Heidi und die Esoterik der Berge

In diesen Tagen werde ich viel – und erfreulich positiv – auf das ARD-Feature “Alle unter einem Aluhut? Doku über alternative Milieus” von Claudia Jahn und Duska Roth angesprochen, in dem vor allem die Anthroposophie kritisch angesprochen wird, aber auch selbst zu Wort kommt. Beleuchtet wird so unter anderem, warum Querdenken in Stuttgart entstanden ist, dessen Initiator Michael Ballweg sich seit vier Monaten in Untersuchungshaft befindet. Ein Alphabet-Skript des Radiostückes findet sich auch hier.

Screenshot zum gelungenen ARD-Radiofeature “Alle unter einem Aluhut?” zum Anhören und Download. Michael Blume

Gegenüber den intensiv recherchierenden ÖRR-Journalistinnen wagte ich dabei nicht nur eine kurze Darstellung der Gebirgsregionen-Medienthese, sondern benannte konkret aus dem EUSALP-Alpenraum auch eine Heldin meiner eigenen Kindheit: Heidi.

Rudolf Steiner war gerade 19 Jahre, als die Schweizerin Johanna Spyri den ersten Band des schnell internationalen Bestsellers veröffentlichte. Mit der japanischen Verfilmung von 1974 gelang nicht nur eine der erfolgreichsten Buchverfilmungen der Geschichte, sondern auch der internationale Durchbruch von Anime-Serien.

Doch was, bitte, könnte harmloser, unschuldiger sein als diese Kindergeschichte rund um das Alpenmädchen, den Geißenpeter und grummeligen Alm-Öhi?

Nun, genau das ist der Punkt: Die kunstvolle Erzählung spannt einen klaren Alpen-Stadt-Dualismus zwischen dem gesunden, glücklichen Heididorf Maienfeld (Schweiz) und dem finsteren, kranken, alphabetisierten Frankfurt (Deutschland) auf. So rettet Heidi – die selbst nie krank wird – auch die unglückliche Bürgerstochter Clara Sesemann aus Gefühlskälte und Rollstuhl, indem sie sie auf die gesundmachenden Berge bringt.

Ebenso hat der Alp-Öhi (!), wie er in der Ursprungsfassung heißt, nicht nur seine Familie, sondern auch seine Natürlichkeit an die Zivilisation verloren: Nachdem er das Alpen-Erbe seiner Eltern “verspielt und verzecht” habe, habe er als Söldner in der italienischen Stadt Neapel gedient, gerüchteweise gar getötet und dann noch seinen Sohn durch einen Arbeitsunfall, die Schwiegertochter durch Trauer und Krankheit verloren. So habe er sich schließlich alleine und verbittert in die Alpen seiner Kindheit zurückgezogen. Dort erst befreit, rettet und erlöst ihn seine Enkelin Heidi, indem sie an die gesunden, alpinen Wurzeln der Familie anknüpft.

Auch die verfügbaren Heidi-Ausgaben sind bereits ein wenig geglättet, so wurde aus dem ursprünglichen Alp-Öhi (!) der weniger aggressive Alm-Öhi. Foto: Michael Blume

Der von Johanna Spyri psychologisch dicht und präzise geschilderte Widerwille gilt dabei nicht erst der sog. Schulmedizin – die Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich große Fortschritte machte -, sondern auch schon der Verstädterung und Alphabetisierung, letztlich der Modernisierung.

So schleuderte Heidi im Kapitel 8 “Im Hause Sesemann geht’s unruhig zu” der verbittert unverheirateten Hausdienerin “Fräulein” Rottenmeier entgegen, dass sie wieder in die Alpen wolle. Denn in Frankfurt störe, “dass so viele Menschen beieinandersitzen und einander bös machen und nicht auf die Felsen gehen, wo es einem wohl ist.” (S. 119)

Und die Alphabetschrift erfährt das als Neutrum angesprochene Mädchen Heidi als Absage an den Umgang mit Tieren:

“Die Buchstaben machten es immer alle durcheinander und konnte sie nie kennenlernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklären und Beschreiben ihrer Form war, um sie ihm anschaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel dabei sprach, rief es auf einmal in aller Freude aus: “Es ist eine Geiß!”, oder: “Es ist ein Raubvogel!” Denn die Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben.” (S. 116)

Spyri war sich dabei des Paradoxes durchaus bewusst, dass sie ja selbst auch als Autorin mit Alphabet-Buchstaben arbeitete und benannte als kulturelle Errungenschaft der Großmama Sesemann unter anderem den Gottesglauben und das Gebet:

“Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihm den lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht wahr?” (S. 140)

Hier ließ die Autorin also durchaus zutreffend anklingen, dass sich Bildung und Monotheismus in Europa maßgeblich über die Städte ausgebreitet hatten. Nicht zufällig gingen Begriffe wie Pagane und Heiden (!) für die erst später christianierte Landbevölkerung in die Sprachen ein: Heidentum, Paganismus. Auch Spyri wollte nicht mehr in eine vor-alphabetisierte Uhr polytheistische Kultur zurück.

