Die Renaissance der russisch-orthodoxen Kirche im religiös vielfältigen Russland

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Der Volksmund weiß schon lange, was sich religionssoziologisch heute klar bestätigt: “Not lehrt beten” – unter den Bedingungen existentieller Sicherheit schmilzt religiöses Engagement dagegen tendenziell ab. Deswegen erfolgte nach den Jahrzehnten der staatlichen Unterdrückung in den Gebieten der ehemaligen DDR – in denen der bundesdeutsche Sozial- und Rechtsstaat eingeführt wurde – kaum eine Belebung der religiösen Landschaft. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion dagegen, in denen das staatliche und wirtschaftliche Leben über lange Zeit praktisch zusammenbrach, erfolgte eine religiöse Renaissance.

Religiöse Vielfalt in Russland

Und diese religiöse Belebung erfolgt(e) in Russland – um das erste, populäre Vorurteil zu widerlegen – nicht nur zur russisch-orthodoxen Kirche. Nach einem Zensus von 2012 bekannten sich 41% der russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zur russisch-orthodoxen Kirche (ROK), aber auch 6,5% als Muslime, 6% zu anderen christlichen Traditionen und je unter 1% zu anderen Weltreligionen usw. Entsprechend erkannte das russische Parlament schon 1997 vier Religionen per Gesetz als “Teil des russischen Erbes” an – neben dem Christentum auch den Islam, das Judentum und den Buddhismus. Und auch der russische Staatspräsident Putin – der sich selbst als orthodoxer Christ bekennt – empfängt selbstverständlich immer wieder Delegationen dieser verschiedenen Religionen, so zuletzt eine internationale Delegation von Rabbinern.

Präsident Putin empfängt Vertreter der "anerkannten" Religionen Buddhismus, Islam und Christentum im Kreml, 2001.
Präsident Putin empfängt Vertreter der “anerkannten” Religionen, hier Buddhismus, Islam und Christentum im Kreml, 2001. Bild: www.kremlin.ru

Die russisch-orthodoxe Kirche aber wird, zweitens, als “Symbol der nationalen Einheit” durchaus besonders gefördert – bisweilen (etwa in der Rückgabe von Kirchengütern) auf Kosten anderer, “westlicher” Kirchen. Nicht nur Kinder-, sondern auch Erwachsenentaufen finden seit Jahren in wachsender Zahl statt.

Da der Gottesdienstbesuch aber weiterhin unregelmäßig bleibt, eine Kultur des z.B. ehrenamtlichen “Gemeindechristentums” erst langsam entsteht und es auch keine aktualisierten Mitgliederlisten für (in Russland nicht-existente) Kirchensteuern gibt, war und ist schwer ermittelbar, ob die wachsende Kirchenzugehörigkeit auch tatsächlich mit einer nachhaltig wachsenden religiösen Praxis einhergeht. Ausgerechnet die nationale Steuerbehörde fand dafür nun Belege: Die Einnahmen der ROK aus der “Spendung von Sakramenten und den Verkauf von Kerzen, religiöser Literatur und Ikonen” verdreifachte sich von umgerechnet 31,7 Millionen Euro in 2010 auf 99,3 Millionen in 2013 (ÖkIn der KNA, 8.7.2014, S.12). Und auch die russischen Geburtenraten stiegen zuletzt – auch aufgrund einer beginnenden, staatlichen Familienförderung – wieder an, was Kenner von Religion & Demografie nicht verwundern dürfte. So verdichten sich die Hinweise, dass sich (auch) das Christentum im wieder entstehenden, postsowjetischen Bürgertum langsam neu verwurzelt.

Was ist das für ein Christentum?

In der jahrzehntelangen, sowjetischen Propaganda und dann auch der westlichen Wahrnehmung erschien die ROK als “Zarenkirche”, in der korrupte Geistliche (“Popen”) das alte Regime gestützt hätten, statt dem Volk zu dienen. Es ist also kein Wunder, dass die Wahrnehmungen zum “Zar Putin” vielen westlichen Beobachtern einfach als Wiederherstellung des alten Bündnisses aus Thron & Altar erscheinen – so auch beim Konflikt um die Punk-Band “Pussy Riot”.

