht an. Entsprechend könne es ja sein, dass ein paar Katholiken vor weltlichen Instanzen “sündigten”, aber “eigentlich” seien sie ja gar nicht wirklich geschieden. Nur die Nichtkatholiken hätten Eheprobleme!

Eine solche Argumentation würden wir unmittelbar als lächerlich erkennen, weil sie die religiöse Innensicht (das kirchlich gespendete Sakrament der Ehe sei unauflöslich) mit der empirischen Realität (auch katholische Ehen scheitern und werden vor weltlichen Instanzen geschieden) verwechseln. Bei Muslimen – und nur Muslimen – übersehen wir diese Vermischung religiösen und staatlichen Mitgliedschaftsrechts dagegen noch und geben damit sowohl staatlichen Behörden wie auch islamischen Funktionären mehr Definitionsmacht, als dies unsere Verfassung vorsieht.

Wir machen aber auch vielen sog. “liberalen” Muslimen die falsche Hoffnung, es könnte ein “deutscher Staatsislam” entstehen, dessen Inhalte, Mitgliedschaften und Personalien der deutsche Staat “von oben herab” bestimme und durchfinanziere. Dieses Denken widerspricht nicht nur zutiefst unserer Verfassungsordnung; es macht auch die derzeitige, organisatorische Schwäche und Krise des Islams in Europa (und darüber hinaus) deutlich. Denn ehrlicher wäre die Ansage, dass sich aus rein privaten und religionsgemeinschaftlich unorganisierten Glaubensüberzeugungen auf Dauer keine Rechtsansprüche etwa für theologische Institute oder Religionsunterricht im Sinne des GG herleiten lassen. Wenn Muslime dies und weiteres erreichen oder sichern wollen, dann werden sie sich organisieren müssen wie alle anderen Religionsgemeinschaften auch. Die Ahmaddiya haben dies ebenso bereits erreicht wie der Hindu-Tempel von Hamm (seit 1.3.2017 Körperschaft des öffentlichen Rechts). Auch hier wäre im Verhältnis von Behörden und Muslimen mehr Klarheit und Ehrlichkeit geboten.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

13 Kommentare

    • Vielen Dank, @donald mueller! Gerne will ich auch weiterhin versuchen, diesen Blog auch für den Dialog mit Leserinnen und Lesern zu nutzen. Wenn sich aus Ihrer Sicht also eine thematische Frage ergibt, zögern Sie bitte nicht! 🤓👍

      • Vielen Dank @Michael Blume für Ihre freundliche Reaktion!
        Schon Karl Popper widerfuhr die nachgeschoben erscheinende Unterstellung, dieser habe es mit Oswald Spengler gehalten haben sollen.
        Ihren Hinweis auf “zwei halbe” Modernen habe ich durchaus auch vor dem Hintergrund von Bassam Tibi Lektüren gelesen.
        Natürlich denkt man angesichts der jüngeren Entwicklungen nicht nur hierzulande an so etwas wie einen “Clash” of Cultures: dies umso mehr, als kaum jemand bereit wirkt oder, anders gesagt, imstande wirken möchte, diesen und anderen Irrtümern in der Moderne mit für alle Beteiligte nachvollziehbaren diskursiven Mitteln zu begegnen.
        Dabei ist “die” Moderne ja durchaus auch als Kind mehrerer (als “lediglich” zweier) “Modernen” lesbar.
        Mich will der Eindruck nicht ganz verlassen, dass man sich vielerorts immer noch nicht bereit finden möchte – lesen zu lernen und zu verstehen.
        Und das in einem Land, in dem Dichten und Denken “mal nach Auschwitz” “entsorgt” wurde und in dem aus “kultureller Differenz” systematisch ein “kultureller Dissenz” destilliert wird.
        Angesichts eines gegenwärtig zusehends schwammiger geratenden Bildungsbegriffs macht das Diskurse in der Moderne nicht eben einfacher – selbst wenn man bedenkt, wie hierzulande mit Kriegsfolgen nach dem II. Weltkrieg umgegangen wurde.

