Die Evolution der Phantasie – Von Thomas Junker

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Schon 2009 hatte ich ein Buch des Pharmazeuten und Wissenschaftshistorikers Thomas Junker (damals mit Sabine Paul) über evolutionäres Denken empfohlen. Über die Feiertage gönnte ich mir nun sein neues Werk “Die Evolution der Phantasie. Wie der Mensch zum Künstler wurde” (Hirzel 2013) – und finde, er ist noch tiefer & besser geworden!

DieEvolutionderPhantasieJunker2014

Evolutionäre Kunsttheorien jenseits evolutionsbiologischer “Just-so-Stories”

Ich gebe schon zu, dass ich als Religionswissenschaftler die Befürchtung hatte, auf eine weitere Sammlung kruder und noch kaum überprüfter Just-so-Stories zu treffen, die die Evolutionspsychologie bis vor einigen Jahren oft dominiert haben. Doch weit gefehlt: Junker nutzt nicht nur das allerneueste Instrumentarium der interdisziplinären Evolutionsforschung, sondern baut auch auf evolutionär kundigen Vorgängern wie dem Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus (Buchbesprechung zur Ästhetik hier) auf. Zudem befasst er sich intensiv mit den Argumenten bedeutender Kunsttheoretiker wie Ernst Cassirer (1874 – 1945), vermeintlich widersprechenden Beispielen wie Duchamps “Readymades” und sowohl aufklärerischen (Kant) wie romantischen (Schiller) Argumenten. Hier kommt die Stärke des Historikers zum Tragen und ich kann das Buch auch als kundige Einführung in klassische und neuere Kunsttheorien empfehlen!

Stärker als früher nimmt Junker die alternden Argumente von “Epiphänomenalisten” aufs Korn, die die Evolution von Kultur, Kunst, Religion oder gleich des ganzen menschlichen Gehirns als “Nebenprodukte” abtun wollen. Er hält dagegen (S. 49):

In diesem Zusammenhang wird gerne übersehen, dass ein (nicht-adaptiver) Nebeneffekt den Nachweis von Anpassungen voraussetzt, an die er gekoppelt ist. Und wenn Gould der evolutionären Psychologie vorwirft, dass sie spekulative Geschichten erzählt (“adaptionist storytelling”), so bleibt festzuhalten, dass er selbst nicht einmal eine “Story” vorzuweisen hat, d.h. eine plausible Hypothese, die die evolutionäre Entstehung eines Allzweck-Gehirns erklären würde und weiter zeigen kann, wie zunächst als nicht-adaptive Nebeneffekte entstandene Fähigkeiten wie Kunst oder Sprache sekundär nützlich wurden.”

Entsprechend definiert Junker “Kunst” als “eine in der Natur angelegte Gemeinsamkeit: die Fähigkeit, Kunstwerke herzustellen und sie als solche wahrzunehmen.” (S. 34) Und er verwirft Thesen einer “künstlerischen Explosion” sondern zeichnet in groben Strichen nach, wie einzelne Fähigkeiten wie Musikalität, Sprachfähigkeit, handwerkliches Geschick, Fantasie und auch Religiosität entstanden und über Jahrhunderttausende hinweg zu dem Oberbegriff “Kunst” emergierten. Auch zwischen den möglichen adaptiven Nutzen wie Vorteilen bei der sexuellen Selektion (“Robbie, ich will ein Kind von Dir!!!”), die Junker aber bereits als gegenseitig versteht, der Unterstützung von Vergemeinschaftungen durch gemeinsame Symbole und Emotionen sowie der Möglichkeit, Situationen vor Eintreten fantastisch “durchzuspielen”, unterscheidet er sorgfältig. Auch hierbei geht er davon aus, dass sich diese Funktionen nach und nach anreicherten, bündelten und gegenseitig verstärkten.

Evolutionäre Kunstkritik

Solchermaßen darauf eingestimmt, dass “Kunst” in ihrer inneren Vielfalt zu einem erfolgreichen Teil der menschlichen Natur evolviert ist, schlägt Junker in den abschließenden Kapiteln einen erstaunlich kulturkritischen Ton an. Er macht darauf aufmerksam, dass die Möglichkeiten der Massenproduktion uns heutige Konsumenten systematisch täuschen – wir bewundern Kunstwerke, die nur dadurch möglich werden, dass sie in millionenfacher Stückzahl kopiert und verkauft werden (S. 175).

