In den USA führen nun erstmals Konfessionsfreie – Neue Daten zu Säkularisierung und Polarisierung bestätigen den Trend

Bereits 2010 bloggte ich über die beschleunigte Säkularisierung auch in den USA einerseits und den fortwirkenden Kinderreichtum der Religiösen in den Staaten andererseits. Nun veröffentlichte Ryan Burge (Eastern Illinois University) neue Daten der GSS-Surveys – die zum ersten Mal die Gruppe der Konfessionsfreien (“No Religion”, häufig: “Nones”) als größte US-Gruppe aufweisen.

Auswertung der GSS-Surveys in den USA von 1972 bis 2018 nach Religionszugehörigkeit. Grafik: Ryan Burge, mit freundlicher Genehmigung

Auffällig ist dabei das Eintreten der – auch von Eric Kaufman bereits vor über 9 Jahren beobachteten – Gleichzeitigkeit von Säkularisierung & religiös-demografischer Polarisierung: Es bricht – vor allem aufgrund von Digitalisierung und höherer, existentieller Sicherheit – die religiöse Mitte (hier: “Mainline Protestant”) ein. Dagegen schaffen es andere Konfessionen wie die evangelikalen Protestanten durch Kinderreichtum und Missionsarbeit sowie durch Migration, hier v.a. die katholischen Christen und “anderen Religionen”, ihre Bevölkerungsanteile noch zu verteidigen.

Das demografische Potential von Religiosität. Grafik aus: Michael Blume, “Homo religiosus”, Gehirn & Geist 2009 (Download hier)

Wie in anderen Nationen auch verzeichneten die Nichtreligiösen (genauer eigentlich nur: die keiner Religionsgemeinschaft Angehörenden) in den USA deutlich weniger Kinder als die Mitglieder fast aller Religionsgemeinschaften. Und wenn auch jetzt noch keine Detaildaten zu jüngster Zeit vorliegen, so weisen auch die USA passend zum Säkularisierungsschub bereits auf europäisches Niveau sinkende Geburtenraten auf.

Und selbstverständlich lassen sich solche Entwicklungen aus Säkularisierung und auch demografischer Polarisierung auch im Judentum (massiv in Israel) und im Islam (Türkei, Iran, Pakistan usw.) sehen. Das Religion-Demografie-Interview von 2014 könnte ich noch wörtlich wieder halten. 😉

Ob ich mich Forschungen im Bereich der Religionsdemografie noch einmal gesondert zuwende, habe ich noch nicht entschieden. Für den Moment beobachte ich einfach fasziniert das Eintreffen der Prognosen. Und kann wieder nur allen empfehlen, sich besser schon “jetzt” Wissen über Religiosität und Religionen anzueignen, da religiöse Vielfalt, aber auch Konflikte zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sicher zu unserer Zukunft gehören werden. Ob es unseren Staaten, Gesellschaften, Religionsgemeinschaften gelingen wird, ihre jeweilige und gemeinsame Mitte zusammen zu halten?

Religionswissenschaft in Form von Hörbüchern (Audiobooks, CDs), eBooks und klassischen Büchern. Foto: Michael Blume

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

25 Kommentare

  1. Auffällig an dieser Statistik sind nur die Mainline und die No Religious.
    Und das ist auch gleichzeitig ihr Schwachpunkt. Wie erkennt man die Mainline ? Am Kirchenbesuch, an der Beteiligung an religiösen Festen, an der Beteiligung an caritativen Einrichtungen ? Wenn man hier jede Nichtbeteiligung als non religious wertet, dann kann man die Statistik so interpretieren.

  2. @Geburtenrate

    Ausgehend von der zweifelsfreien Beobachtung, dass religiöse Menschen mehr Kinder bekommen, nimmt die Religionswissenschaft an, dass dieses als evolutionäre Ursache der Neigung zur Religiosität gelten kann. Habe ich das richtig verstanden?

