Die Shaker – Kurze Blüte, kinderlos

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Die Shaker bilden ein in der Öffentlichkeit sehr viel weniger bekanntes Beispiel als die (hier bereits vorgestellten) extrem kinderreichen Amisch People: Eine Religionsgemeinschaft, die ebenfalls Leben und Fortpflanzung ihrer Mitglieder tiefgreifend beeinflusste, nur in die entgegen gesetzte Richtung: Alle Miglieder solten streng keusch und monastisch nach Geschlechtern getrennt leben, die Geburtenrate lag nahe null, stattdessen verbreiterten sich die Shaker per Mission und Adoption.

Der Name der Gemeinschaft (engl. Shaker "Zitterer, Schütteler") war ursprünglich ein Spottname, der – ein häufiges Phänomen, vergleiche die Quäker – schließlich als Selbstbezeichung angenommen wurde. Er verdankt sich den rituellen und nach Geschlechtern getrennten Formationen der oft in Trance und Ekstase mündenden Gebetstänze der Gemeinschaft, die zeitweise Zuschauer von nah und fern anlockten. Hier ein Holzstich von 1840.

Hauptgründerin der Bewegung war die englische Schmiedstochter Ann Lee (1736 bis 1784), die mehrere Kinder verloren und eine unglückliche Ehe durchlebt hatte, als "Mutter Ann" mit der erwarteten Wiederkunft Jesu verknüpft wurde und innerhalb ihrer Gemeinschaft den Verzicht auf Ehe, Sexualität und Fortpflanzung durchsetzte. Das gemeinschaftliche Leben, von religiösen Ritualen, kreativer Spiritualität und erfolgreicher Wirtschaftstätigkeit geprägt, sprach auch nach ihrem Tod noch viele Konvertiten an: Um 1826 bestanden 17 Siedlungen mit über 6.000 Anhängern, um die sich weitere Freunde und Sympathisanten gruppierten. Zwar gab es – wie so häufig gegen religiöse Minderheiten – auch Anti-Shaker-Agitatoren, die der Gemeinschaft Irrlehren, Unzucht und Verschwörung vorwarfen, doch zunehmend erwarben sich die friedfertigen, gesetzestreuen und fleißigen Anhänger Ansehen vor allem mit ihrer Spiritualität, Musik und Handwerkskunst (Shaker-Möbel, Shaker-Boxen etc.).

Religionsdemografische Sackgasse

Aber die Regeln des religionsdemografischen Wettbewerbs waren und sind unerbittlich: Der Mangel an eigenen Kindern führte unweigerlich zu Überalterung, nachlassender Attraktivität für Konvertiten und schließlich auch wirtschaftlichem Verfall, der durch Trittbrettfahrer (sog. "Winter Shaker") noch verschärft wurde. Bereits 1889 musste die erste Shaker-Siedlung wieder aufgegeben werden, schon drei Jahre später die zweite usw. Das Verbot der Adoption von Kindern durch Religionsgemeinschaften in den USA ab 1960 verschärfte die Implosion weiter und heute ist der Besitz der letzten Shaker-Siedlung mit noch einer Handvoll älterer Mitgliedern bereits einer Stiftung mit Museum überschrieben. 

Vergleich Amische – Shaker

Weder bei den Amischen noch bei den Shakern lässt sich das Reproduktionsverhalten ohne den Faktor Religion erklären. Während die Amischen jedoch eine extrem kinderreiche Kultur begründeten und dabei auf Mission verzichteten, versuchten die Shaker den umgekehrten Weg: Die Mitgliederbasis allein durch Mission und Adoption zu erhalten. Obwohl die Shaker (im Gegensatz zu den Amischen) kaum Verfolgungen, Inhaftierungen etc. zu durchleiden hatten, scheiterte ihre Strategie. Während die Amischen heute bei fast exponentiellem Wachstum jährlich neue Siedlungen mit tausenden Mitgliedern zu gründen vermögen, steht die Geschichte der Shaker vor dem Ende.