Fazit: Heidi verstehen vor dem Beurteilen

Dankenswerterweise komme ich am Ende des Radiofeatures aber auch noch einmal mit meinem kritisch-konstruktiven Ansatz zu Wort: Ich warne davor, den Natur-Stadt-Dualismus einfach umzudrehen und nun umgekehrt zum Beispiel aus Berlin oder Hamburg heraus pauschal über die Menschen im EUSALP-Alpenraum, über Esoterik, Anthroposophie oder eben Heidi abzulästern. Auch berechtigte Obrigkeits- und Wissenschaftskritik, der demokratische Föderalismus und die ersten Naturschutzgebiete verdanken den Gebirgsregionen sehr wesentliche Impulse und der gerade auch internationale Erfolg der Bücher, Lieder und Filme unterstreicht, dass hier menschliche Psychologie angesprochen wird. So entschieden ich Antisemitismus, Verschwörungsmythen und Dualismus bekämpfe, so klar plädiere ich andererseits dafür, wo immer möglich den Dialog zu suchen und vor das Beurteilen das Verstehen zu setzen. Die Heidi-Romane bilden ein bedeutendes Werk einer mutigen Autorin in der Blütezeit des internationalen Alpinismus – und sie können uns helfen, die menschliche Psyche einschließlich unserer Emotionen besser zu verstehen.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

30 Kommentare

  1. @Hauptartikel

    Die Städte Ende des 19. Jahrhunderts und die Lebensverhältnisse der meisten Bewohner waren dann nun auch recht finster.

    Eine grüne Stadt und hinreichender Wohlstand lebt sich da besser. Insbesondere bringt es das Stadtleben mit sich, dass man sich seine Freunde aus einem sehr breiten Angebot aussuchen kann, und es bringt kurze Wege mit sich. Rein ökologisch gesehen sind deshalb Städte deutlich umweltfreundlicher, auch wenn der Naturkontakt auf dem Land bzw. in den Bergen reichhaltiger ist.

    Aber einen guten Park in der Nähe, der trotz gärtnerischer Pflege auch noch was Wildes hat, der ist schon ganz gut. Bei mir um die Ecke gibt es eben auch eine großen Park mit Teichen, wo Gänse, Enten, Blesshühner und Nutrias verweilen, die immer ein Auge für uns menschliche Besucher haben. Der eine oder andere füttert die mal, auch wenn das verboten ist.

    Wenn ich mich aufs Fahrrad schwinge, dann kann ich hier mitten im Ruhrgebiet durchaus sehr vielfältige Natur inmitten der Stadt- und Industriekultur erleben. Der Mensch mag und braucht Natur. Womöglich hat gerade die Heidigeschichte auch hier die Stadtverwaltungen motiviert, dem Bürger so viel Natur wie möglich in Wohnortnähe zu verschaffen.

    Einen weltanschaulichen Gegensatz von Natur und Kultur muss man nicht so eng sehen, scheint mir. Eine rein künstliche Umgebung will keiner, und genug Grün am Wohnort reichen schon recht weit.

    Wobei eine Kritik an einer Medizin berechtigt ist, die versucht, defekte Maschinen zu reparieren, was nicht immer der optimale Ansatz ist. Der Mensch als biologisches System hat seine Ganzheit mitsamt eigener Abwehrkräfte, die man gezielter ansprechen kann, wenn man die Person mehr als Ganzes betrachtet. Entsprechend ist bei manchen Leiden der Homöopath eventuell tatsächlich hilfreicher.

    Und Geisteswelten versus Naturalismus sind durchaus ein gewisses Spannungsfeld, dass zeitgenössisch aktiv bearbeitet wird. Diese Diskussion bleibt uns erhalten. Die persönlichen Evidenzen in Form konkreter Lebenserfahrung sind nun einmal in breiter Vielfalt vorhanden, und führen zu einem Pluralismus, der alternativlos ist. Die allgemeine Evidenz, die die Wissenschaft produziert, ist zwar besser abgesichert, und steht dann als recht gesicherte Erkenntnis zur Verfügung. Aber diese Erkenntnisse reichen eben nicht überall hin.

    Und sind darüber hinaus auch öfter vorläufiger, als man meistens glaubt.

    Auch die Prognosen für das Ausmaß des zukünftigen Klimawandels sind sehr unsicher. Wesentlich faktischer ist der aktuell längst stattfindende Klimawandel. Aber einfach in die Zukunft extrapolieren funktioniert meistens nicht, bei derart komplexen Systemen. Wenn die Experten selber schon sagen, dass wir bei einer Verdopplung der Treibhausgase zwischen 1.5° und 4.5° Erwärmung zu erwarten haben. Wovon 1.1° inzwischen schon erreicht sind, es geht also um weitere 0.4° bis 3.4°. Diese Unsicherheit ist hier wirklich ein maßgeblicher Aspekt dieser Angelegenheit.

    • Danke, @Tobias Jeckenburger. Tatsächlich betrifft die globale Erhitzung Gebirgsregionen besonders stark: Der Sonne bieten sich größere Flächen dar und Wasser, Schnee und Eis bleiben nicht mehr auf den Bergen, legen das Gestein frei. Es hat bereits begonnen…

  2. Widerstand gegen Schule und Alphabetisierung, Aversion gegen die Schulmedizin oder auch die christlichen Untertöne, die sich im Original-Heidi in den religiös aufgeladenen Motiven von Schuld, Sühne und Vergebung widerspiegeln, fallen in den neueren japanischen Versionen von Heidi alle unter den Tisch. Was in den japanischen Versionen dagegen erhalten, sogar gesteigert wird, ist die Verklärung von Natur und kindlicher Unschuld von Heidi, gesteigert zu dem, was man in Japan Kawaii nennt (Unschuld und Kindlichkeit, Niedlichkeit).
    In der Wikipedia liest man dazu:

