Die Kritik der vernetzten Vernunft von Jörg Friedrich
BLOG: Natur des Glaubens
Die Telepolis-Buchreihe hat mich immer wieder positiv überrascht, ob es um “SETI” von Harald Zaun oder um das schon klassische “Gedankenlesen” von Stephan Schleim ging. So war ich also gespannt, als ich mitbekam, dass Jörg Friedrich ein Buch rund um Philosophie & Webwelt veröffentlichen würde – die “Kritik der vernetzten Vernunft”.
Spannend fand ich, dass hier nicht jemand “nur von außen” über das Thema schreiben würde, sondern jemand, der sowohl wissenschaftlich wie beruflich an den Themen schon länger dran war. Der Autor studierte zunächst Meteorologie und Physik und schrieb 1989 seine Diplomarbeit über die Simulation von Strukturbildung und Chaos in der Atmosphäre. Seit 1994 ist er Geschäftsführer der Firma INDAL in Münster, einer Softwarefirma, die individuelle IT-Projekte durchführt. Ein Studium der Philosophie schloss er 2009 als Master of Arts ab.
Kant geht online
Ein wenig hatte ich erwartet (und ein klein wenig befürchtet), dass hier wieder eine private Ich-habe-alles-durchschaut-Weltanschauung zum Besten gegeben würde, die dann allenfalls mehr oder weniger interessante Gedanken umfassen könnte. Doch ich wurde positiv überrascht: Friedrich erfindet keineswegs (s)eine Privatphilsophie, sondern startet bei den Fragen und Denkwegen von Immanuel Kant. Und er leistet dann etwas ebenso Naheliegendes wie Geniales: Er überträgt die klassische und uns doch schon lebensweltlich fremde Philosophie in unsere Gegenwart und WWW-Lebenswelt.
Entsprechend geht es beim Begriff “Kritik” auch nicht um Nörgelei eines Menschen, der das Internet nicht mag oder findet, dass alles irgendwie falsch liefe. Im Gegenteil: Der Autor ist zutiefst fasziniert von den Veränderungen, durch die wir gehen, und er lädt ein, über das schon scheinbar Alltägliche neu nachzudenken und zu staunen.
Beispiel gefällig? Viele von uns rufen längst beispielsweise am Smartphone Wetteransagen über unsere jetzigen oder fernen, gegenwärtigen oder zukünftigen Orte ab. Friedrich fragt an diesem Alltagsbeispiel nach: Was erfahren wir dann eigentlich? Woher “wissen” wir, was uns da präsentiert wird und ob es stimmt? Wem (“den Technikern?”) und was (“der Technik?”) glauben, vertrauen wir dabei eigentlich – und mit welchem Recht? Woher nehmen wir das Vertrauen darin, dass die “aus dem Netz” gezogenen Informationen schon ihre Richtigkeit haben werden – selbst dann, wenn sie sich im Einzelfall als falsch herausstellen können? Handeln wir dabei vernünftig? Und wie wirkt sich das Ganze auf unser Selbst- und Weltverständnis, auf unser politisches Engagement usw. aus?
Sehr gut haben mir auch einige Begriffsklärungen gefallen – Friedrichs Unterscheidung zwischen einem geordneten Netz (Net) und einem wuchernden Gewebe (Web) werde ich für mich übernehmen. Auch die Reihung aus Wildnis, Natur, Kultur und Künstlichkeit überzeugte – und ich musste dabei immer wieder an die komplexen Wortgebilde meines geschätzten Blognachbarn Ludwig Trepl denken. Herr Trepl, die “Kritik an der vernetzten Vernunft” dürfte Sie interessieren!
Das Buch endet mit lesenswerten Gedanken über die Chancen und Grenzen politischen Netzengagements und mit Reflektionen über die Weise, in der wir Netzbewohner uns als Menschen selbst verstehen (können).
Wer lesbare Philosophie schätzt, wird an diesem Buch seine Freude haben. Aber auch wer sonst Vorbehalte gegen diese große Disziplin hat – sie zum Beispiel für abgehoben, weltfremd und unpraktisch hält – kann hier eine neue Sicht entdecken. Was gerade mit und durch uns passiert, ist viel zu faszinierend, um nicht darüber nachzudenken. Wenn ich das nächste Mal die Wetter-App auf dem Smartphone aufrufe, wird es wohl nicht mehr nur eine Alltagsgeste sein.
Friedrich
… ist sicherlich sehr lesenswert. Bedauerlich seine Unfähigkeit zur konstruktiven Religionskritik [1] [2], aber man muss ja nicht alles haben.
MFG
Dr. Webbaer
[1] wurde nur erwähnt, weil hier ein schwarzes Loch ist, i.p. Web, Philosophie und Webphilosophie wird man beim FREITAG-Schreiber sicherlich gut bedient
[2] die findet auch im Web statt