    In der modernen Zeit bekommen Frauen vor allem weniger Kinder, wenn sie gebildet sind. Das kann aber noch an den Resten des Patriarchats liegen, das auch bei uns noch nicht vollständig abgebaut ist. So werden Frauen, die Karriere machen wollen, sanktioniert, indem der Staat und die Arbeitgeber diese Frauen mit ihrem Kinderwunsch nicht ausreichend unterstützen.

    In Frankreich gibt es eine richtig gute Kinderbetreuung und keine Stigmatisierung von Frauen, die Karriere machen und Kinder haben wollen, auch wenn das dazu führt, dass sie mit ihren Kindern oft nur morgens und abends zusammen sind. Das führt dann auch dazu, dass in Frankreich der sonst in den Industriestaaten zu beobachtende Kindermangel nicht statt findet. Kann das sein, dass der Zusammenhang zwischen Religiosität und Kinderzahl in Frankreich deshalb schwächer ist, als z.B. in Deutschland?

    Darüber hinaus frage ich mich, ob denn die Neigung zur Religiosität überhaupt erblich ist. Wenn ich an spirituelle Erfahrungen denke, so ist hier doch eigentlich der Kontakt zum geistigen Kosmos das Faktum. Wie soll das erblich sein? Wenn Geist grundlegend in der Welt existiert, brauche ich keine speziellen Gene, um damit in Kontakt zu kommen.

    Nur wenn man ein komplett materialistisches Weltbild ansetzt, muss man daran denken, dass nur spezielle Halluzinationen hinter den spirituellen Erfahrungen stecken können, weil es ja grundsätzlich nichts Geistiges geben kann. Sich mit der Einstellung überhaupt mit Religion zu befassen, sehe ich als problematisch an – wie will man den gläubigen Menschen damit gerecht werden?

    Die Starwars-Saga hat sich den Filmmythos gebastelt, dass spezielle Moleküle im Blut für den Kontakt mit der Macht sorgen. Der tragische Held Anakin der Filmreihe hatte denn auch die höchste je gemessene Konzentration dieser Moleküle im Blut, und war entsprechend mit geistigen Kräften gesegnet. Das war dann tatsächlich erblich, seine beiden Kinder Luke und Lea waren auch ganz vorne mit dabei. Hat hier der Drehbuchautor einen Kompromissvorschlag gemacht?

    Ganz nebenbei finde ich es gut, dass wir einen zunehmenden Kindermangel haben. In Asien kommt neuerdings noch dazu, das massenhaft Mädchen abgetrieben werden, weil Frauen dort als minderwertig gelten. So steigen die Chancen, das die Milliarden von Menschen auf diesem Planeten nicht alles zu Grunde richten. Wenn wir mal unser technisches Verhalten im Griff haben, und unsere Anzahl wieder auf unter 5 Mrd gesunken ist, können wir anfangen, hier Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Derzeit werte ich den sich auf der Welt ausbreitenden Bevölkerungsrückgang als ausgesprochen positiv.

    Was nützen viele Kinder, wenn ihnen hinterher die Lebensgrundlagen fehlen? Was die Altersvorsorge angeht, setze ich alle Hoffnung auf die weiter zunehmende Automatisierung. Arbeitskräfte kann man mit Technik leichter ersetzen als die Lebensgrundlagen. Für eine nachhaltige Landwirtschaft kann auf die entsprechenden Ackerflächen nicht verzichtet werden. Wenn endlich die armen Länder wirtschaftlich auf die Beine kommen, und sich die Menschen dort endlich mal Fleisch leisten können, wird das eng mit der Versorgung. Von daher ist die Entwicklung zum Bevölkerungsrückgang ganz klar eine gute Sache. Das man das bei uns mit Einwanderung ausgleicht, ist gut für die Immobilienbesitzer, aber nicht gut für die Sicherheit der Lebensmittelversorgung in zukünftigen Zeiten, in denen sich hoffentlich endlich die armen Menschen diese Welt Fleisch leisten können.