    Heidi gilt in Japan als Symbol für kindliche Unschuld und eine reine Natur. Der Anime-Schöpfer Takahata wollte mit seiner Heidi-Adaption vor allem auf die japanische Sehnsucht nach blauem Himmel, Bergen mit weiß eingedeckten Gipfeln, grünen Wiesen, Bergtieren und einer reinen fehlerlosen Unschuld reagieren.[12] Starke Phasen der Heidi-Rezeption waren zum einen die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, zum anderen die 1970er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Land traumatisiert und teilweise verwüstet. In den 1970er Jahren stieg Japan zur Weltwirtschaftsmacht auf. Die Gesellschaft konzentrierte sich auf industrielles und finanzielles Wachstum sowie das Leben in den Metropolen. Heidi ist für japanische Fans zwar zum einen fest mit dem Begriff Schweiz verbunden, zum anderen aber blenden die Fans die tatsächliche Einbindung in die Geschichte und Kultur der Schweiz komplett aus und begreifen Heidi als zeit- und raumunabhängige Parabel auf das Einfache und Unschuldige.

    Johanna Spiry, also die Autorin von „Heidi“, lebte ab ihrem 15. Lebensjahr in der Stadt Zürich. Über ihre Mutter war sie mit einer Person aus der Stadt Bremen verwandt und unterhielt Kontakte zu einem Pastor und einem Juristen der Stadt Bremen und in Bremen veröffentlichte sie auch ihre ersten (Kinder-)Bücher. Heidi wurde dann im F. A. Perthes-Verlag im sächsischen Gotha publiziert.

    Fazit: Die Autorin von Heidi ebenso wie fast alle Leser von „Heidi“ (egal ob hier oder in Japan) waren Städter. Was in Heidi beschrieben wird ist also eine Fiktion, die von der Erfahrungswelt der Autorin wie der Leser weit entfernt ist.

    • @Martin Holzherr

      Bei aller sonstigen Zustimmung – ich denke, dass Gefühle, Sehnsüchte und Mythen einen großen Teil unserer (und auch von Spyris) „Erfahrungswelt“ ausmachen…

      Und im Fall von Heidi sprechen wir sogar von internationalen, fast globalen Erfahrungswelten.

    • Gotha liegt in Thüringen, nicht in Sachsen … es liegt auf dem Gebiet des (ehemaligen) Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha. Vielleicht daher die geographische Verwirrung.

  3. Was Stadt und Alpenraum angeht, gilt das Prinzip Pluribus in unum: Unlösbare Widersprüche halten die Welt am Laufen, Konflikte, die sich in Maßen halten, schaffen die notwendige Betriebs- und Körpertemperatur eines Organismus. In den Bergen bekommt man viele isolierte Gemeinschaften, Petrischalen, in denen alle Entwicklungen schneller gehen, als in großen Massen. Das führt zu allerlei merkwürdigen, meist geistigen Mutationen, zu einer enormen Vielfalt aus halbgarem, überzüchtetem Schwachsinn. Doch die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich unter diesem Schwachsinn ein paar revolutionäre Ideen finden, ist viel größer als in der Stadt, wo Ideen viel schneller kreisen, deswegen aber auch schnell zu einem Einheitsbrei verkocht werden: In der Stadt haben viele Leute einen Massenwahn, in den Bergen und Dörfern, viele Massenwahne je recht wenige Leute (passt dazu, dass Monotheismus städtisch, Polytheismus dörflich sein soll, nicht?). Die Stadt ist die ultimative Arena, wo sehr viele Ideen zusammenfließen, gegeneinander antreten, geprüft werden, sich behaupten müssen. Dort werden sie auch an der Realität geprüft, dort ist die Schnittstelle, das Tor zur Welt, sie können aus der Petrischale aufsteigen, den Staat, die Menschheit infizieren. Doch die Berge sind es, die in Ruhe nachdenken und träumen können – auf der Alm, da gibt’s koa Sünd, denn wenn man durchdreht und Amok läuft, halten einen Felswand oder Schlucht schnell auf. Die Berge sind ein von der Natur gebautes Irrenhaus voller Gummizellen, nur spart sich die Natur den Gummi, weil Tod billiger ist, aber Irrsinn ist auch nur ein Gedankenexperiment, das ein gesichertes Biowaffen-Labor braucht. Bergbewohner sind verrückt, weil das ihr Job ist, und den machen sie offensichtlich sehr gut. Wenn die Stadt die Adolfs nicht in den Vorentscheidungen aussortieren kann, hatte sie bereits vorher ein Problem.

    Was Natur und Zivilisation angeht, schon die ersten Jäger und Sammler waren wenig erpicht, die Landwirtschaft zu übernehmen, denn sie brachte viele Zivilisationskrankheiten mit sich. Die Nachteile der gesunden, naturverbundenen Lebensweise demonstrieren sie recht anschaulich, indem sie tot sind. Auch Heidi war vermutlich nur glücklich auf der Alm, weil die perverse Landwirtschaft und all die widernatürlichen Werkzeuge aus der Stadt Regen, Hunger, Raubtiere und Plünderer fern hielten.