Reproduktionserfolg durch Wettbewerb

Wie Friedrich August von Hayek zu Recht vermutet hatte, organisiert sich der durchschnittliche Reproduktionserfolg ("reproductive benefit" als biologischer Erfolgsmaßstab) religiöser Vergemeinschaftung im kulturellen Wettbewerb selbst (vgl. Artikel dazu): Unter den abertausenden Gründungen der Vergangenheit und Gegenwart überleben mittel- und längerfristig stets nur jene Gemeinschaften und Lehren, die Familiengründungen erfolgreich fordern und fördern. Religiosität als biologische Veranlagung und Religionen als kulturelle Produkte erweisen sich damit (neben Musik und Sprachen) geradezu als Paradebeispiel biokultureller Evolution.

Lesetip: "The Shaker Experience in America", von Stephen Stein, Yale 1994.  

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

17 Kommentare

  1. Hm

    Ich frage mich, ob der fehlende Nachwuchs zum Verschwinden der Shaker führte oder ob es nicht doch eher an diesen exotischen Inhalten der Glaubensform lag, die abstößt. Was ist denn mit Nonnen und Mönchen? Die bekommen auch keine Kinder, haben aber bisher immer genügend “Nachwuchs” gehabt. Heutzutage nicht mehr so, aber das liegt dann wohl eher am Zeitgeist der westlichen Kultur (was man so Kultur nennt).

  2. @ Martin: Helfer am Nest

    Lieber Martin,

    die Glaubensinhalte der Shaker haben damals und bis heute breite Beachtung gefunden – sie hatten über Jahrhunderte hinweg Konvertiten! Ihr Niedergang hatte klar demografische Ursachen, übrigens auch in der Eigenwahrnehmung (in Schriften bedauern sie z.B. den Mangel an jungen Leuten).

    Zölibatäre im Rahmen großer Religionen (wie des Christentums, Buddhismus, Jainismus etc.) fungieren dagegen als “Helfer am Nest”: Sie verzichten zwar selbst auf Nachwuchs, fördern aber den Geburtenreichtum ihrer Gemeinden. Dazu gehören Predigt (z.B. für Familien, gegen Abtreibungen etc.), Ehesegnungen, Heilung, Streitschlichtung etc. – vor allem aber der Betrieb von Familiendiensten wie Schulen, Kindergärten, Hospize etc. In katholischen Ländern war z.B. der Betrieb kinderfördernder Einrichtungen bis ins 20. Jahrhundert fast vollständig Sache der Kirche – und mit dem Einbruch der Zölibatären und der Schließung der Einrichtungen brach auch die Geburtenrate in den Ländern ein (so dass heute Länder wie Italien, Spanien und Polen sehr niedrig rangieren, wogegen z.B. Frankreich das Vakuum staatlich füllte). Ein Demgrafenteam um Eli Berman errechnete sogar einen Index von “295 Kindern pro Nonnen” (woran ich aber Zweifel habe)!

    Zum Thema Zölibat gäbe es noch sehr viel zu schreiben – ich werde es, versprochen, mal als eigenen Beitrag aufgreifen. In Gott, Gene und Gehirn widmen wir ihm mehrere Kapitel, auch mit Daten und Fallstudien.

    Herzliche Grüße!

    Michael

  3. Zu viele Faktoren

    Ich finde das Thema sehr komplex und mit zu vielen Faktoren bestückt als daß man so eine klare Ursache ausmachen könnte.

    Es gab schon immer Strömungen, Gruppen, Sekten im Christentum, die aufblühten und dann wieder verschwanden. Im NT schon kann ich von Strömungen und Irrlehren lesen, von denen man heutzutage nicht mehr viel weiß. Und die sollten alle an zu wenig Nachwuchs “verschwunden” sein.

    So lange haben die Shaker ja nicht durchgehalten. Von ca. 1750 bis jetzt ist es nicht sehr lang. Und wieso hatten sie Zulauf und plötzlich nicht mehr? Die hatten ja auch früher nichts mit Kinderkriegen am Hut. So gesehen hätte es sie nur fünfzig Jahre geben müssen. Aber sie gab es länger, weil sie missionierten. Haben sie die Mission eingestellt oder warum kamen keine mehr nach? Oder war ihre Botschaft nicht mehr aktuell?