    • Vielen Dank für Ihr engagiertes Mitdenken, @Tobias Jeckenburger!

      „Die Religionswissenschaft“ gibt es als einheitliche Gruppe natürlich nicht, aber die übergroße Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen (und fast alle Nachwuchskräfte) haben inzwischen doch die Gültigkeit der Evolutionstheorie und Evolutionsgeschichte akzeptiert.

      Und es finden sich auch weder in Zwillingsstudien noch in Simulationen irgendwelche Anzeichen dafür, dass sich Religiosität wesentlich von anderen Veranlagungen wie Musikalität, Aggressivität, Kreativität etc. unterscheiden sollte. Genau dies hatte ja auch bereits Charles Darwin selbst vermutet, vgl. „Evolution und Gottesfrage“ (Herder), oder hier:
      https://www.spektrum.de/news/vererbte-religion/1059955

      Wenn Sie oben auf die Religion-Demografie-Grafik klicken, kommen Sie auch zur kostenfrei herunterladbaren Titelgeschichte „Homo religiosus“ zum Thema.

      Ihnen alles Gute und weiterhin viel Freude an Wissenschaft! 🤓📚👍

  3. Michael Blume,
    wenn die Befragten selbst entscheiden durften, dann ist der Trend nicht zu übersehen.
    Aber , jetzt kommt der Zweifel, wohin führt der Trend. Von welchen neuen Idealen, Wünschen lassen sich die Non Religious leiten ? Geht das in Richtung Selbstverwirklichung oder in Richtung soziale Verantwortung ?
    Und, was hält diese Zivilisation dann noch zusammen ?

  4. @Titelgeschichte „Homo religiosus“

    Danke für den Hinweis darauf.

    Die Stabilisierung von Ehen und die Unterstützung in der Kindererziehung spielen wohl eine Rolle bei der Kinderzahl. Das liegt ja jetzt nicht nur an übernatürlichen Überzeugungen, sondern einfach an einer aktiven Gemeinschaft. Wo der Staat sozial aktiver ist, spielt der Glaube auch eine geringere Rolle, nicht nur bei der Kinderzahl.

    Nun gut, da bleibt noch signifikanter Effekt für den übernatürlichen Glauben selbst übrig.

    Eine gewisse Disposition dafür scheint tatsächlich in unseren Genen zu liegen. Das schließt aber nicht aus, das es letztlich doch die geistige Wirklichkeit selbst ist, die diese Disposition erst aktivieren muss, damit ein Mensch zum wirklichen Glauben kommt. Man hört bei vielen Gläubigen von einschneidenden spirituellen Erlebnissen, die tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen und entsprechende Wirkung haben. Und auch eine einfach allmähliche Erfahrung mit Spiritualität kann zum Menschenleben gehören.

    Dass wir viele Kinder bekommen, ist im Moment wohl eher nicht angesagt. Die Weltbevölkerung ist zu hoch, und nicht zu niedrig. Wichtig ist, das wir weltoffen bleiben bzw. weltoffen werden, und uns nicht gegenseitig massakrieren, sondern auch über Konfessionsgrenzen hinweg kooperieren. Und genauso wichtig ist es, dass es Religionsfreiheit gibt, die sowohl andere Götter als auch keine Götter und keine Religion erlaubt. Einfach weil es übles Unrecht ist, Menschen einen Glauben vorzuschreiben.

    Die Evidenz von Fakten und gut gesicherten wissenschaftlichen Theorien sollten besser auch anerkannt werden. Ich denke, das eine Weltoffenheit ohne dem nicht realisierbar ist. Das gilt insbesondere auch für politisch motivierte Weltanschauungen, und auch für Verschwörungstheorien.

    Die Neigung von manchen Menschen zur krassen Irrationalität könnte aber ein ganz eigener Effekt sein. Hoffe ich zumindest.