    Das Gute gewinnt immer, denn das Gute wird gemeinhin definiert als das, was überlebt hat, um die Geschichte zu erzählen – eine eng verwandte Weisheit. Wir zählen die Toten nicht mit. Die natürliche Lebensweise schafft überaus gesunde Menschen, weil die geringste Krankheit gleich zum Tode führt. Noch ein paar Stammeskriege dazu, das hält die Population klein genug, um im Einklang mit der Natur leben zu können, von dem, was sie einem schenkt, ohne dass man es ihr mühsam aus den Eingeweiden reißen müsste. Der Siegeszug der Zivilisation war wohl die erste große Zombie-Apokalypse: All die halb vermoderten, kränklichen Gestalten, die ihren gottgewollten Tod überlebt hatten, waren den natürlich Lebenden zahlenmäßig haushoch überlegen.

    Technologisch sowieso, denn viele Köpfe haben mehr Ideen als einer, und wenn sie auch noch miteinander sprechen, Ideen über Jahrhunderte und Kontinente hinweg mit Buchstaben weitergeben, erschaffen sie eine Cyborg-KI – etwas, das über ihren Tod hinaus weiterdenkt, das dafür sorgt, dass die Ideen ewig leben, sich entwickeln, auch wenn die Fleisch-Chips ausbrennen und ausgetauscht werden müssen.

    Ein Vorteil der Zivilisation ist natürlich auch, dass all die Krankheiten echt fiese Laune machen, die man gerne am Nachbarn auslässt. Das macht sie aggressiver, expansiver, fördert den freien Wettbewerb, die kulturelle und technologische Evolution, das Waffenhandwerk, die Folterkunst und die Bestattungsindustrie. Ich hätte da ein paar Verbesserungsvorschläge – mehr Krankenhäuser, das Verlagern von Kriegen auf Fußballplätze und in Fantasiewelten – aber auf mich hört ja keiner. Meistens, weil meine Vorschläge total doof sind. Wird wohl auch hier der Fall sein. Sorry.

    Technologie macht es allerdings möglich, dass einige Wenige die Vorteile beider Welten genießen. Der Adel baute sich schon immer gern künstliche Paradiese, Paläste mit Gärten, natürlich unterhalten von Engeln, denen Peitschenstriemen die Flügel ersetzten. Gerade wenn alles in die Städte drängt und es dort besonders eng, heiß und eklig zugeht, wird die Oberschicht gewissermaßen in die Landschaft rausgequetscht: Die Stadt verkommt zum Arbeiter-Slum, die Paläste wachsen drum herum. Alternativ bietet sich heutzutage die Expansion nach oben, in die Dachböden von Wolkenkratzern.

    Vertikale Expansion ist viel schweißtreibender als horizontale, hat aber den Vorteil, dass man dazu nicht den Nachbarn erschlagen muss. Leider halten sich in der Luft auch die Gasvorkommen in Grenzen, das Grundstück ist noch unattraktiver als Sibirien und Sahara, nicht mal Unkraut will es haben. Aber gerade dadurch in Überfluss verfügbar. Wie Sibirien und Sahara, wartet es auf jeden, der die enormen technologischen Hürden nehmen kann, um es zu kolonisieren. Tja, der Vorläufer von Flugzeug und Raumschiff ist der Kirchturm, die Seele ist schon mal vorgeflogen in das interplanetare Paradies mit seinen unendlichen Ressourcen, die unendlichen Überfluss und ewigen Frieden ermöglichen. Erst dort wird wahrer Einklang mit der Natur möglich, weil wir sie nicht zerstören, sondern maßgeschneidert für uns schaffen. Religion sagt uns die Zukunft voraus, sie kennt sie, weil nur die eine Zukunft möglich ist, weil die Welt nun mal jeden tötet, der sie nicht anstrebt. Prophezeiungen dürften auch nur Erinnerungen der Materie sein, an Dinge, die sie schon unzählige Male durchlaufen hat. Oder auch nicht, ich bin wahnsinnig, nicht allwissend.

    Dank Demokratie ist heute jeder ein Adeliger, das ist schon mal ein guter Anfang. Die Wirtschaft spielt nicht mehr mit, das Ende könnte weniger gut sein – wir werden das, was man in Polen „golota“ nannte, den nackten Adel, der sich nur durch Standesdünkel und papierne Privilegien von seinen Nachbarn unterschied, wie heute ein Slumbewohner mit Staatsbürgerschaft von einem ohne. Doch, weil trotz aller Dellen und Weltuntergänge Technologie erhalten bleibt, dürfte sich der Hybridisierungs-Trend im Großen und Ganzen fortsetzen: Wir streben nach dem Besten beider Welten, von Natur und Stadt. Die Stadtwohnungen werden größer, die Parks üppiger, die Luft reiner. Alles eine Frage der Kommunikation, denn Geschwindigkeit ersetzt Nähe – wer schnell ist, kann hinkommen, statt vor Ort zu warten.

    Der Trend geht zum Roboglobe, dem Cyborg-Planeten. Der Jäger mit seinem Speer war bereits ein Ein-Mann-Dorf, das künstlich in seine Umwelt eingriff, aber lernte, sich zu synchronisieren. Das Dorf war ein besserer Jäger und Sammler, der bereits die Umwelt dressiert hatte, die Beute zu ihm zu tragen. Das erschuf neue Cyborg-Biotope und die Natur schuf neue Spezies, die ohne diese halb künstliche Umwelt nicht mehr leben können. Und wenn man sich die Geschichte der Menschheit anschaut, waren die letzten sechstausend, sechzigtausend Jahre wohl nur die Sauerei, die man anrichtet, wenn man mit der Axt im Walde ein Grundstück für ein Dorf rodet. Sehen Sie die Städte, wie sie bislang waren, als provisorische Arbeiterbaracken für ein Bauprojekt, das über Jahrtausende geht. Das Leben kriegt ein Upgrade, um von seinem Stein herunterkriechen und sich im Sonnensystem ausbreiten zu können.

