Die Evolution des Atheismus in Religion, Brain and Behavior – und Neues von Daniel Dennett
BLOG: Natur des Glaubens
2009 veröffentlichte ich erstmals einen Text zur (beginnenden) Evolutionsforschung des Atheismus, sozusagen eine erste Gedankenskizze. Ein Plädoyer vor wenigen Wochen auf Natur des Glaubens erneut für die Erforschung des Unglaubens ergab schon mehr Resonanz: Neben einem ermutigenden Mail von Michael Schmidt-Salomon gingen auch sagenhafte drei Mails von Kolleginnen und Kollegen ein, die sich für die Zukunft dazu etwas vorstellen können. Da wusste ich noch nicht, dass die neue Ausgabe von Religion, Brain & Behavior bereits im Druck war, die sich in 20 Artikeln der “Scientific Study of Atheism” widmet.
Da das gesamte Heft selbstverständlich auf Englisch verfasst ist – wir Deutschen spielen in diesem Forschungsbereich leider nur eine Nebenrolle -, habe ich eine ausführlichere Inhaltsangabe auf Evolution – This View of Life vorgenommen. Eine Vorstellung der “10 Hypothesen zur Evolution des Atheismus” von Dominic Johnson schrieb ich zudem für meinen neuen englischen Scilog.com Nature of Faith.
Daniel Dennett will Religion nicht (mehr) auslöschen & zitiert Religionsdemografie
Zu den Überraschungen der intensiven Debatte des Heftes gehört auch ein Artikel von Daniel Dennett, in dem dieser als “new atheist – Neuer Atheist” betont “Religion nicht auslöschen, sondern ihre Verwandlung in gutartigere Formen provozieren” zu wollen. Als Beleg für deren adaptives Potential zitieren er, Ryan McKay und Dominic Johnson zustimmend religionsdemografische Studien von mir – was mich freut und ehrt.
Der Wermutstropfen sei jedoch auch erwähnt: Mit Ausnahme von Armin W. Geertz (Universität Aarhus, Dänemark) und Benjamin Beit-Hallahmi (Universität Haifa, Israel) arbeiten alle mit Artikeln vertretenen Kolleginnen und Kollegen in den Vereinigten Staaten oder dem Vereinigten Königreich. Meine Befürchtungen, dass wir im deutschsprachigen Raum vor lauter metaphsysischen Diskussionen mal wieder den Anschluss an die empirischen Forschungen verlieren, vertieften sich bei der Lektüre durchaus.
Andererseits aber hindert uns natürlich niemand daran, endlich stärker einzusteigen. Ein Bezug der inzwischen zentralen Religion, Brain & Behavior kann dazu ein wichtiger Schritt sein.
Zum Weiterlesen:
* Blume, M. (2009): “Warum gibt es noch Atheisten? Evolutionsforschung zum Phänomen des Nichtglaubens“, in: GHH Band XVII: “Trotz allem – Wachstum!?”, Giessen 2009, S. 67 – 80 (kostenfrei)
* “Evolutionary Studies of Atheism on the Rise” on Evolution – This View of Life
* “Ten Hypotheses about the Evolution of Atheism by Dominic Johnson” on Nature of Faith
Historisch gesehen
Wurde der Atheismus im englischsprachigen Raum früher populär als im deutschen Sprachraum oder fehlte im deutschen Sprachraum ein beliebtes Aushängeschild wie z. B. der schottische Philosoph David Hume?
Ich glaube, je populärer der Atheismus in einem Land ist, desto eher werden sich Leute damit auch wissenschaftlich beschäftigen.
@Joe: Englisch & Deutsch
Mein Eindruck ist, dass im englischen und deutschen Sprachraum einfach der Zugang zur “wissenschaftlichen Auseinandersetzung” ein anderer ist. Mir stehen in Deutsch Bücherladungen philosophischer & metaphysischer Abhandlungen zum Atheismus zur Verfügung, aber nur sehr wenige empirische Studien wie “Ohne Gott leben” und fast überhaupt nichts Evolutionäres.