    • Gerne, @Tobias Jeckenburger!

      Tatsächlich wurden – und werden – religiöse Glaubensüberzeugungen an überempirische Akteure („höhere Wesen“) oft als „sozialer Kitt“ bezeichnet. Sie binden Gemeinschaften von Glaubenden intensiver zusammen, mitunter jedoch mit einer abwertenden Abgrenzung nach außen (gegen vermeintlich „Ungläubige“).

      Nichtreligiöse, metaphysische Überzeugungen vermögen zumindest bislang keine vergleichbaren Bindekräfte zu entfalten. So gibt es in Deutschland z.B. humanistische Verbände, die vielfach (z.B. in Baden-Württemberg) auch Körperschaften öffentlichen Rechts sind und Staatszuschüsse erhalten. Dennoch bleibt der Organisationsgrad unter Konfessionsfreien verschwindend gering, selbst im Vergleich etwa zu islamischen, buddhistischen und erst Recht jüdischen und christlichen Verbänden. Vgl.
      https://www.herder.de/hk/hefte/spezial/gottlos-von-zweiflern-und-religionskritikern/vereint-nur-in-der-negation-schwaechen-und-staerken-der-atheistischen-aktivisten/

      Wenn Sie die sozialen Binde- und Organisationskräfte und die möglichen Antworten auf die #Anthropodizee einmal verstanden haben, ist das „Rätsel Religionsdemografie“ keines mehr.

  5. T. Jeckenburger,
    Frankreich, als Beispiel für Säkularisierung ist gut. In Arles in Südfrankreich gab es mal 35 Kirchen in Benützung , jetzt sind es genau zwei. Die Aussage, dass die Leute jetzt weniger “religiös” wären, das halte ich für falsch. Die Zugehörigkeit zu einer Konfession bedeutet nicht automatisch auch mehr Religiosität. Eine religionszugehörigkeit kann auch nur der Kristallisationspunkt für gleiche Geschichte gesehen werden. Im Mittelalter, wo fast alle einer Konfession angehören mussten, waren die Leute noch weniger religiös, wenn man die Verbrechen der Kirche betrachtet.
    Michael Blume
    Vielleicht sollte man nach neuen Indikatoren für Religiosität suchen. Z.B. die Kriminalitätsrate, der prozentuale Anteil von Spenden, unbezahlte soziale Arbeiten, Organspenden, …….
    Mir unbegreiflich ist z.B. der Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken. Die Kirche hat in Tschechien einen niedrigen Stellenwert, in der Slowakei einen hohen.
    Dagibt es noch viel zu untersuchen.

  6. Religiosität scheint mir so alt wie die Menschheit selbst. Der Mensch scheint schon immer hinter der materiellen Welt die innere Welt, die er spirituelle Welt nennt, ergründen zu wollen. Spirit, oder Geist bzw. Seele sind Begriffe, die sich bis jetzt jeder wissenschaftlichen Definition entzogen haben. Schon im Animismus, also weit vor den heutigen Religionen, gab es diese Begriffe, diese Erklärungsversuche für die Nichterklärbarkeit der menschlichen Seele , also solcher Begriffe/Gefühle wie Tod, Liebe, Angst, Krankheit, etc. Religiosität wird meiner Ansicht nach nicht vererbt. Was vererbt wird sind die Gefühle, die in uns wirken und -oft unerklärlich- nach Antworten suchen. Es gibt also kein Religiositäts-Gen sondern unsere evolutionär gewachsene Welt des Unbewussten, der Urgefühle und Triebe, die wir “religiös” zu erklären versuchen.
    Religiosität kann für jemand der krank ist und leidet Antworten bieten, oder für jemand der Ordnung in dieser egoistischen Welt sucht, oder für die Erklärung der widersprüchlichen menschlichen Psyche. Dass Religionen machtpolitisch immer missbraucht wurden, liegt wohl in erster Linie an die Menschen selbst, die in ihrer grenzenlosen Machtgier bzw. ihrem Wahn selbst Gottgleich zu sein, diese Lehren in ihrem Sinne prostituieren wollten.