        Ihre Arbeit ermutigt: hinzusehen und nicht wegzusehen von der eigenen Verantwortung.

        Ich bleibe besorgt und gespannt.

        Ihr Donald Mueller

  1. Natürlich ist das Ziel von Westen.Wie schwäche ich den Islam? In dem man die Sekten wie Ahmediyya-Bewegung fördert.Der Westen wollte dass das Khalifat abgelöst wird(wurde durch betrunkener Atatürk auf Befehl des Westen abgeschafft.Die Muslime sollten sich nie wieder als eine Einheit gegen den Westen erheben..Unter Kemalismus wurde ein Krieg gegen den Islam ausgeführt.Nachfolger Atatürk-Inönübekämpfte den Islam wie sein Vorgänger.1950 verlor er die Wahl.Menderes kam an die Macht und gab dem Islam bestimmte Werte zürück..Mit Özal wurde der Islam stärker.Seit Erdogan ist der Islam an der Spitze..Der Westen spricht von Islamisten(existiert nicht)und von Islamisierung des Landes.Ein Land dessen Bevölkerung aus 98-99%aus Muslimen besteht.Lachhaft solche Behauptung.Jetzt spricht der Westen von Radikalisierung.Einzelne Personen,.Islam war nie radikal.Sonst würde mehr als die Hälfte Europa türkisch sprechen und muslimisch.Die Kirche erlaubt doch nicht dass der Islam gleiche Rechte bekommt wie sie.Denn die Aufgabe der Kirche ist,wie schaffen wir den Islam ab.Die Ideologie der Westen bisher:Teile und verwalte.Iran muckt-Türkei muckst-Pakistan muckt.Zum Ersten mal
    in der Geschichte hat ein muslimisches Land sich gegen Israel somit gegen den Westen gestellt.Eure Lügen-euer imperialistischen Vorhaben,unter Deckmantel DIALOG einen europäischen Islam herbeizuschaffen.Wie kennen die Tricks ,die gehören in die Vergangenheit.Muslime der Welt vereinigt euch gegen Lügen-Imperialismus-Unterdrückung.

    • Lieber Herr Tayyar,

      vielen Dank, dass Sie die Thesen des Buches bestätigen – vor allem die Gefahr von Verschwörungsglauben. Letztlich glauben Verschwörungsgläubige gar nicht mehr an die Allmacht eines guten Gottes, sondern in Wirklichkeit daran, dass diese Welt von finsteren, bösen Superverschwörern bestimmt werde. Und das ist nicht nur religiös problematisch, sondern auch wissenschaftlich falsch.

      Gerne würde ich Sie ermutigen, das Buch “Islam in der Krise” zu lesen – und festzustellen, dass ich darin weder Gott noch den Propheten, weder den Quran noch die Religion(en) herabwürdige. Ich zeige die Probleme auf und biete wissenschaftliche Erklärungen an! Allerdings weiß ich nicht, ob Sie überhaupt eine Chance haben, an das Buch zu gelangen – in der Türkei selbst ist ja inzwischen sogar Wikipedia gesperrt.

      Dennoch erlaube ich mir, Ihnen einige wenige Denkanstöße in Form von Fragen zu geben:

      1. Wenn es im Islam angeblich keine Gewalt und keinen Extremismus gibt – warum wurde dann zum Beispiel schon der vierte Kalif Ali ibn-Taliv von einem charidschitischen Muslim ermordet? Warum zerfiel der Islam in Sunniten und Schiiten, die sich seitdem und bis heute auch blutig bekämpfen?