    Es gibt ja alles mögliche an Nonnen und Mönche. Nicht wenige sind sehr zurückgezogen, manche haben ein Schweigegelübde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich im Dienst der Gesellschaft und des Nachwuchses stellten. Einige von denen beten stundenlang am Tag und wählen diese Zurückgezogenheit, um eben Beten zu können. Sehen sich quasi in einer Stellvertreterposition, um beten zu können, weil die anderen nicht die Zeit dazu haben. Das sind eher keine Helfer am Nest.

  4. @ Martin: Absolut!

    Lieber Martin,

    ja, da sind wir uns völlig einig! Religionsgeschichte ist, wie jede Menschheitsgeschichte, immer ein multidimensionales Geschehen. Und es gibt jährlich Hunderte von Religionsgründungen, die nicht einmal die Wahrnehmungsschwelle von Öffentlichkeit oder Wissenschaft erreichen, bevor sie wieder eingehen.

    Genau deswegen sind Fallstudien interessant, in denen bestimmte Faktoren besonders deutlich auftreten: Z.B. Verschwörungstheorien zur Sicherung der eigenen Mythologien bei UFO-Kulten oder eben die besonders kinderreiche Amisch-Kultur (die auf Mission verzichtet) versus der allgemein zölibatären Shaker-Kultur (die sich lange durch Mission hielt, dann aber mangels Kindern einging). Für die Zukunft habe ich mir z.B. auch mal vorgenommen, über die Beuteverteilung bei den Kung San zu schreiben usw.

    Kurz geschrieben: Fallbeispiele sind m.E. eine wertvolle Ergänzung, um die Wirkung bestimmter Faktoren in der Religionsgeschichte heraus zu arbeiten – ohne dass irgendein Fallbeispiel alleine die Komplexität globalen, religiösen Lebens abbilden könnte.

    Mit herzlichen Grüßen!

    Michael

  5. Die Gründungen von Religionsgemeinschaft basieren auf dem Rohstoff des vorhandenen religiösen Potenzials im Menschen. Da übernatürliche Akteure notwendig sind, kommen da auch große zufällige und irrationale Varianzen ins Spiel, die abhängig von den individuellen Befindlichkeiten der Religionsstifter eine ganze Bandbreite an seltsamen Konzepten enthalten können. Daraus, dass viele Religionen auch mit einem gehörigen Ballast zu recht kommen, erkennt man das grundsätzlich enorme evolutionäre Potential, das in dem religiösen Konzept steckt.

  6. @ adenosine: Ja! Danke!

    Liebe adenosine,

    jetzt bin ich wirklich und ganz ehrlich baff! Denn ich hatte auf Martins völlig berechtigten Beitrag hin überlegt, dass ich vielleicht noch deutlicher machen müsste, dass die Fallstudien letztlich dem Abstecken realisierter Potenziale dienen – und genau diesen Gedanken und diese Formulierung hast Du jetzt in sehr prägnanter Weise geprägt!

    In gewisser Hinsicht kann ich mir schönere Rückmeldungen kaum vorstellen als jene, die zeigen, dass an den eigenen Arbeiten längst selbständig angeknüpft wird. Ein ganz großes Danke dafür! Und sollten wir uns einmal im echten Leben begegnen, geht das Apfelschorle beim sicher fröhlichen Gedankenaustausch komplett auf mich! 😉

    Mit ganz herzlichen Grüßen

    Michael

  7. Helfer am Nest

    Michael und Martin,

    ich glaube, um die Problematik enger einzugrenzen, muß man tatsächlich die soziobiologische Theorie heranziehen, nach der Kinderlosigkeit oder Kinderarmut einzelner in der Evolution ermöglicht wurde dadurch DASS diese Kinderlosen und Kinderarmen den Kinderreichtum genetisch (oder kulturell) nahe oder entfernt Verwandter gefördert haben.

    An welcher Stelle kann dies von den Shakern gesagt werden? Selbst für viele Mönche und Nonnen wird man das so unmittelbar und direkt nicht sagen können. Das katholische Leben INSGESAMT aber hat über tausend Jahre auf der Kinderlosigkeit der intellektuellen und “moralischen” Elite (moral entrepreneurs) beruht. Sie gewannen (erst) aufgrund ihres Verzichtes moralisches Ansehen in der Gesellschaft.