Im angelsächsischen Raum ist dagegen m.E. tatsächlich aufgrund von Hume und anderen Empirikern eine viel größere Bereitschaft dazu da, sich mit Phänomenen datengestützt zu befassen, empirisch testbare Hypothesen zu entwickeln usw. Ein aktuelles Beispiel sind die Studien von Norenzayan et al. (Vancouver, also Kanada) zum lange vermuteten Zusammenhang von Atheismen & Autismen:
https://scilogs.spektrum.de/…er-und-sozialer-kognition
In der aktuellen Religion, Brain & Behavior wird das deutschsprachige Evolution-Kognition-Buch von Sebastian Schüler rezensiert. Auch dort wird verwundert festgestellt, dass wir Deutsche scharfsinnig ausgearbeitete Gedanken und Begriffe anzubieten hätten, diese aber kaum empirisch testeten. Und weil dann auch noch unsere deutschen Abhandlungen notwendigerweise auf den deutschen Sprachraum beschränkt bleiben, spielen wir international da derzeit leider kaum eine Rolle.
Die religionsdemografischen Daten wurden dagegen sogar – siehe oben – von Dennett & Co. aufgegriffen.
Ich habe mir Ihren verlinkten Aufsatz angesehen und muss zugeben, dass ich reichlich verwundert bin. Ist das das Niveau auf dem sich die Religionswissenschaft in “evolutionären” Fragen derzeit befindet? Es errinert mich sehr an die “Darwinisten” verschiedenster Coleur, die im beginnenden 20. Jahrhundert meinten, alle sozialen Fragen durch wilde Mutmaßungen bzw. Gedankenspiele über diese Schiene erklären zu können. Freilich ganz ohne belastbare Quellen. Den Atheismus evolutionär erklären zu wollen, erscheint mir dabei besonders dubios: Das setzt ja implizit die Annahme vorraus, dass menschliches Verhalten, menschliche Ideen ohne Ausnahme durch ihren praktischen Nutzen erklärt werden können. Gut, das scheint für Sie ja auch in anderen Fällen so zu sein, Stichwort: Religiöse haben mehr Kinder, also ist Religion gut. Eigentlich auch ein interessanter Dreh: Religiöse als die neuen Funktionalisten. Die Postmorde versteht was von Humor, in diesem Sinne: Weiter so!
@Thomas: Funktionalismus
Ja, einen wesentlichen Punkt seit Charles Darwin haben Sie schon richtig verstanden: Wenn die Evolutionstheorie zutrifft, und unzählige Befunde sprechen dafür, dann muss auch die Entstehung von Religiosität (und dessen ebenfalls weit verbreitete Minder- oder Nichtausprägung) evolutionär erklärbar sein. Und, ja, evolutionäre Forschungen beginnen mit dem Aufstellen, Diskutieren und schließlich empirischen Überprüfen von Begriffen und Hypothesen.
Wie Sie darauf kommen, dass die Erforschung von Evolutionsgeschichte und evolutionären Funktionen von Merkmalen nur ein “Funktionalismus” sein könne, erschließt sich mir nicht. Wir erforschen doch auch die Evolution z.B. von Liebe und Musik, ohne dass dadurch die Phänomene in ihrer Funktionalität aufgelöst würden. Und dass Sie mir untersttellen, ich würde aus dem durchschnittlich höheren Reproduktionserfolg von Religiösen platt Religion = gut ableiten, kann ich mir nur mit Vorbehalten Ihrerseits gegen die Evolutionsforschung erklären. Denn genau solche Abkürzungen nehme ich nicht vor, sondern betone wieder und wieder, dass wir zwischen empirischer Beschreibung und metaphysischer Deutung (gut, wahr etc.) sorgsam unterscheiden müssen. Wenn Sie ernsthaftes Interesse am Thema haben, kann ich Ihnen dazu zum Beispiel den Einführungsartikel “Homo religiosus” (und gerade auch seine letzten Absätze) empfehlen, als pdf kostenlos hier:
http://www.gehirn-und-geist.de/…eligiosus/982255
@Michael Blume: Begriffe überprüfen
Wie überprüft man denn einen Begriff?