    Dazu muss halt jeder von uns, der die Dienstleistung Leben in Anspruch nehmen will, einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Mit Blut, bei einem Arbeitgeber, der genau weiß, dass er der Einzige ist, bei dem man um einen Job anstehen kann, und deswegen hämisch grinst über seinem Spitzbart, weil er uns für einen Hungerlohn gnadenlos abzocken kann. Ob Sie jetzt auf dem Land oder in der Stadt Dienst tun, Sie werden immer genug Opfer bringen, die die Anderen nicht bringen, um sie zu beneiden. Ich bin sehr dafür, seine Pflichten nicht allzu ernst zu nehmen, mit halber Backe zu arbeiten, sich zu drücken, wo immer es nur geht, zu feiern und Spaß zu haben. Wir haben Weltuntergang, weil wir nicht mal Dienst nach Vorschrift gemacht haben, der Boss ausrastet und uns die Mistgabel in den Hintern rammt. Sinnvoll wäre, kurz hektisch zu werden und die Sauerei aufzuräumen, bis er grunzt, nickt und sich wieder in sein Büro verzieht. Mehr muss dann aber auch nicht sein.

  4. Das Sonderbare an diesem Text, scheint mir, wie er mich als Leser informiert. Wie er plötzlich, an einer ‚Stelle‘ mich geländerfrei ‚nackig’ stehen lässt.

    Und das wohl so, als wären alle Protagosnisten beider Seiten kugelperspektivisch künstlerisch-imaginativ anwesend.

    Wie als würden die Wolldecke Heidi‘s und die Zentralheizung Clara‘s mich wärmen, zuletzt bis tief in jeden einzelnen Knochen.

    Ergo: Sehr inspirierend und erhellend.
    🙂 Bravo!
    Bravo!
    Dankeschön. 🙂

    • Wirklich, @lioninoil? Wer ist denn „man“, der oder die „Sanatorien baut“? Diese entstanden doch aus den Bedürfnissen der Städte heraus – ebenso, wie z.B. der Schweizer Käse für die transatlantisch aufblühende Schifffahrt nachgefragt wurde.

      Ich bin daher gerade auch wissenschaftlich fest davon überzeugt, dass Städte und Berge zueinander in einer gegenseitigen, noch zu wenig erforschten Beziehung stehen. Auch hier griffe also der Natur-Stadt-Dualismus fehl, auch der Relativismus zu kurz. Stattdessen bräuchten wir einen auch Emotionen einbeziehenden Mitwelt-Monismus, den ich als Sehnsucht in den Heidi-Mythen auch angelegt finde. Denn verlören wir die Berge aus dem Blick, dann auch die Quellen der Flüsse und Städte.

      • Noch eine Ergänzung hierzu: in Japan gibt es das sogenannte “Waldbaden” – es kommt aus Japan, heißt dort Shinrin Yoku in Japan und gibt es auf Rezept. Die Verbesserung des Befindens (Blutdruck, Verringerung von krebsverusachenden Stoffen im Blutkreislauf ist messbar) ist nachgewiesen.

        • Danke, @Graf Cagliostro – körperlich wie psychisch positive Effekte durch wohltuende Natur-Erfahrungen halte ich für gut belegt!

          Und wie Sie ggf. wissen, bin ich nicht nur pro Klimaschutz & Energiewende aktiv, sondern auch Vegetarier geworden, weil ich die Zerstörung unserer Mitwelt für katastrophal halte – auch für uns Menschen. Es wird kein Naturschutz gegen die Moderne funktionieren – aber auch keine Moderne ohne entschlossenen Mitweltschutz geben…

    • Danke, @Paul – nach vielerlei Beschimpfungen als “woke”, “Öko” und “linksgrünversifft” ist es mal wieder erfrischend, als verborgener Publizist “für die Rechten” verdächtigt zu werden! 🙂

      Allerdings muss ich Sie wohl inhaltlich ent-täuschen: Als die Libertären auch in Deutschland staatsfeindlich-dualistisch nach rechts abkippten und dabei ihre monistische Liberalität aufgaben, stellte ich das Schreiben bei “eigentümlich frei” ein – und zwar schon 2015, vor sieben Jahren:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/das-gift-terrors-mein-artikel/

      Und ich sehe leider keine Verbesserung der Situation. 2021 sprach ich beim Freiburger Eucken-Institut sogar ausdrücklich zu den Gefahren des Verschwörungsglaubens für den Liberalismus:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/scheitert-die-liberale-demokratie-von-der-gefahr-des-verschwoerungsglaubens/

      Wenn Sie mich also unbedingt dualistisch als Feind und Verschwörer markieren wollen, dann kommen Sie an dieser Stelle einfach nicht weiter.