  7. Dass Juden im Schnitt weniger Kinder als Konfessionslose zeugen, scheint mir erneut zu zeigen, dass die Religiosität als solche nicht adaptiv ist. Für die höheren Geburtenraten religiöser Menschen ist in erster Linie die Sexualethik ihrer jeweiligen Religion verantwortlich.

    • @Edgar Dahl

      Nun, selbstverständlich gibt es auch „die Juden“ nicht, sondern eine große Bandbreite von völlig Säkularen bis zu Ultraorthodoxen (Haredim). Das klassische, liberale bis säkulare Judentum in den USA befindet sich tatsächlich im denografischen Verebben. Die orthodoxen und ultraorthodoxen Strömungen wachsen dagegen teilweise durch Kinderreichtum stark.

      Der Link oben im Blogpost führt direkt zu aktuellen Daten zu innerjüdischen Fertilitätsraten in Israel der letzten Jahrzehnte. Stärkere, empirische Datensätze zur Religionsdemografie bzw. zum reproduktiven Potential von Religiosität sind kaum denkbar! Und, ja, auch die Sexualethik spielt dabei eine Rolle. 🙂 📚 🌍

  8. “Sexualethik” ist der springende Punkt. Bislang hast Du immer argumentiert, dass die Religiosität adaptiv sei. Danach müsste der Grad an Religiosität den Fortpflanzungserfolg bestimmen. Je religiöser jemand ist, desto mehr Nachkommen sollte er hinterlassen. Doch sowohl die Shaker als auch die Juden zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Obgleich sie gewiss nicht weniger religiös oder “fromm” sind als Katholiken oder Lutheraner, zeugen sie doch nachweislich weniger Kinder. Dies zeigt in meinen Augen ganz klar, dass es nicht die Religiosität als solche, sondern allein die Sexualethik ist, die über den Reproduktionserfolg der Menschen entscheidet. Sexualethische Normen mit pronatalistischen Charakter lassen die Menschen mehr Kinder zeugen, sexualethische Normen mit antinatalistischen Charakter lassen die Menschen weniger Kinder zeugen. Streng genommen, spielt Religiosität nicht die geringste Rolle. Wenn gottlose Epikureer oder Stoiker einer streng pronatalistischen Ethik folgen würden, wäre ihr Kindersegen größer als der von gottesfürchtigen Protestanten oder Katholiken.

    • Ach, @Edgar, mit dem dauernden Bestreiten des Offensichtlichen tust Du niemandem einen Gefallen.

      Auch in o.g. Interview erkläre ich ausführlich, dass Religiosität ein kooperatives und auch reproduktives Potential eröffnet, das dann immer wieder kulturell ausgefüllt wird.

      So gehören zum Christentum beispielsweise die kinderarmen Shaker ebenso wie die kinderreichen Amish. Zum Judentum gehören die kinderarmen Säkularen ebenso wie die extrem kinderreichen Haredim. Nichtreligiöse haben dagegen bislang nirgendwo dauerhaft kinderreiche Traditionen hervorgebracht.

      In der Summe erweist sich Religiosität, biokulturell ausgeprägt in Religionen, also als klar adaptiv.

      Wissenschaft besteht eben auch darin, empirische Befunde selbst dann zu akzeptieren, wenn sie den eigenen Vorlieben widersprechen. Auch wenn klar ist, dass dies vielen nicht gelingt.