Ganz so einfach ist es aber nicht: Während es tatsächlich keinen Mangel an fundamentalistischen und nationalistischen Stimmen auch in den Reihen der ROK gibt (darunter nicht wenige Neukonvertierte), arbeitet die Kirche doch insgesamt die Jahrzehnte staatlicher Verfolgung auf. Vor allem aber entstanden durch Migration und teilweise auch schlicht Flucht zahlreiche christlich-orthodoxe Gemeinden in Europa und Amerika, viele Geistliche und Intellektuelle erwarben Bildungsabschlüsse an “westlichen” Universitäten. Zwischen den (weiter wachsenden!) orthodoxen Kirchengemeinden des Westens entstanden dabei auch zunehmend Begegnungen, Dialoge und Vernetzungen – 2010 gründete sich schließlich die Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD), die beispielsweise mit der katholischen Bischofskonferenz ein Papier über das Verständnis von Zeit & Sonntag und mit der evangelischen EKD ein Papier zu evangelisch-orthodoxen Eheschließungen erarbeitete. Auf lokaler Ebene entstehen immer mehr “orthodoxe Pfarrkonferenzen”, in denen die Geistlichen der verschiedenen Nationalkirchen miteinander und mit anderen Kirchen in Kontakt treten und zunehmend gemeinsam aktiv werden. So bringen sie sich z.B. zunehmend in die katholischen, evangelischen und ökumenischen Kirchentage ein – und in diesem Jahr habe ich zum ersten Mal die Teilnahme eines ROK-Erzpriesters bei einem württembergisch-islamischen Iftar erlebt (was mich auf die Idee zu diesem Blogpost brachte). Zumal es zwischen den Heimat- und Diasporagemeinden der ROK einen zunehmend regen Personalaustausch gibt und die Spenden der Diasporachristen den post-sowjetischen Wiederaufbau unterstützen, darf als sicher gelten, dass solche Erfahrungen auch in die Gesamtkirchen einfließen. Im Ukraine-Konflikt spielten die verschiedenen orthodoxen Kirchen bereits eine deutlich mäßigende Rolle und riefen wiederholt alle Seiten zum Gewaltverzicht auf. 2016 soll sogar wieder ein gesamtorthodoxes Konzil stattfinden – es wäre das erste seit über 1.200 Jahren (!).

Fazit

Nach der jahrzehntelangen Unterdrückung und Vernichtung des russischsprachigen Bürgertums – dem die Welt bedeutende Künstlerinnen, Literaten und Wissenschaftler verdankt – bildet sich langsam und unter Rückschlägen, unterstützt aus der Diaspora, eine neue Zivilgesellschaft heraus. Religionen – und hier besonders die ROK – werden dabei eine wieder prägende Rolle spielen. Der Wiederaufbau der russisch-orthodoxen Kirche stellt dabei keineswegs eine bloße Wiederherstellung der Kirche im Zarenreich dar, sondern erfolgt unter neuen Vorzeichen. Neben fundamentalistischen und nationalistischen Flügeln formieren sich auch ökumene- und dialogorientierte Strömungen, die für Frieden, Menschenrechte und Entwicklung einstehen. Der Dialog und die Zusammenarbeit mit den gesprächsbereiten Flügeln der orthodoxen Kirchen sind daher von großer Bedeutung, wenn es um die Ausrichtung der russischen und anderer Gesellschaften – weit über die Amtszeit von Präsidenten hinaus – geht. Jede(r) kann dabei mit dem Abbau von Vorurteilen auch bei sich selbst beginnen. Die reiche und wechselhafte Geschichte der orthodoxen Kirchen verdient unser Interesse jenseits von Klischees.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

8 Kommentare

  1. Wie in Serbien habe ich das Gefühl die Hinwendung zur Kirche hat bei vielen nationalistische und nicht religiöse Gründe.

    • @Zoran Jovic

      Ja, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Orientierung stehen sicher oft am Anfang – und am Anfang von Neukonversionen steht auch häufig eine schroffe, wenig reflektierte Identität. Allerdings kann und wird sich das auf Dauer – über die Jahre und auch Generationen hinweg – ausdifferenzieren, die steigende Nachfrage nach religiöser Literatur (die ja religiöse Reflektionsprozesse befördern kann), deutet bereits darauf hin. Zur Fairness gehört eben auch die Beobachtung, dass die sozialistisch unterdrückten Kirchen lange Zeit von internationalen und interreligiösen Entwicklungen fast abgeschottet waren. Bei vielen orthodoxen Christen und gerade auch Geistlichen bemerke ich einen enormen, intellektuellen Hunger. Oder anders formuliert: Die teilweise eher nationalistische als religiöse Phase dürfte nicht das Ende der innerorthodoxen Entwicklung sein.