    Das ständige sozial Aufeinanderbezogensein von asketisch Lebenden und nicht-asketisch Lebenden DURCH eine religiös bestimmte Glaubens- und Lebensform liegt ja wohl bei den Shakern nicht vor. Sie haben keine gemeinsame Gruppe mit sich fortpflanzenden Menschen gebildet.

  8. @ Ingo: Zustimmung

    Lieber Ingo,

    ja, da sind wir beieinander. Wobei die Shaker m.E. ein schönes Beispiel dafür sind, wie Entwürfe auch einfach “scheitern”. Für die biologische und kulturelle Evolution gilt eben gleichermaßen: Nur ein Bruchteil der Varianten ist am Ende erfolgreich (und bringt dann neue Sub-Varianten hervor). Von den tausenden von Religionsgemeinschaften (und auch Hunderten zölibatären Modellen) werden sich immer wieder nur wenige bewähren – und manche, die unter früheren Bedingungen erfolgreich waren (z.B. der Agrargesellschaft, in denen Kinder Einkommen und Altersversorgung sind und also auch ökonomisch angestrebt werden), sind es unter anderen Bedingungen vielleicht nicht mehr (z.B. im Rahmen der Kapitalwirtschaft, in dem Kinder im Vergleich zu Zinsanlagen zum ökonomischen Verlustgeschäft werden und also die Geburtenraten einbrechen). Es ist also nicht jeder Zölibatäre ein erfolgreicher Helfer am Nest – aber (auch) Zölibatäre haben grundsätzlich das Potential, diese Funktion zu erfüllen: bei den Jains in Indien übrigens in komplett anderen Strukturen wie bei Mönchen und Nonnen in Europa.

    Wie bereits geschrieben: Ein eigener Beitrag zum Stand der soziobiologischen und religionsdemografischen Zölibat-Forschung ist für die nahe Zukunft zugesagt. 🙂

    Herzliche Grüße

    Michael

  9. Scheitern (von Gruppen)

    Offenbar ist ja das (biologische) Scheitern von Gruppen in der Humanevolution etwas sehr häufiges. Die ersten Bauern Europas, die Bandkeramiker, sind genetisch weitgehend ausgestorben (wie vor einigen Jahren bekannt wurde) – und das war ein riesiges Volk vom Schwarzen Meer bis zur Kanalküste.

    Jüngst wurde bekannt, daß die ethnische Gruppe (oder genetische Linie), der der Ötzi (am Beginn der Bronzezeit, 3.300 v. Ztr.) angehörte, heute als weitgehend ausgestorben gelten muß.

    Von den Etruskern ist noch kein eindeutiges Ergebnis bekannt, manches deutet aber darauf hin, daß zumindest ihre Eliten ebenfalls als ausgestorben angesehen werden müssen.

    Andererseits wissen wir daß die Gene für Blauäugigkeit, Hellhäutigkeit, Erwachsenen-Rohmilchverdauung wahrscheinlich erst mit den ersten bäuerlichen Gesellschaften entstanden sind. Da die Bandkeramiker ausgestorben sind, deutet alles auf die erste bäuerliche Kultur im Ostseeraum, auf die Trichterbecherleute hin. Und deren Kultur entstand auf engem Raum in Ostholstein (nach den neuesten archäologischen Daten), also möglicherweise ebenfalls aus einer Gründerpopulation, einer Flaschenhalspopulation heraus.

    Da wir für die aschkenasischen Juden ähnliches heute annehmen, wird allmählich ein klareres Bild deutlich, wie Humanevolution überhaupt stattfindet: Genetisch und kulturell weniger angepaßte Gruppen sterben aus, besser angepaßte Gruppen bevölkern oft von sehr kleinen Ursprungsräumen und -populationen ausgehend weite Regionen, die zuvor von großen – anderen, ausgestorbenen – Völkern besiedelt worden waren.

    Bliebe nur noch zu klären, ob solche Prozesse richtig mit dem Begriff “Gruppenselektion” benannt sind. Meiner Meinung nach aber schon.