      Ihnen alles Gute, vor allem weniger Tendenz zum Freund-Feind-Dualismus. 🙂

      • Sie tun so, als sei „eigentümlich frei“ 2015 plötzlich „rechts“ geworden. Das ist eine Falschdarstellung: „eigentümlich frei“ war schon „rechts“, als Sie im Jahre 2009 anfingen, dort zu schreiben, Auszug aus Wikipedia über „eigentümlich frei“:

        „Der Politikwissenschaftler Thomas Gesterkamp vertrat im Herbst 2012 in der Zeitschrift APuZ die Ansicht, dass zwischen eigentümlich frei und der Wochenzeitung Junge Freiheit personelle und inhaltliche Überschneidungen bestehen.[9] Felix Dirsch bestätigte 2012 zudem „engere Kontakte“ zur Zeitschrift Sezession und ordnet sie insgesamt der Neuen Rechten zu.[10]
        (…)

        Die Politikwissenschaftlerin Karin Priester schrieb Ende 2010 in APuZ, dass der minimalstaatliche Libertarismus in Deutschland ein Forum in der Zeitschrift eigentümlich frei finde. Die ideologischen Leitfiguren seien die politischen Philosophen Murray Rothbard und Ayn Rand, welche Eigennutz und Egoismus moralphilosophisch als Tugenden legitimierten. Ziel sei die staatlich ungehinderte Nutzenmaximierung neuer „Leistungsträger“. Das Grundübel sähen sie im „Sozialdemokratismus“, welcher auch die CDU unter Vorsitz von Angela Merkel befallen habe. Seit 2007 suche der Herausgeber von eigentümlich frei, André Lichtschlag, der ein Bündnis radikal libertärer und nationalkonservativer Kräfte anstrebe, auch die Nähe zum Rechtsextremismus.

        (…)“

        https://de.wikipedia.org/wiki/Eigentümlich_frei

        • Lieber @Paul,

          ja, die Auseinandersetzung mit rechten und linken Stimmen fand und finde ich wichtig, solange sich diese im demokratischen Spektrum befinden. Das möchte ich ja auch von Ihnen annehmen, obwohl Sie bereits sehr dualistisch argumentieren.

          Mehr noch: Meiner Meinung nach gehört es zur Aufgabe liberaler und bürgerlicher Stimmen, die Auseinandersetzung mit libertären und rechten Positionen zu suchen. Ebenso sollte ja auch die Sozialdemokratie immer wieder Linke zur Mitte hin integrieren.

          Als sich jedoch der Diskursraum bei „ef“ immer weiter ins Rechtslibertäre verschob – unter anderem durch die m.E. bizarre Aufnahme von Thilo Sarrazin (damals leider noch SPD) und durch die Freischaltung rassistischer Kommentare im ef-Portal – war die Zeit für meinen Abschied gekommen. Inhaltlich verabschiedete ich mich dabei auch vom klassischen Vorstellungsbild des Rechts-Links-Hufeisen und setzte mich mit den brillanten Thesen von Rabbi Sacks, seligen Angedenkens, zum Freund-Feind-Dualismus auseinander:

          https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/freund-feind-dualismus-statt-rinks-lechts-hufeisen-theorie-eine-wuerdigung-von-rabbi-sacks-sel-ang/

          Da ich ja nun geduldig geantwortet habe, nutze ich gerne die Chance zum Dialog: Wie sieht das bei Ihnen aus? Diskutieren Sie auch mit Positionen links, liberal und rechts von Ihnen? Haben Sie sich auch schon gegen Radikalisierungen im eigenen Milieu engagiert? Und gab es da Ihrerseits im Laufe der Jahre Dialog- und Lernprozesse, oder hat sich Ihre eigene Haltung über all die Jahre und Begegnungen hinweg nie verändert?

          Mit ehrlich interessierten Grüßen!

  5. Michael Blume,
    Das Wirken von Natur in einen Begriff wie “Esoterik” einzuschließen, das ist provokativ.
    ein Waldspaziergang macht den Kopf wieder frei. Ein Segeltörn entführt in eine andere Welt. Mit einer Tauchausrüstung in die Wunderwelt der Fische und Korallen einzutauchen, das ist echter Luxus. Und er ist mehr als das, er kann festgefahrene Denkmuster wieder öffnen.
    Ich denke, Sie meinen das gleiche wie ich wenn Sie von “einen auch Emotionen einbeziehenden Mitwelt-Monismus” sprechen. Und der ist ganzheitlich, um auch mal dieses Wort zu verwenden. Mit Monismus verbinde ich “ganzheitlich”.

    • Durchaus Zustimmung, @lioninoil: “Esoterik” würden die Erfahrungen erst dann, wenn sie dualistisch in eine jenseitige, geheime Geisterwelt abgespalten würden. Vergleiche die Debatten über Rudolf Steiners Konzept von “Geisteswissenschaften” mit Einblicken in die Akasha-Chronik, den Standort von Atlantis u.v.m.

      https://de.wikipedia.org/wiki/Akasha-Chronik

      In der modernen Soziologie bemüht sich zum Beispiel Hartmut Rosa mit seinen Arbeiten zur “Resonanz” um ein nicht-esoterisches Verständnis von monistischen Beziehungserfahrungen.

  6. @Michael 13.11. 09:20

    “Stattdessen bräuchten wir einen auch Emotionen einbeziehenden Mitwelt-Monismus, den ich als Sehnsucht in den Heidi-Mythen auch angelegt finde.”

