Funktionen und Gefahren von Vorurteilen. Zum berühmten Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg – oder von Friedrich II

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Wenn ein Aphorismus – ein “geistreicher Sinnspruch” – auch noch nach Jahrhunderten frisch und wahr wirkt, so ist dies gerade auch aus evolutionärer Perspektive interessant. Der Pfarrerssohn und Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) gilt geradezu als Begründer der deutschen Aphoristik – und eine der ihm zugeschriebenen Aussagen über Vorurteile erlebt gerade als Online-Mem neue Popularität.

So habe Lichtenberg angeblich gesagt oder geschrieben:

Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und feststellen, dass plötzlich alle Menschen die gleiche Hautfarbe und den gleichen Glauben haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile.

LichtenbergVorurteileAphorismus18JhtFacebook-Mem von der Facebook-Zitate-Seite Wemeze.

Witzigerweise könnte es sich ausgerechnet bei diesem medial weit verbreiteten Aphorismus selbst um ein Vorurteil bzw. gar eine virale Fälschung handeln – zumindest habe ich für dieses Zitat bislang bei Lichtenberg keinerlei eindeutige Quelle finden können. Stattdessen finden wir Entsprechendes bei seinem Zeitgenossen Friedrich II. (1712 – 1786). In der “Kritik der Abhandlung ‘Über die Vorurteile'” schreibt der Preußenkönig rationalistisch Argumentierenden ins Stammbuch:

Ich möchte beinahe versichern, daß in einem Staat, wo alle Vorurteile ausgerottet wären, keine dreißig Jahre vergehen würden, ohne daß man neue aufkommen sähe; worauf die Irrtümer sich mit Geschwindigkeit ausbreiten und das Ganze wieder überschwemmen würden. Wer sich an die Phantasie der Menschen wendet, wird allemal den besiegen, der auf ihren Verstand einwirken will.

Doch warum haben wir Vorurteile, wenn sie doch auch schaden können?

Die Evolutionspsychologie kennt bisher zwei Haupt-Thesen für die menschliche Neigung, auch immer neue Vorurteile hervorzubringen.

So gelten Vorurteile 1. als heuristische Abkürzungen – das heißt, sie erlauben eine schnelle Einordnung von Informationen durch “Vorsortieren”, statt jeden Fall erst umfassend neu zu bewerten. Gelegentliche Irrtümer und Fehler seien dafür ein gerechter Preis. Lichtenberg selbst schreibt dazu in Kapitel 2 seiner “Sudelbücher”:

Die Vorurteile sind so zu reden die Kunsttriebe der Menschen, sie tun dadurch vieles, das ihnen zu schwer werden würde bis zum Entschluß durchzudenken, ohne alle Mühe.

Die zweite, möglicherweise zum ersten ergänzende Hypothese verweist darauf, dass Vorurteile 2. der Festigung von Gruppenzugehörigkeiten dienen. Die Zugehörigkeit zu eher überschaubaren Gruppen war für unsere Vorfahren über Hunderttausende von Generationen hinweg unverzichtbar für Überleben und erfolgreiche Fortpflanzung – entsprechend “hart” verhandeln und bewachen schon Kinder ihre jeweiligen Gruppengrenzen (samt dem Ausschließen und Mobben). Indem “wir” uns über “die” erheben, versichern wir uns gegenseitig unserer Treue. Leicht kann das Ganze dann in sog. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit umkippen, die sich interessanterweise fast immer gegen mehrere Menschengruppen richtet (denn es geht ja eigentlich um die Festigung der “eigenen”). Lichtenberg war mutig und keck genug, auch gegen diesen Zug zu sticheln

Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?

Und so schließe ich also – als Piefke, Kartoffel, Gutmensch und Religiot – mit einem bemerkenswerten Video zum Thema “Vorurteile” aus Wien, Österreich:

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

8 Kommentare

  1. Pingback:Sinn und Funktion von Wahrnehmungsfehlern – serendipitim

  2. Denken ist eine relativ simple Mustervergleichsaktivität – die sich mit nur 3 Regeln beschreiben lässt.
    Die erste Regel ist:
    Als Reaktion auf einen neuen Reiz wird sofort eine möglichst vergleichbare eigene Erfahrung RE-AKTIVIERT. Diese wird kurzzeitig zu unserer aktuellen Wirklichkeit.
    Danach kommt die Plausibilitätsprüfung.
    Eine reaktivierte Erfahrung besteht aus Wissen, Körperreaktion, sinnlichen und emotionalen Bestandteilen – und ist zeitlich in der Gegenwartsform.
    Dieses RE-AKTIVIEREN eigener Erfahrungen ist eine Überlebensfunktion. Dami können wir schnellstens reagieren. Schnelligkeit geht vor Genauigkeit/Richtigkeit.

    Dies bedeutet aber auch, dass unsere erste Reaktion oft ein Vorurteil sein kann. Allerdings haben wir in der Regel genug Zeit, unser erstes Vorurteil zu korrigieren!
    Das RE-AKTIVIEREN möglichst vergleichbarer eigener Erfahrungen bedeutet, dass nur wir auf Grundlage eigenen Wissens verstehen, was wir erleben – dies ist z.B. eine Ursache von Empathie, Theorie of Mind.
    Oder anders gesagt: eine gute Allgemeinbidung und eingeübtes soziales Verhalten bedeutet, dass wir über soviel eigenes Wissen verfügen, dass das erste Vorurteil nicht zu fehlerhaft ist.

  3. Lieber Michael,

    Tolles Video und inspirierender Gedanken zum Thema “Sinn von Vorurteilen” (Feindbildern).

    Mein (selbstgestrickter) Aphorismus dazu:

    “Vorurteile sind starke Abwertungen, deren Irrtum dadurch erkennbar wird, dass bei Äußerung und Anwendung eine nachhaltige Sicherung der eigenen Überlegenheit misslingt.”

    Schönes Wochenende

  4. Ich recherchiere den angeblichen Lichtenberg-Satz auch schon eine Weile, vor allem da mir die Diktion so gar nicht zu Lichtenberg zu passen scheint. Ausser auf Dutzenden Zitate-Sites, wo er immer ohne genaue Quelle auftaucht, konnte ich ihn bisher nicht finden. In mehreren Fällen steht er neben Sätzen, denen nicht nur Lichtenberg, sondern auch das Werk, in dem der Satz veröffentlicht wurde, zugeordnet ist. Seltsam.

    Aus dem Stegreif scheint mir auch die Nennung der Hautfarbe für Lichtenbergs Zeit unpassend.

    Selbstverständlich ist meine Recherche nicht umfassend genug, um ein Negativum auch nur im Ansatz zu belegen – was eh nicht geht. Ein Beleg für die Authentizität kann ich aber auch nicht finden, was sehr dafür spricht, dass wieder einmal Unsinn verbreitet wird.

  5. Vielen Dank für den hilfreichen Nachweis auf Friedrich II.! Bei Lichtenberg findet sich das Zitat nicht, zumindest nicht in den Sudelbüchern und im Briefwechsel (digital geprüft), dürfte also falsch zugeschrieben sein.(Kalenderaufsätze und Streitschriften sind noch zu prüfen). Siehe auch die Sammlung “Lichtenbergs Enten” auf der Website der Lichtenerg-Gesellschaft, Rubrik “Aktuelles”..

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