  10. @ Ingo: Obwohl…

    …ich ja selbst dafür bin, das Prinzip der Grupppenselektion wieder stärker zu berücksichtigen

    http://www.chronologs.de/…ktion-vor-dem-comeback

    sehe ich da keine Chance für eine Rückkehr ethnisch-rassischer Fantasien. Denn menschliche Gemeinschaften sind (fast) immer fluide, setzen sich aus verschiedenen Strömen zusammen, vermischen sich mit anderen etc. Es sind also m.E. schon immer Merkmale, die florieren oder untergehen, nicht aber homogene Gruppen. Diese bilden sich ja immer wieder neu und um. Die Shaker sind übrigens auch dafür ein Beispiel: Die waren ja auch nicht ethnisch völlig geschlossen, auch nicht Gemeinschaften wie die Amischen oder orthodoxe Juden. Der sozialdarwinistische “Streit der Völker” ist m.E. wesentlich ein Konzept der Vergangenheit.

  11. Ab-schaffen oder Auf-klären

    Hallo Herr Dr. Blume,

    was in Ihrem Beitrag sowie den Kommentare wieder zum Ausdruck kommt zeigt, dass Religionswissenschaft (auch wenn dies das Studienfach nicht vorsieht), nach den Grundlagen des Glaubens fragen muss. Der kurzfristige Reproduktionserfolg des Aberglaube führt letztlich ebenso ins Abseits, wie auch der Atheimus nicht das bringt, was sich die Aufklärer erhofften.

    Shaker und Amisch sind nur Wasser auf die Mühle der Brights, mit denen ich mich derzeit über das Verständnis eine “kreativen=schöpferischen” Vernunft als ewiges Wort in evolutionsbiologischer Weltbeschreibung streite. Unter “Ist Glaube vernünftig” nachweisen will, dass verstandbegabte Wesen ein zeitgemäßes Verständnis dessen benötigen, was am Anfang als Wort, kosmische Weisheit und für die anfänglichen Aufklärer universale Vernunft war. Um sich in ihrer Gesamtheit zu reproduzieren, kreativ weiterzuentwickeln, zu wachsen, statt nach und nach im Selbstzweck Selbstvernichtung zu betreiben. Mit Amisch und Shaker ist das nicht zu machen, verkehrt sich jede evolutionäre Begründung des Glaubens ins Gegenteil.

    Viele Grüße von einem Paradigma der kreativen Vernunft
    (das sich, wie unter http://www.theologie-der-vernunft.de neu begründet, auf Papst Benedikt XVI. bzw. dessen Paradigmenwechsel beruft.)

    Gerhard Mentzel

  12. @ Mentzel: Spannend!

    Lieber Herr Mentzel,

    danke für Ihren interessanten Beitrag! Er reißt m.E. ein durchaus faszinierendes Thema an, nämlich den Umstand, dass im Namen der (religiös oder auch säkular legitimierten) “Vernunft” schon oft Freiheitsräume beschnitten wurden.

    So schreiben Sie unter der Überschrift “Ab-schaffen oder Auf-klären”:
    Shaker und Amisch sind nur Wasser auf die Mühle der Brights, mit denen ich mich derzeit über das Verständnis eine “kreativen=schöpferischen” Vernunft als ewiges Wort in evolutionsbiologischer Weltbeschreibung streite.

    Dazu kann ich nur sagen: Weder Amische noch Shaker sehen sich in diesem Kontext – und mit welchem Recht wollen wir anderen Menschen ihre Lebensart verbieten, solange sie anderen nicht schaden? Wenn sich hinter dem Evolutionsprozess eine “kreativ-schöpferische Vernunft” verbirgt, wie Sie glauben – gehört zu dieser dann nicht notwendig die Vielfalt und also die Freiheit? Haben nicht dagegen vermeintlich rationalistische Ideologien, die Entwicklungen planen und Freiheiten Andersdenkender dafür einschränken wollten, nicht wieder und wieder ihr Scheitern bewiesen?

    Ob in Natur oder Kultur: Ohne Variation keine Evolution. Freiheit – und Respekt für andere Lebenswege – scheinen mir daher unverzichtbare Werte zu sein, wenn man die Evolution schon normativ deuten will.

  13. @ Michael

    Hallo Michael,

    das ist aber eine merkwürdige Interpretation meines Beitrages in Deiner Antwort.