    Naturverbundenheit fördert natürlich auch umweltförderliches Verhalten. Aber macht eigentlich auch für sich einen wesentlichen Teil der Lebensqualität aus. Wir wollen Teil von was größerem Sein, hier bietet sich die Natur an. Schließlich ist sie auch größer als die Nation oder noch speziellere Bezugsrahmen. Und die Natur ist durchweg von friedlichem Charakter, mal abgesehen von lokalen Katastrophen, mit denen wir aber ganz gut umgehen können, wenn wir uns entsprechend vorbereiten.

    Eine Kombination von ausgiebigem Natururlaub und schön grünen Städten ist dann für den Beziehungsaufbau wohl auch optimal. Dauerhaft mitten in der Natur wohnen, dass ist gar nicht nötig, scheint mir. Gerade das Stadtleben fördert das Miteinander unter den Menschen, indem man sich zwar mit der Natur tief verbunden fühlen kann, aber dennoch sich meistens seinen Mitmenschen zuwendet. Da hat man wohl die meiste Beziehungsarbeit zu leisten.

    Aber eben gerade auf der Basis einer grundsätzlichen Verbundenheit mit der Natur. Und eigentlich auch mit dem weiteren Universum. Die Wirkung des Sternenhimmels mit dem Wissen von all den fernen Sternen und den Planeten, die sie umkreisen, kann auch sehr intensiv und hilfreich sein.

    Letztlich ist der Beziehungsaufbau des Menschen zu seinem Universum nicht nur durch Tradition und Kultur gewachsen, sondern ganz stark durch eigene Erfahrungen mit dem Leben da draußen. Durch eine konkrete Verbindung, die sich z.B. auf einer Bergwanderung einstellen kann. Diese Erfahrungen sind es, an die Mythen wie die Heidigeschichte erst anknüpfen kann.

    Wobei gerade ein Naturalismus, der jegliche Geisteswelten ablehnt, ein Hindernis sein kann. Eine Natur, die vollkommen geistlos gedacht wird, ist schlichtweg nicht wirklich beziehungsfähig. Hier kann dann auch Religion sogar mal hilfreich sein, wenn sie eben einen lebendigen Kosmos postuliert. Wirklich lebendig können dann auch die Beziehungen zu Natur und Kosmos werden.

    Insbesondere wenn Natur und Kosmos eben tatsächlich lebendig sind, und auch wirklich dazu fähig sind, auf uns zuzugehen, und eine Verbindung zu uns aufzubauen.

  7. „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ als Ausdruck des Unbehagens in der Kultur
    Vordergründig geht es in Heidi um den Gegensatz von Stadt- und Land. Die Stadt bedeutet in „Heidi“ aber nicht nur das Fehlen der Natur, sondern auch die Unterdrückung spontaner Regungen. Am deutlichsten wird das von Fräulein Rottenmeier (Hausdame in Frankfurt) verkörpert, die Heidi lehrt, dass “gute” bürgerliche Erziehung darin besteht, die wahren Gefühle zu verleugnen. Heidi reagiert auf ihre Situation indem sie immer weiter abmagert und zu schlafwandeln beginnt. Das erinnert sehr stark an eine psychosomatische Erkrankung und auch an das, was Sigmund Freud später eine neurotische Erkrankung nannte.

    Es ist zudem in Johann Spyris Roman nicht generell so, dass Heidi Lesen ablehnt, vielmehr ist es die Art wie es in der Schule präsentiert wird, was ihr Schwierigkeiten bereitet. Das ändert sich als Klaras Grossmutter nach Frankfurt kommt und mit Heidi zusammen liest, worauf ihr das Lesen plötzlich leicht fällt. Später, zurück aus Frankfurt, liest sie dem Alm-Öhi aus dem ihr von Klaras Grossmutter geschenkten Buch die Geschichte vom verlorenen Sohn vor, was diesen veranlasst wieder am Dorf-Leben teilzunehmen.

    Johanna Spyri schrieb „Heidi“ zur Zeit als die Industrialisierung in vollem Gange war. In getAbstract zu „Heidi“ liest man dazu:

    Vielen Schweizern, vor allem in den ländlichen Gebieten, fiel es schwer, die raschen Umwälzungen zu verarbeiten. Fortschrittskritik, Kritik an der bürgerlichen Werteordnung mit ihren oft als heuchlerisch empfundenen Konventionen und im Gegenzug die Rückbesinnung auf die “gute alte Zeit” finden sich vielfach in der Literatur, etwa bei Jeremias Gotthelf um 1830, und klingen auch 50 Jahre später noch deutlich bei Johanna Spyri an.

    Fazit: „Heidi“ passt gut zu einer Gegenreaktion auf die dazumalige Industrialisierung, ähnlich wie die deutsche Romantik eine Gegenreaktion auf den Rationalismus der Aufklärung war.
    Selbst der Erfolg von „Heidi“ im Nachkriegs-Japan lässt sich so verstehen, denn das Nachkriegs-Japan war durch eine sehr schnelle Industrialisierung und Verstädterung und ein Leben in zunehmender Anonymität geprägt.

    • Vielen Dank und Zustimmung, lieber @Martin Holzherr!