      • Sicherlich ich hab gesagt auch vielen nicht alle. Es gibt sicher eine neue Generation von Leuten die sich damit wirklich auch befasst haben.

        Wobei wenn mich die letzten Statistiken täuschen liegen Staaten wie Makedonien, Rumänien, Ukraine, Serbien in den Top religiösen Ländern in Europa. Eine Entwicklung die hätte niemand auch geaht.

        • @Zoran Jovic

          Exakt – und deswegen wird es so wichtig sein, wie und wohin sich die Kirchen entwickeln, welche Flügel sich durchsetzen. Derzeit werden da Weichen gestellt, die (im Guten oder Bösen) über Jahrzehnte und Generationen wirksam werden können. Darauf wollte ich einfach hinweisen.

  2. Russland ist ein Vielvölker- und Vielkulturenstaat. Eine Rückkehr zu den Wurzeln des russischen Wesens und damit auch zur russisch-orthodoxen Kirche bietet sich als Ersatz für den Internationalismus der für immer aufgelösten Sowjetunion an. Die russisch-orthodoxe Kirche ist also ein Band der Gemeinsamkeit in einem Riesenreich (mindestens von der Fläche her, nicht von der Anzahl der Menschen her), das sich in den nächsten Jahrzehnten noch viel weiter diversifizieren wird als es das heute schon ist. Sicher hat diese Rückkehr zum russisch-orthodoxen Glauben auch nationale und nationalistische Züge und passt in Putins neue Doktrin der “russischen Erde”, welche es heimzuholen gilt ins russische Reich. Andererseits ist ein solcher Rückzug auf das originär Russische wohl nur für die nächsten ein zwei Jahrzehnte, nicht aber für die nächsten 50 bis 100 Jahre möglich, denn heute machen die Russen noch 80% der Bevölkerung aus, aber ihre Zahl schrumpft während der Anteil der Nichtrussen an der Gesamtbevölkerung stark wächst – beispielsweise in Inguschetien oder Dagestan als Beispiel für die nichtrussische Region Kaukasus.

    Russland und besonders Putin befinden sich also in einem Dilemma. Putin will die Machtfülle und internationale Bedeutung der alten Sowjetunion zurück kann aber dazu nur kurz- und mittelfristig auf die alten geistigen russischen Ressourcen zurückgreifen, denn die andern Völker des russischen Vielvölkerstaates werden das Russland von morgen ein ganz anderes Russland verwandeln, in ein Russland in dem das Russisch-Orthodoxe nur noch eine von vielen Fazetten ist.

    Hier zeigt sich also wieder die Macht der Demographie. Denn Verschiebungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung verschieben und erneuern letztlich die ganze Gesellschaft.

    • @Martin Holzherr

      Dem stimme ich zu, gehe jedoch noch einen Schritt weiter: Nicht nur die Demografie, auch die wachsenden internationalen Verflechtungen in Wirtschaft, Politik, Kultur etc. entfalten auf Dauer ihre Wirkung. So kann die ROK auch innerorthodox nur punkten, wenn sie den Dialog und Ausgleich mit anderen orthodoxen Traditionen sucht.

      Dennoch gehe (auch) ich von einem Prozess aus, der eher Jahrzehnte als Jahre andauern und auch voller Rückschläge sein wird. Aber durch kluges, respektvolles Handeln lassen sich m.E. konstruktive Stimmen auch fördern.

  3. Die Einnahmen der ROK stiegen also auf das dreifache in drei Jahren? Wenn das mal nicht “signifikant” ist.

    Die orthodoxe Kirche in Russland war bei mir vor kurzem Thema in Zusammenhang mit Russland und seiner gewissen Haltung derzeit.
    Und war nicht neulich noch eine Ansage eines orthodoxen Geistlichen, der einen Zusammenschluß/Annäherung der Kirchen andachte? Also zumindest war das Thema. Worüber ich mich schon wunderte.

    • Kyrill der jetztige Patriarch war schon immer in der Ökumene sehr aktiv.

      Die ROK ist von allen orthodoxen Kirchen die Mächtigste und könnte als einzige mit dem Patriarchen in Konstantinopel eine Vereinigung mit den Katholiken schnell durchsetzen.

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