    Habe ich gesagt, daß es NUR ethnische Gruppen sein müssen, die scheitern oder erfolgreich sind? Habe ich gesagt, daß die Bandkeramiker eine ethnisch oder rassisch homogene Gruppierung waren? Die bisherigen anthropologischen Befunde sprechen deutlich dagegen. OBWOHL die Bandkeramiker aus einem sehr kleinen Kernraum heraus sich über ganz Europa ausgedehnt haben, weisen sie eine vergleichsweise hohe anthropologische Variabilität auf. DENNOCH können auch Gruppen hoher genetischer Variabilität – wie eben auch die Shaker – aussterben (oder weitgehend aussterben).

    DARAUF wies ich hin. Über die genetische Homogenität oder Inhomogenität von Gruppen sagte ich gar nichts. Das ist ein ungeheuer weites Feld, so weit ich sehe.

    Ich führte ja schon aus, daß zum Beispiel das Prinzip Arbeitsteilung eine Vergrößerung der genetischen Inhomogenität von Gesellschaften ermöglicht, ohne daß dabei grundlegende Altruismus-Zusammenhänge, die bei kleinen Gruppen vorliegen, gänzlich verloren gehen müssen.

    Ob es da eine Obergrenze genetischer Inhomogenität gibt, ist ÜBERHAUPT nicht geklärt.

    Blauäugigkeit und Rohmilch-Verdauung sind doch EBENFALLS genetische Merkmale, die in genetisch ganz inhomogenen Gruppen auftreten. Verstehe ich nicht, wie Du mich da offenbar so falsch verstehen konntest.

  14. @ Ingo: Diesen Satz…

    Da wir für die aschkenasischen Juden ähnliches heute annehmen, wird allmählich ein klareres Bild deutlich, wie Humanevolution überhaupt stattfindet: Genetisch und kulturell weniger angepaßte Gruppen sterben aus, besser angepaßte Gruppen bevölkern oft von sehr kleinen Ursprungsräumen und -populationen ausgehend weite Regionen, die zuvor von großen – anderen, ausgestorbenen – Völkern besiedelt worden waren.

    …habe ich als einen genetischen Wettbewerb der Völker gelesen, wie ihn Darwin und spätere Sozialdarwinisten durchaus gesehen haben, der aber heute so nicht stehen bleiben kann. Denn sehr selten sterben komplette Völker oder Gruppen aus, stattdessen gehen sie regelmäßig mindestens teilweise in neuen Gemeinschaften auf, “innerhalb derer” sich bestimmte Merkmale über Fitnessvorteile durchsetzen. Selbst religiös deutlich abgegrenzte Gemeinschaften wie die orthodoxen Juden oder Amischen standen immer im auch genetischen Austausch mit ihrer Umgebung, verloren Mitglieder und nahmen neue auf. Es kann sein, dass Du das als selbstverständlich voraus setzt: Aber bitte bedenke, dass ggf. Leute mitlesen, für die Evolutionsbiologie etwas ganz Neues ist.

  15. Wettbewerb u. Gruppenselektion

    Ok, Michael, ich verstehe, was Du meinst und Deine Ergänzungen halte ich auch für wichtig.

    Allerdings ist es schon hochgradig frappierend, wenn sich von einem bestimmten genetischen Muster, das typisch war für so eine riesige Kultur wie die Bandkeramiker (in Knochen gefunden, die sehr weit über Europa verstreut waren), sich heute so gut wie GAR nichts mehr im Genom der Europäer findet. Das würde heißen nach meiner Interpretation:

    Ja, die Nachfolgekulturen der Bandkeramiker könnten aus Vermischung von Zuwanderern und Einheimischen entstanden sein. Aber auch die Nachfolgekulturen der Bandkeramiker hatten WIEDER Nachfolgekulturen, die sich WIEDER vermischten und neue selektive Regime einrichteten. (Auf Hinkelstein-Kultur folgte Glockenbecher-Kultur, folgte … etc. etc. pp..)

    Und da es in Europa mehrere solcher Kulturzusammenbrüche und darauf folgenden kulturellen Neuaufbau gegeben hat (wie man im archäologischen Befund sieht) (bis zum Frühmittelalter), können im Laufe der Jahrtausende durchaus sehr scharf umrissene genetische Signaturen, die eben typisch waren für archäologisch bekannte Kulturen, sehr weitgehend verloren gegangen sein. Ich finde das spannend.