@Ano Nym: Begriff überprüfen
Indem man ihn auf seine Haltbarkeit testet. So wurde z.B. Religiosität lange und gerne aus der theologischen Tradition her als “Glauben an Gott/Göttliches” definiert und auch ein steinzeitlicher Urmonotheismus proklamiert. Andere Religionsformen wären dann sozusagen nur Verfallserscheinungen dieses Ur-Gottglaubens gewesen.
Diese Begriffsdefinition bewährte sich allerdings gleich mehrfach nicht: Zum einen sind unzählige, nicht-göttliche und dennoch anzubetende Wesenheiten wie Ahnen, Geister, Außerirdische etc. beschrieben und zum anderen fanden sich für einen Urmonotheismus bislang keine überzeugenden Belege. Darwin (selbst studierter Theologe) gehörte daher zu jenen, die die Begriffsdefinition über Gott ablehnten und stattdessen Religiosität als Glauben an “spirituelle und unsichtbare (heute: überempirische) Akteure” definierte. So wurde (zum Beispiel) dieser Begriff an den Befunden überprüft und weiter entwickelt.
Andere Beispiele aus der Evolutionsforschung wären z.B. Gen, Fitness, Überleben u.v.m., deren ursprüngliche Definitionen immer wieder überprüft und verändert wurden.
@Michael Blume: Sprachgebrauch
„Wie überprüft man denn einen Begriff?“
Sie haben diese Definition geliefert: Religion = Glauben an Gott/Göttliches; daneben mehreren Aussagen:
1. Es gab einen steinzeitlichen Urmonotheismus.
2. Urmonotheismus ist eine Religion.
3. Andere Religionsformen sind Verfallserscheinungen (oder meinen Sie Ableitungen?) des Urmonotheismus.
“Beschrieben”? Meiner Meinung nach selektieren Begriffe Gegenstände (nämlich genau diejenigen, über die man Aussagen zu tätigen gedenkt).
Solange Ahnen, Geister und Außerirdische nicht als Gott/Göttliches gelten, fällt der Glaube an sie nicht unter den oben definierten Begriff der Religiosität. Falls Sie ein Problem aufwerfen wollten, sehe ich es nicht.
Das hat mit dem o.g. Religionsbegriff nichts zu tun, sondern bedeutet nur, dass die Aussage 1. eventuell falsch ist.
Ablehnen kann man nur, was dem eigenen Willen unterliegt: Einen Nachschlag, ein Angebot oder eine Definition. Etwa wenn man satt ist, das Angebotene nicht braucht, oder man die Definition nicht für zweckmäßig hält.
Ist die Menge der selektierten Gegenstände nun anders? Was hat sich nun hinsichtlich des Glauben an Ahnen, Geister und Außerirdische mit dem neuen Begriff geändert?
Ich würde das, was Sie “überprüfen” nennen als “anpassen” bezeichnen.
gutartig
Hört sich lustig an, gibt es bereits Erfolge zu vermelden aus dem Hause Dennett?
MFG
Wb
@Ano Nym: Begriffe überprüfen
Also gut, die Anregung für mal einen eigenen Blogpost “Begriffsarbeit” nehme ich gerne auf! Nie las ich dazu Besseres als Catherine Elgin, Erkenntnistheoretisches Gleichgewicht. In: Vogel & Wingert (Hg.) “Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion – Erkenntnistheoretische Kontroversen”, Surhkamp 2003. Das stelle ich dann gerne mal vor! 🙂
Solider Text
Etwas biologistisch, aber ein solider Text: http://www.blume-religionswissenschaft.de/…9.pdf
Chapeau!
MFG
Wb
@Michael Blume:
Das habe ich nicht bestellt. Mich interessiert, was denn nun mit dem Glauben an Ahnen, Geister und Außerirdische ist. Der fällt nicht unter den älteren und auch nicht unter den neueren Begriff. Oder habe ich hier etwas übersehen?
@Ano Nym
Ahnenkulte sind zweifelsfrei religiös, wurden aber unter der alten Definition nicht mit erfasst. Als übernatürliche bzw. überempirische Akteure gelten sie aber zweifelsfrei. Zur spezifischen Begriffsdiskussion “überempirischer Akteur” gibt es auch bereits einen eigenen Blogpost:
https://scilogs.spektrum.de/…zw.-berempirische-akteure
Religiösität
Gerne mal erläutern wo für Sie R. anfängt und aufhört.