      Bei so konstruktiven Kommentaren macht das Bloggen Freude und Sinn! (Und, ja, das ist doch gut für den digitalen Fortschritt. 🙂 )

  8. Der Ausgangspunkt der Debatte um Heidi war, dass mit dem bekannten Buch die These der nach rechts offenen Alternativszene bebildert werden sollte. Herr Blume hat dankenswerter Weise etwas mehr Differenzierung in die Heidi-Interpretation gebracht. Davon abgesehen, ist für mich die Frage ungeklärt, wer überhaupt Heidi rezipierte hat, damals und in der 1980 er und 1990er Jahren. Ich würde die These wagen, dass Heidi bei der Konstituierung der Alternativszene am Ende des 20. Jh. keine Rolle gespielt hat.

    • Danke, @Stefan Padberg – ich fühle mich gut verstanden. Denn selbstverständlich habe ich nie behauptet, dass Heidi die Ursache des Natur-Stadt-Dualismus wäre, sondern eine späte Ausprägung davon. Geistesgeschichtlich wäre hier beispielsweise auch der aus Genf stammende Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) zu nennen, der in seinem “Emile oder über die Erziehung” (1762) den “natürlichen” Mann der “natürlichen” Frau (Sofie, erst im 5. Kapitel) überordnete. Hier wird verdeckt, dass selbstverständlich auch ländliche Traditionen kulturell geprägt und veränderlich sind. Nicht zufällig beginnt Rousseaus sog. “Erziehungsschrift” mit der vermeintlich ewigen Absage an jede insbesondere städtische Kultur: “Alles, was aus den Händen des Schöpfer kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.”

      In der neueren Zeit wäre zudem die russische Naturfrau-Variante “Anastasia” von Wladimir Megre zu nennen, deren stark rechtsesoterische “Anastasia-Bewegung” bis in den deutschsprachigen Raum wirkt.

      https://de.wikipedia.org/wiki/Anastasia-Bewegung

      Sofie, Heidi und Anastasia stellen je zeitlich-regionale und entsprechend im jeweiligen Kontext zu betrachtende Ausprägungen des Natur-Stadt-Dualismus dar, der aus föderal geprägten Gebirgsregionen gegen die Verlusterfahrungen der städtisch geprägten Zivilisationen ausstrahlt.

  9. Zum lesenswerten Blogbeitrag von Hrn. Blume meine Anmerkung.

    Ist nicht die Geschichte der Kinder und Jugendlichen in den Alpendörfer und Weiler in der Vergangenheit durch z. B. die “Schwabenkinder” (https://de.wikipedia.org/wiki/Schwabenkinder) oder auch der “Verdingkinder” (https://de.wikipedia.org/wiki/Verdingung) eher fürchterlich bestimmt?
    Die Schornsteinfegerbuben z. B. Kinder aus dem Tessin / Bergell in Mailand (s.a. https://de.wikipedia.org/wiki/Schornsteinfeger#Anf%C3%A4nge) oder Kinderarbeit in und um den montanen Bergwerksbetrieb?

    Dazu käme auch noch das Prinzip der Realteilung (Erbteilung – https://de.wikipedia.org/wiki/Realteilung) an den ältesten Sohn des Berg- oder Waldbauern, welcher in einer alpinen und subalpinen Stufe, teils wasserarmen gebirgigen Gegend wirtschaften musste. Zum Leidwesen seiner jüngeren Geschwister, aber auch des Gesinde?

    Idealtypisch mag das dichterische Werk von Fr. J. Spyri funktionieren,
    ebenso wie zum Beispiel “Schlafes Bruder”. Verdeckt es aber nicht die Sicht auf damalige Verhältnisse des “Kindsein” in den Alpenregionen?

  10. Aus christlicher Perspektive interessant: Die Bibel beginnt in einem paradiesischen Garten und endet in einer paradiesischen Stadt. Für rückwärtsgewandte oder gar dualistische Naturromantik ist da gar kein Platz.
    Man beachte auch: Mord und Totschlag entstand bereits im Garten, nicht später.

  11. Die Romantisierung der ursprünglichen “unverfälschten” Natur ist älter als Spyri und schon in der Antike belegt: Ovids Metamorphosen mit ihrem goldenen Zeitalter, Tacitus “Germanica” und später die Alpenschwärmerei des liberalen F. Schiller im “Wilhelm Tell” –

    • Ja, @Joachim Fischer – Zustimmung! Ich hatte in der Diskussion auch bereits den Genfer Rousseau & dessen Emile und Sofie genannt. Auch z.B. aus China ließen sich leicht Beispiele anbringen – und auch Heidi wurde ja nicht zufällig als japanische Anime-Serie ein internationaler Erfolg.

      Genau all das ist zu erwarten, wenn wir die Grundthese ernstnehmen, dass nach dem Relativismus sowohl integrativer Monismus wie eben auch feind-seliger Dualismus zu den evolutionspsychologischen Wahrnehmungsmodi gehören. Sich je etwa „Natur“ und „Kultur“ in Gut-Böse-Schemata zu pressen liegt nicht so fern. Und Spyri selbst war dabei in ihren Büchern nochmal differenzierter als z.B. die erwähnte Filmreihe.

  12. …ein bisschen gegen den Strich gebürstet… zumindest das Buch erzählt auch sehr eindringlich von der kärglichen Armut des damaligen Lebens in den Bergen. Und darum ist das Geschichte auch heute noch relevant: Es sind doch gerade die Fragen: Kann es Wohlstand ohne Naturzerstörung geben? Oder: können wir, die wir im Unterschied zu Heidi lesen können, etwas von der kindlichen Sicht lernen? Es geht doch um Reflexion und nicht darum dass Spyris propagieren wollte, wir müssten alle wie Heidi sein

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