    Und für das Volk des Ötzi vor 5.000 Jahren im Alpenraum scheint ähnliches zu gelten. (Vielleicht auch für die Etrusker.) (Auch für antike Griechen und Römer gibt es dafür viele Hinweise.)

    Auch von den aschkenasischen Juden können wir derzeit nur ungefähr nachzeichnen, wohin die genetischen Wurzeln reichen (zum Teil in den östlichen Mittelmeerraum, zum Teil wohl an den mitteleuropäischen Rhein). Wir wissen (bisher!, noch!) NICHT welch ein Reichtum an genetischer Vielfalt in der Jahrtausende alten jüdischen Geschichte bis heute eigentlich verloren gegangen ist oder verloren gegangen sein könnte.

    Und Du hast recht, man muß wohl auch folgendes unterscheiden: Bevölkerungswachstum und Wachstum an gesellschaftlicher Komplexität können neue Nischen schaffen, die es gar nicht nötig machen, daß zuvor Menschengruppen aussterben, damit neue sich ausbreiten können. So denke ich zum Beispiel, daß die aschkenasischen Juden in Mitteleuropa niemanden “verdrängen” mußten, um zu einem 10 Millionen Volk heranzuwachsen, sie wuchsen einfach mit der umgebenen Bevölkerung mit, die ja ebenfalls eine Vervielfachung erlebte in den letzten 1.500 Jahren.

    DAS ist eben für mich die Frage, inwieWEIT all solche Prozesse als “WETTBEWERB” verstanden werden müssen, UM sie “Gruppenselektion” nennen zu können oder dürfen. MEINER Meinung nach NICHT. DENN: Wesentlich wäre für mich für Gruppenselektion nur, daß Menschen sich Gruppen zugehörig fühlen und auch aus dem Bewußtsein dieser Gruppenzugehörigkeit sich ihr Handeln leiten lassen.

    Dann würde das Anwachsen oder Schrumpfen von Gruppen AUCH auf unterschiedlichen Einstellungen zum jeweiligen Gruppenbewußtsein, Gruppenverständnis beruhen, OHNE daß sich das manifestieren muß in einem bewußten (gar noch bevölkerungsbiologischem) WETTBEWERB mit anderen Gruppen. Letzteres ist doch arg sozialdarwinistisch-materialistisch gedacht.

    Und die Zeit des Nationalsozialismus und danach hat doch meiner Meinung nach gezeigt, daß das damalige Handeln nicht eine besonders gute evolutive Anpassung gewesen sein kann (um von moralischen Bewertungen hier zunächst ganz abzusehen).

    Die Nazis haben es ja bespielsweise auch trotz aller Propaganda noch nicht einmal besonders gut geschafft, die Geburtenrate zu heben, was eben meiner Meinung nach zeigt, daß Materialismus und Inhumanität – abgesehen von ihrer Unmoral – ZUGLEICH auch nicht besonders gute evolutionäre Anpassungen darstellen – zumindest in heutiger Zeit, nachdem wir uns durch das Christentum von unserer jäger-sammler-zeitlichen “Menschenfresser”- und gegenseitigen Gruppen-Totschlag-Mentalität (zumindest im niveauvolleren gesellschaftlichen Bewußtsein) (hoffentlich) eigentlich abgewendet haben sollten.

    Das muß aber NICHT heißen, daß nicht auch die heutigen individuellen und gesellschaftspolitischen Entscheidungen DANN besonders günstig evolutionär angepaßt sein könnten, wenn man sein Handeln dabei AUCH von seinem Bewußtsein einer Gruppenzugehörigkeit leiten läßt (was ja offensichtlich für fast jeden für uns auch der Fall ist).

    Im deutschen Grundgesetz und im Eid der Politiker ist dieser Gruppenbezug sehr deutlich festgelegt. Politiker schwören, “dem Wohl des deutschen Volkes zu dienen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden”. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben das niemals dahingehend verstanden, daß das auf KOSTEN anderer Völker gehen sollte, sondern im friedlichen Zusammenwirken mit ihnen.

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