MFG
Dr. Webbaer
@Michael Blume
OK, Fehler auf meiner Seite: Ich hatte “beschrieben” falsch zugeordnet. Sie meinen, die Ahnenkulte usw. seien (in der Literatur) beschrieben (aber nicht durch den alten Begriff umfasst).
Bleibt noch der zweite Punkt:
Da sehe ich nun den Zusammenhang zum Begriff nicht. Der Begriff ‘behauptet’ keinen Urmonotheismus.
@ Ano Nym
die Definition Religion = “Glaube an Gott” setzt den Begriff “Gott” im monotheistischen Sinne voraus – bei Polytheisten hätte es heißen müssen “Glaube an mindestens einen Gott”.
Die Definition ist also nur im Kontext des Monotheismus anwendbar, was solange kein Problem ist, wie alle Anwender der Definition daran glauben, daß Gott der Menschheit bekannt ist, seit er im Garten Eden mit Adam plauderte. Die Definition des Begriffes “Religion” steht und fällt damit mit dem Begriff “Gott” – daher ist eine Definition, die ohne Bezug auf einen ganz bestimmten Gott (Manitu, Zeus, oder Allah?) auskommt, weil sie auf “überempirische Akteure” verallgemeinert, besser auf nicht-monotheistische Kulturen anwendbar. Wäre der Monotheismus eine Konstante der Menschheitsgeschichte seit Adam und Eva, wäre diese Verallgemeinerung nicht nötig.
Ultrakurz zu Kurzem Artikel…
“Zu den Überraschungen der intensiven Debatte des Heftes gehört auch ein Artikel von Daniel Dennett, in dem dieser als “new atheist – Neuer Atheist” betont “Religion nicht auslöschen, sondern ihre Verwandlung in gutartigere Formen provozieren” zu wollen.”
Das ist doch mal ein netter Gedanke.
Frage sich nur noch:
1. Was die “gutartigen Formen” sein sollen.
2. Wann jemand damit beim Atheismus anfängt (Ironie!). 😉
“Meine Befürchtungen, dass wir im deutschsprachigen Raum vor lauter metaphsysischen Diskussionen mal wieder den Anschluss an die empirischen Forschungen verlieren, vertieften sich bei der Lektüre durchaus.”
Vielleicht ist Metaphysik wieder im Kommen, wer weiß? 😉
@Ano Nym:
Ich würde mich soweit aus den Fenster lehnen, zu behaupten, dass ganze Begrifssysteme sich als empirisch unzureichend erweisen können. Es gibt keinen besonderen Grund, irgendeinen Aspekt unserer Erkenntnis von Kritk zu immunisieren.
@Wegdenker
Ob Metaphysik wieder im Kommen ist? War sie denn je weg? Und wer soll all diese tiefgeistigen, deutschen Texte noch lesen – und warum? Und warum ist mir hier jeder Satz zur Frage geworden? Weil die Metaphysik wenig Antworten bietet? 😉
Metaphysik
Die Metaphysik hat jedenfalls in der Wissenschaftstheorie eine natürliche Anwendung. Auch Sie müssten sich hier irgendwie einordnen.
Was halten Sie von Dennett?
MFG
Dr. Webbaer
Erklärung = Varianzaufklärung
Hallo Michael!
(1) In vielen Fällen bedeutet “naturwissenschaftliche Erklärung von X” die Aufklärung der Varianz des Merkmals X. Kovariation wäre das Mindeste, das man von einer Erklärung oder gar von einer Ursache erwarten dürfte.
(2) Insofern wäre die Frage nach der naturwissenschaftlichen Erklärung von Glaube *identisch* mit der Frage nach einer Erklärung von Unglauben. (Darauf läuft ja auch Dein verlinkter Artikel hinaus).
(3) Gesucht werden grundlegende Merkmale/Faktoren, die mit dem Merkmal “Glaube-Unglaube” kovariieren – und darüber hinaus eventuell auch noch direkter als Ursache aufgezeigt werden können (z.B. durch entsprechende zeitliche Verläufe o.ä.). Bei evolutionären Erklärungen können dies eigentlich nur Gene oder grundlegendere soziokulturelle Faktoren (z.B. Nahrung usw.) sein.