      Dir alles Gute! 😊🌷

  9. Michael, Du verwendest den Begriff “adaptiv” sehr vage. Wenn wir von einem Merkmal sagen, dass es adaptiv sei, meinen wir, dass es von der natürlichen Selektion gefördert wurde, weil es seinen Trägern einen ganz unmittelbaren Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil verschafft. Dies kann man von der Religiosität aber genauso wenig sagen wie von der Musikalität. Religiosität und Musikalität sind hereditär. Unser Grad an Religiosität und Musikalität ist zweifellos angeboren. Dennoch: Beide Merkmale, sowohl die Religiosität als auch die Musikalität, sind bloße Epiphänomene, bloße Nebenprodukte unserer Biologie. Die Religiosität ist ein Nebenprodukt unserer Denkfähigkeit, die Musikalität ist ein Nebenprodukt unserer Sprachfähigkeit.

    • @Edgar

      Genauer: Adaptiv ist ein Merkmal dann, wenn es mit intergenerationalen Reproduktionsvorteilen einhergeht („Überlebensvorteile“ ohne folgende Fortpflanzungsvorteile sind evolutionär nicht adaptiv).

      Sprachfähigkeit (biologisch) -> Sprachen, Musikalität -> Musiken dürften adaptiv gewesen sein. Bei Religiosität -> Religionen sind die Befunde für eine heutige Adaptivität überwältigend stark.

      Aber auch das wurde hier schon vor Jahren intensiv diskutiert – und ich möchte mich wirklich nicht immer wieder auf die gleichen Schleifen einlassen. Wer das verstehen will, kann dies längst – hier ein Blogpost genau dazu von 2010 (!):
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/ist-religiosit-t-eine-adaption/

      Dir alles Gute! 🤓✅🌍

  10. Sehe ich das richtig? Die kirchlich / religiös geprägten Menschen bekommen mehr Kinder als die Nichtreligiösen bzw. Nichtkirchenmitglieder und werden trotzdem immer weniger, prozentual? Da müssen aber viele Kinder den Glauben ihrer Eltern verlassen.
    Kinderzahl hat mehr mit Bildung als mit Religionszugehörigkeit zu tun. Logisch, denn wenn sie wissen, wie sie verhüten können, bekommen Frauen i. a. nicht so viele Kinder.
    Wenn die Kirche Verhütungsmittel verbietet, halten sich auch noch viele daran.
    Angemerkt sei noch, dass die atheistischen Frauen in der DDR eine höhere Geburtenrate hatten als die überwiegend religiös geprägten Frauen in der BRD.
    Warum es nach der Wende nicht gelungen ist, die Ex-DDR-Bürger wieder in den Schoß der Kirchen zurückzuholen, ist die nächste Frage. …
    Nun also auch in den USA diese Abkehr vom Glauben. Das hat mich wirklich überrascht.

    • Ja, @Brunhild Krüger – die Richtung stimmt. 😊📚

      1. Unter den Bedingungen existentieller Sicherheit geht die religiöse Praxis regelmäßig zurück, v.a. in ohnehin liberalen Gemeinschaften. Dies ist übrigens auch der Grund, warum viele Russen wieder religiös wurden (schwacher Sozial- und Rechtsstaat), aber kaum Ostdeutsche (stärkerer…).

      2. Bildung geht regelmäßig mit höherer, existentieller Sicherheit, Säkularisierung und Geburtenrückgang einher. Unter Akademikern sind fast nur noch Religiöse kinderreich (3+ Kinder). 😁

      3. Der sog. „Honecker-Buckel“ in der DDR erreichte kurzfristig 1,8 Geburten pro Frau. Kein sozialistischer Staat vermochte die Geburtenrate über 2.0 zu stabilisieren, vgl. das Desaster in Rumänien. Staatliche Familienpolitik ist also wirksam, reicht aber nicht alleine aus:
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/wie-ddr-familienpolitik-informationen-honecker/

      4. Religionen wirken nicht nur durch Verbote, sondern auch durch Werte & Vorbilder, frühe Eheanbahnungen, Betreuungs- und Bildungsangebote usw. geburtenfördernd.

