Die Venus aus dem Eis von Nicholas Conard und Jürgen Wertheimer
BLOG: Natur des Glaubens
Die so genannte Venus vom Hohle Fels hat nicht nur den Blick auf die lange Dominanz weiblicher Darstellungen in der menschlichen Kunst(vor)geschichte und die ggf. unterschätzte Rolle der Frauen in der Evolution von Religiosität und Religionen gelenkt. Sie hat auch ein neues Nachdenken über die Kultur und Lebenswelt in der mitteleuropäischen Steinzeit beflügelt. Mit der "Venus aus dem Eis" (mit Leseprobe im science-shop) ist nun ein neuer Urzeit-Roman erschienen, zu dem sich der Ärchaologe Prof. Nicholas Conard und der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer zusammen gefunden haben.
Zum Fund vorab ein Video von naturevideo, das den Fundort und neben Conard auch die eigentliche Finderin, Maria Malina, gebührend würdigt. Ärgerlich ist nur der mißlungene Videotitel – die Venus vom Hohle Fels war sicherlich kein "prähistorisches Pin-Up"…
So interessant die Fundbeschreibungen sind, machen sie die Funde jedoch noch nicht in der Vorstellung der Menschen lebendig. Dabei wuchsen Generationen junger Süddeutscher mit dem "Rulaman" auf, der die Geschichte eines Jugendlichen im Ausgang der Steinzeit erzählt. Die fortwirkende Begeisterung für Urgeschichte bildet sich auch im hervorragenden Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen ab, dem in den letzten Jahren eine Fülle beeindruckender Funde (darunter die "Venus aus dem Eis") und Ausstellungen gelungen sind.
Und in der Tat: Wer "Die Venus aus dem Eis" liest, entdeckt: Der Steinzeitroman ist erwachsen geworden. Endlich werden nicht mehr nur heutige Charaktere in Felle gehüllt und mit Speeren bewaffnet, sondern Versuche unternommen, das unterschiedliche Denken, Fühlen und Sprechen von früheren Homo sapiens und Homo neanderthalensis zu erschließen. Das liest sich nicht immer leicht und muss in Teilen immer Spekulation bleiben – entwickelt aber diese Romangattung zu einer eigenen Chance auf Erkenntnis und Entdeckung. "Die Venus aus dem Eis" setzt hier Maßstäbe.
Spannend ist auch, dass sich die Romanerzählung erkennbar an einem Scheideweg befindet: Einerseits beschreiben die Autoren in gelungenen Einschüben die Bedeutung von Kultur und Kunst, weiblich konnotierter Figurinen und der zentralen Bedeutung von Müttern und Kindern in der Evolution des Menschen. Dennoch fallen sie immer wieder in die klassischen Szenarien jagend-gestaltender Männer und schwach in der Höhle kauernder Frauen zurück, während die meisten Frauen namenlos bleiben, als Beute der Jäger fungieren, Großeltern (v.a. Großmütter) und Mädchen völlig unsichtbar und unbedeutend bleiben. Auch die Neandertaler-Heldin Khar wird von ihren (religiösen) Erfahrungen eher getrieben, erinnert sich ihrer Mutter kaum und erhält auch selbst keine Chance, ihre Kenntnisse und Fertigkeiten an kommende Generationen weiter zu geben. Die Traditionen weiblich konnotierter Symbolkunst über Jahrzehntausende hinweg wird so sicher unterschätzt.
Gerade aber dass ein Roman – ergänzt durch gelungene Fachinformationen – solche Überlegungen mit sich bringen und den Wunsch nach weiteren, noch breiteren Narrativen auslösen kann, spricht für ihn. Conard und Wertheimer haben eine Tür nicht nur in urzeitliche Szenarien, sondern auch in die Forschungen zu Gedanken- und Gemeinschaftswelten unserer steinzeitlichen Vorfahren aufgestossen. Wer sich darauf einlässt, sieht die Menschheitsgeschichte mit neuen Augen – und entdeckt neue Fragen. Indem die Autoren Wissenschaft und Erzählung mutig verbunden haben, haben sie Bleibendes geschaffen. Der "Venus aus dem Eis" ist eine große und bunte Leserschaft zu wünschen!
Buch
Weiterempfehlbar!!