Ein Besuch in einem modernen Multiplex-Kino führt diese Entwicklung plastisch vor Augen. Die überdimensionierten Gefäße, aus denen die Besucher Popcorn und Softdrinks zu sich nehmen, entsprechen den überlauten Filmen, die auf maximale Effekte setzen. Die Phänomene sind ähnlich: Wie unsere natürliche Lust auf Süßes durch Softdrinks überbefriedigt wird, so auch unsere Freude an außergewöhnlichen Erlebnissen durch computergenerierte Abenteuer.”

In den bangen Diskussionen um die Zukunft der Fantasy, in der an Stelle der selbst generierten Pen & Paper-Fantasiewelten immer stärker millionenfach vertriebene, bombastische Computerwelten treten, vermeine ich tatsächlich ähnliche Effekte zu beobachten.

Fazit

Junker ist ein hervorragendes Buch gelungen, das nicht nur interdisziplinäre Evolutionsforschung auf dem neuesten Stand präsentiert, sondern auch zum Nachdenken einlädt. Nicht nur Evolutions-Nerds, sondern auch erkenntnisoffene Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaftlerinnen werden hier vielfach fündig und können an vielem anknüpfen. Sollten Sie in 2015 noch kein Buch gekauft haben, so kann ich Ihnen “Die Evolution der Phantasie” nur sehr empfehlen!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

10 Kommentare

  1. Entsprechend definiert Junker “Kunst” als “eine in der Natur angelegte Gemeinsamkeit: die Fähigkeit, Kunstwerke herzustellen und sie als solche wahrzunehmen.” (S. 34)

    Kunst hat also etwas mit Können zu tun und im Lateinischen ist dies inklusive Urformen die ‘Ars’ betreffend nicht anders.

    Was als Können aber bestimmten anderen Disziplinen zugewiesen werden kann, bspw. der Wissenschaft oder dem Sport oder dem Handwerk (inklusive Ingenieurskunst), muss nicht als Kunst verstanden werden, wird es auch oft nicht.

    Insofern wäre Kunst das, was als Können verstanden werden kann, nicht wie oben zuordenbar ist, in etwa das, was übrig bleibt und eben (als Können) allgemein gefällt, ein Objekt der Rezipienz.
    ‘Phantasie’ muss hier kein unpassender Begriff sein, auch das mit dem ‘Wahrnehmen’ scheint fein gewählt.

    Es bleibt schwierig hier nicht rekursiv zu definieren, btw: Andy Warhol hat mal auf seine Kunstwerke und auf die Frage eines Reporters, wie denn dieses oder jenes zu verstehen oder ‘wahrzunehmen’ sei, was denn genau dies aus Sicht des Künstlers bedeuten würde, geantwortet:
    ‘It’s the X in you.’

    MFG
    Dr. W

    • Da wäre dann der Punkt erreicht, wo die Schönheit ins Spiel kommt. Also jedes Werk, dass durch irgendeine Kunst entstanden ist, und von den meissten Menschen auch als “schön” empfunden wird, kann auch ein Kunstwerk sein, da es allgemein gefällt.
      Im übrigen sehe ich es zum Teil auch so, das Künstler Ihr Handwerk beherschen sollten, damit sie überhaupt erst Werke erschaffen können, die einerseits eine grosse Beherschung des Handwerks voraus setzen und andererseits auch allgemein als schön empfunden werden. Und vor allem, das sie eben nicht jeder ohne weiteres kopieren kann.

      • Jan genau, Hans, sie sprechen oder schreiben die geplante Ergänzung.
        Nur, was ist Schönheit? Ist es Einfachheit, wie viele meinen?

        MFG
        Dr. W

  2. Hallo Herr Blume,

    begeistert lass ich Ihr Buch “Religion und Demografie” und würde gerne ein paar Punkte mit Ihnen diskutieren. Wo wäre der geeignete Ort dafür?

    Herzliche Grüße,
    Eberhard von Kitzing

  3. “Entsprechend definiert Junker “Kunst” als “eine in der Natur angelegte Gemeinsamkeit: die Fähigkeit, Kunstwerke herzustellen und sie als solche wahrzunehmen.” (S. 34)”

    Ist das eine Definition? Ich finde nicht, scheint mir tautologisch zu sein. Kunst zu definieren dürfte ungefähr so schwierig sein, wie Religion zu definieren. Was Kunst ist, und was nicht, darüber gehen die Meinungen durch die Welt und durch die Zeiten sehr auseinander. Für den einen handelt es sich bei einer Götterstatue um ein Kunstwerk, für den anderen um ein Kultbild und für den nächsten um ein Götzenbild.

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