      Religionsgeschichte und Religionsdemografie sind also wirklich spannend, die Säkularisierung nicht „das Ende der Geschichte“! 🌍🌈📚

  11. Demographische Verschiebungen aufgrund unterschiedlicher Kinderzahl in verschiedenen ethischen und religiösen Bevölkerungsgruppen wären unproblematisch, wenn alle Kinder die gleiche Erziehung bekämen und in die gleiche Kultur hineingeboren würden. Doch genau das ist ja nicht der Fall. Religiöse geben die Religiosität an ihre Kinder weiter und liberale/säkulare ebenso – auch sie zeugen nicht nur Kinder, sondern sie formen sie auch.

    Dies ist der Grund für die Ängste, die mit demographischen Verschiebungen verbunden sind. Die indischen Hindus fürchten sich vor einem wachsenden Anteil von Muslimen in ihrem Land, weil sie die damit einhergehende Islamisierung Indiens fürchten und die Regierung Modi ist teilweise wohl eine Reaktion auf diese Angst, denn Modis Bharatiya Janata Party ist nichts anderes als die Partei der Hindus, eine hindu-nationalistische Partei, die das Hindu-Sein über das Inder-Sein und damit über das Gemeinsame aller in Indien Lebenden stellt.

    Diese Ängste vor Verschiebung der Bevölkerungsanteile finden sich in sehr vielen Ländern und sind gerade auch heute zu beobachten. Teilweise sind sie auch berechtigt, denn wenn beispielsweise die orthodoxen Juden in Israel irgendwann die Bevölkerungsmehrheit bilden, dann wird das ein anderes Israel sein als heute. Auch die Trump-Regierung kann als letzter Versuch der Machtbehauptung einer weissen, konservativen Bevölkerungsgruppe interpretiert werden. Und die Fremdenängste in Europa sind nicht nur Ängste vor dem Fremden sondern es sind Ängste vor einer Machtverschiebung durch einen grösseren zukünftigen Bevölkerungsanteil etwa von Muslimen oder beispielsweise aus Afrika eingewanderten Schwarzen.

  12. @Tobias Jeckenburger (Zitat): Ganz nebenbei finde ich es gut, dass wir einen zunehmenden Kindermangel haben. Das wäre tatsächlich unproblematisch und sogar gut, wenn es die ganze Menschheit gleichermassen betrefen würde. Doch genau das ist ja nicht der Fall. Europa würde heute schon ohne Zuwanderung schrumpfen. Zugewanderte sind aber nicht automatisch Europäer. Und das (unter anderem) löst Ängste aus.

    Sie Tobais Jeckenburger haben schon mehrmals erkennen lassen, das sie sich als Weltbürger betrachten und die ganze Menschheit meinen, wenn sie von “uns” sprechen wie beispielsweise in (Zitat): So steigen die Chancen, das die Milliarden von Menschen auf diesem Planeten nicht alles zu Grunde richten. Wenn wir mal unser technisches Verhalten im Griff haben, und unsere Anzahl wieder auf unter 5 Mrd gesunken ist, können wir anfangen, hier Gegenmaßnahmen zu ergreifen
    Sie schauen in dieser Aussage, die hier von mir zitiert wird, auch sehr weit in die Zukunft, denn dieses Jahrhundert wird die Weltbevölkerung auch im Jahr 2090 noch wachsen und ziemlich sicher die 10 Milliarden oder gar 12 Milliardengrenze überschreiten. Wachsen wird aber nicht die Bevölkerung Europas, Chinas oder Japans, sondern diejenige Afrikas. Allein in der 3 Millionen Quadratkilometer grossen Sahelzone wird die Bevölkerung von heute 80 Millionen auf 400 Millionen im Jahr 2060 anwachsen. Viele dieser Sahelnachkommen werden auswandern und einige auch in Europa landen. Doch Europa zeigt schon heute eine Abwehrhaltung gegen diese Zuwanderung.
    Fazit: Weder Bevölkerungsschrumpung noch Bevölkerungswachstum ist ein Prozess ohne schmerzhafte Konflikte. Besonders dann, wenn solche demographischen Verschiebungen mit Migration einhergehen.