      2. Der Islam war doch Jahrhundertelang auch wissenschaflich führend. Wie konnte er diese Vorrangstellung verlieren? Im Buch vertrete ich die These, dass das Verbot des Buchdrucks durch Sultan Bayazid II. um 1485 und seinen Sohn – den späteren Kalifen – Salim die islamische Welt stabilisierte, aber auch erstarren ließ. Um 1800 konnten bereits die Hälfte der Deutschen lesen und schreiben, auch 20% der Portugiesen – aber weniger als 5% der Osmanen. Auch zum Beispiel das Zeitungs- und Universitätswesen entwickelte sich in der islamischen Welt sehr viel später als in Europa und den USA. Heute entwickelt alleine Israel mit kaum 8 Millionen Einwohner pro Jahr mehr als doppelt soviele Patente wie über 300 Millionen arabischsprachiger Muslime! Nicht, weil Muslime keine Wissenschaften beherrschen, sondern weil sie den Anschluss verloren haben!

      3. Das Osmanische Reich breitete sich nicht friedlich aus, sondern durch Eroberungskriege bis vor Wien. Zu seinen Truppen gehörten die Janitscharen, zwangsgepresste Kindersklaven. Und doch war das Osmanische Reich damals auch in seiner Rechtsstaatlichkeit Europa weit überlegen. Ebenjener Sultan Bayazid II. freute sich darüber, die vertriebenen Juden aus Spanien aufzunehmen! Und heute? Heute fliehen wieder Abertausende Akademiker aus der Türkei nach Europa. Sind Sie sicher, dass alles gut und “spitze” ist?

      Mir ist klar, dass es für viele Musliminnen und Muslime sehr schwer ist, sich den Höhen und auch Tiefen der Geschichte zu stellen. Verschwörungsglauben ist viel einfacher. Doch im Koran, Sure 13:11 heißt es eben auch: “Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.”

      Ihnen alles Gute – vor allem den Mut zu den Wissenschaften! 🙂

  2. Sehr geehrter Herr Dr. Blume,
    Sie haben m. E. den geistigen Niedergang des Islam zu stark auf die Nichteinführung des Buchdrucks fixiert. Dieser Niedergang beginnt früher:
    So ist Al Ghazalis religiöser Einfluss eines der Grundübel des Islam. Mit ihm (um 1100) beginnt der geistige Stillstand der islamischen Welt bis heute.
    Sein literarisches Hauptwerk ist die “Nichtigkeit der Philosophie”, in der er Ratio, Logik und Erkenntnis eine Absage erteilt, und nur die wörtliche Auslegung des Koran zulässt. (Als Beispiel führt er an, dass die Blätter nicht automatisch vom Baum fielen, sondern jedes Blatt auf einen ausdrücklichen Befehl Allahs.)
    Ibn Rushd (Averroes) beschuldigte Ghazali nicht nur die Philosophie zu zerstören, sondern auch den Islam. Dies bezahlte er mit Verbannung und Schreibverbot. Ghazali setzte ein totales Verbot der Philosophie durch und verhalf der bis dato finstersten Spielart des Islam (Hanbalismus) zum Durchbruch, die bis heute dominierend ist.
    Ghazali ist der erste prominente Hassprediger der islamischen Welt. Wieso er ausserhalb der Islamistenzirkel überhaupt bekannt ist, hat nur eine Erklärung: Eines der Bücher Avicennas (“Das Buch des Wissens”) gelangte im 15.Jh. mit dem Namen Ghazali versehen nach Europa und sorgte für zahlreiche Missverständnisse.
    Ghazali ist weder Philosoph (das hätte er selber entrüstet von sich gewisen), noch Sufi als der er bisweilen ignoranterweise bezeichnet wird.

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar, Herr Schumann!

      Tatsächlich sehe ich das Verbot des Buchdrucks nicht isoliert von der islamischen Theologie und den Machtverhältnissen der Zeit. Selbstverständlich finden wir im 12. Jahrhundert auch unter christlichen und jüdischen Gelehrten „Hasspredigten“, nicht zuletzt „christliche“ Aufrufe zu Kreuzzügen und den antijüdischen Pogromen, die die alten, jüdischen Zentren des heutigen Deutschlands zerstörten.

      M.E. war es gerade auch der militärische Erfolg und die zentralisierte Macht der Osmanen, die traditionalistische Positionen buchstäblich „hoffähig“ machten und Sultan Bayazid II. sowie seinen Sohn Kalif Selim den Buchdruck verbieten ließen. Christliche und vor allem jüdische Traditionalisten konnten keine überregional vergleichbare Macht entfalten.