  13. Zitat von Michael Blume:

    “Bildung geht regelmäßig mit höherer, existentieller Sicherheit, Säkularisierung und Geburtenrückgang einher”

    Das heisst dann also, je religiöser, desto dümmer sind die Menschen. Ist ja auch logisch, denn ein kluger Mensch braucht keine übernatürlichen Wesen um sich die Welt zu erklären.

    • Ganz genau, @Peter Müller. Und ein noch klügerer Mensch versteht, dass Menschen nicht nur wissenschaftliche Erklärungen sondern auch gemeinsame Mythen, Symbole, Gemeinschaften und Familien nachfragen. Deswegen beschäftigt sich ein wirklich kluger Mensch auch mit der Evolutionsforschung und den empirischen Befunden der Religionswissenschaft, statt nur längst überholte Slogans aus Zeiten des gescheiterten Sozialismus zu wiederholen…

      Die freie Gesellschaft – und gerade auch das Internet – ermöglichen auch Ihnen, Ihr Niveau frei zu wählen. 😊📚✅

  14. @Martin Holzherr
    “… denn dieses Jahrhundert wird die Weltbevölkerung auch im Jahr 2090 noch wachsen und ziemlich sicher die 10 Milliarden oder gar 12 Milliardengrenze überschreiten.”

    Auch wenn ich mit Ihren Beiträgen sonst im wesentlichen übereinstimme, so ist die Prognose für 12 Milliarden Menschen wohl nicht zu halten. Hans Rosling belegt in seinem Buch “Factfulness” und dem damit verbundenen Statistik-Tool http://www.gapminder.org, dass die Weltbevölkerung vermutlich bei 10 bis 10,5 Milliarden Menschen ihren Zenit erreichen wird.
    Rd. die Hälfte der Länder weist eine Geburtenrate von 2,1 Kindern oder weniger auf und die Zahl der Kinder auf der Welt stagniert bereits heute bei rd. 2 Milliarden. Alleine die steigende Lebenserwartung lässt die Bevölkerung noch wachsen. Dies erfolgt immer langsamer und wird beginnend ab ca. 2050-2060 in globaler Stagnation und ab ca. 2100 dann in einen globalen Rückgang der Weltbevölkerung münden. Demografie ist ein langatmiger aber gut zu prognostizierender Fachbereich.

    Das die Zahl der Kinder in einem kausalen Zusammenhang mit der Religiösität der Eltern steht, bestätigt Herr Rosling nicht. Aus seiner Sicht sind alleine die Rahmenbedingungen wie Bildung der Frauen, Zugang zu Verhütungsmitteln, generelle medizinische Versorgung und relativer Wohlstand für die Zahl der Kinder in einer Gesellschaft entscheidend.
    Vielleicht besteht zwischen der Religiösität und der Anzahl der Kinder in gewissem Maße eine Korrelation.
    In ländlichen Regionen ist die Religiösität ausgeprägter, aber oft auch das Bildungsniveau und die medizinische Versorgung schlechter. Auch dürfte bspw. im ländlichen Irak der Zugang zu Verhütungsmitteln schwerer fallen.

    Wenn ich mir im Gegenzug die stets höheren Geburtenraten der DDR im Vergleich zu Westdeutschland ansehe, zweifel ich auch an den Thesen von Herrn Blume in diesem Punkt.
    Vielleicht kann eine Relgionsgemeinschaft Einfluss auf die Kinder nehmen, in dem Sie Verhütung verbietet? Dies kann jede andere Gesellschaft aber auch. Ich denke das Thema ist deutlich komplexer, als das es auf den Parameter Religiösität beschränkt werden kann.

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