      Gerade für zentralistisch geführte Imperien gilt: „Hochmut kommt vor dem Fall.“

  3. Sehr geehrter Herr Dr. Blume,
    danke für Ihre Antwort auf meinen Kommentar.
    – Leider bestimmt neben den gottgegebenen Scharia-Regeln “Das Buch der Ehe” von Al-Ghazali (um 1100) immer noch das Leben vieler muslimischer Familien.
    Denken Sie, dass sich das nicht nur in säkularisierten Familien ändern könnte?

    • Selbstverständlich, lieber Herr Schumann. Die meisten Musliminnen wissen von Al-Ghazali ebensoviel oder -wenig wie die meisten Christen von Thomas von Aquin. Die Familienmodelle unterscheiden sich massiv und quer durch die islamische Welt gibt es auch einen massiven Geburteneinbruch. Der Verlust an religiös-theologischem Wissen wie auch die Säkularisierung spalten die islamische Welt in einen „stillen Rückzug“ einerseits und die Radikalisierung einer Minderheit andererseits. Wer da noch islamisch-theologisch bei Al-Ghazali normative Antworten sucht, ist eher Teil des Problems, d.h. der Krise…

  4. Lieber Herr Dr. Blume,
    vielen Dank für Ihre Abtwort auf meinen Kommentar!
    Ihr Buch hat mir neue Einsichten vermittelt.
    Leider habe ich Ihre Auseinandersetzung z. B. mit der Scharia und der Menschenrechtsfrage vermisst.
    Wollten Sie dieses Thema, was u. a. die Unvereinbarkeit des Islam mit westlichen Gesellschaftsordnungen begründet, ausklammern, damit jene Leser Ihres Buches, die an eine Integration von gläubigen Muslimen glauben, nicht alle Hoffnung verlieren – oder dachten Sie, dass andere Autoren das Thema schon genug abgehandelt haben.
    Auch denke ich, dass zum Beispiel die deprimierenden Ergebnisse der Untersuchungen Koopmans in diesem Zusammenhang eine Erwähnung verdient gehabt hätten.
    – Was Ihre Kritik des Sarrazinischen Quellenselektionismus anbelangt, wäre zu fragen, welche Populationsgröße die beiden weggelassenen patriarchalischen Gemeinschaften im Vergleich mit den anderen überhaupt haben.
    Mit freundlichem Gruß
    Heinz Schumann

    • Lieber Herr Schumann,

      vielen Dank für Ihre freundliche Rückmeldung!

      Als Religionswissenschaftler kann ich Ihnen gleichwohl den Hinweis nicht ersparen, dass pauschale Aussagen über „die Scharia“ genau so wenig möglich sind wie über „die Halacha“ oder „das kirchliche Recht“. Religiöses Recht ist immer ein Ergebnis von Auslegungen, das am Zentrum für islamische Theologie in Münster bereits jetzt anders ausfällt als an der Al-Azhar in Kairo. Dass sich letztere inzwischen auch offiziell bei ersterer erkundigt hat, empfinde ich als sehr ermutigend – wenn auch die Wegstrecken auch riesig sind. Und wiederum: Katholischerseits brauchte es auch erst das II. Vatikanische Konzil in den 1960ern bis zur (fast) vollen Anerkennung der Menschenrechte.

      Befragungsstudien, in denen durchschnittlich formal niedrigere Bildung der Befragten mit Suggestivfragen und einer hohen Zahl von Antwortverweigerern kombiniert werden sollten m.E. nicht isoliert von anderen Befunden betrachtet werden.

      Ein Positivbeispiel für eine empirische Ergänzung finden Sie zum Beispiel hier:
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/immer-mehr-musliminnen-legen-und-lehnen-das-kopftuch-ab-die-sache-mit-dem-sehen-und-den-erwartungen/

      Mit Dank für Ihr Interesse und herzlichen Grüßen!

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