(4) Evolution wäre in diesem Sinne selbst keine Erklärung, sondern ein Paradigma, eine Brille durch die man auf Merkmale schaut. In den Blick kommt dadurch die Varianz eines Merkmals über die Zeit, welche wiederum eine Erklärung durch ebenfalls in der Zeit (ko)variierende Faktoren sucht.
(5) Dein zentraler Gedanke betrifft die Kovariation der Merkmale X=Religiösität und Y=Familien-/Populationsgröße, wobei Du meistens Y (u.a.) durch X erklärt siehst. Herausrechnen müsste man den Faktor Y in der vorausgehenden Generation: Kinder aus Großfamilien neigen evtl. dazu ebenfalls Großfamilien zu schaffen. Erst wenn dieser Faktor herauspartialisiert ist, kann man auf die Rolle der Religiosität selbst zu sprechen kommen.
(6) Dies scheint mir insbesondere dann wichtig, wenn eine Religion nicht per se positiv zu einer großen Kinderzahl steht, z.B. der Buddhismus und das Christentum. Die “Religiöseren” haben hier gerade KEINE Kinder!
(7) Bisher haben atheistische Populationen vielleicht noch nicht die kritische Größe erreicht, aber es sieht ja derzeit sehr danach aus (in Westeuropa). Ihr “Erfolg” wird sich nicht an der Populationsstärke, sondern an wirtschaftlichen Kriterien festmachen. Dies hat sogar inhaltliche Gründe: große Populationen sind derzeit ja wohl eher ein Problem für Raumschiff Erde … Außerdem steigt durch Technik die Produktivität einer einzelnen Person extrem an.
(8) Religiöse Gemeinschaften verstehen es allerdings recht klug (schamlos?), ihre früheren Erklärungen aufzugeben und “atheistische Errungenschaften” für sich in Anspruch zu nehmen, zum Erhalt und zur Mehrung ihrer eigenen Populationsgrößen. Widersprüche zwischen den Weltbildern werden pragmatisch ignoriert, selbst dann wenn sich das religiöse Weltbild und die eigene religiös-magische Praxis nach und nach als unnütz erweist.
(9) Meines Erachtens gibt es eine einfache Erklärung für Religion/Magie über folgenden Mechanismus: Sag z.B. der Mutter eines Neugeborenen, dass sie drei Münzen in die Luft werfen soll, damit das Schicksal ihrem Kinde wohlgesonnen bleibt. Und sie wird es mit Freuden tun – es kostet fast nichts, macht ein gutes Gefühl (ist unterhaltsam) und -vor allem-man möchte sich später keine Vorwürfe machen (lassen), man hätte nicht alles zum Wohle des Kindes getan (wenn es trotz Münzwurf krank wurde). So werfen dann Generationen über Generationen die Mütter drei Münzen in die Luft, wenn sie ein Kind bekommen. Niemand bemerkt, dass trotzdem genauso viele Kinder krank werden oder sterben wie früher. Irgendwann aber hört eine mutige Mutter mit dieser magischen Praxis auf – und ihre Kinder bleiben gesund; das könnte der Anfang vom Ende dieser Praxis sein. Aber wehe, eines der Kinder einer “areligiösen” Mutter wird krank – dann wird sich der Münzwurfglaube rasend schnell erneut verbreiten.
(10) Die Religion/Magie hat nichts in der Hand. Das schamanistische Geschäftsmodell ist genial: nichts wissen, nichts können, aber mittels Drohungen und Suggestionen den ersten Rang einnehmen! Denn es passiert genau: gar nichts, wenn man diese Praktiken unterlässt. Die Statistiken und epidemiologischen Kenngrößen bleiben völlig konstant. Man erwacht wie aus einem Alptraum, kann aufhören in einem Hamsterrad zu laufen, Dinge zu tun weil man glaubt man müsse sie tun um irgendwelche übernatürlichen Akteure zu besänftigen.
Man kann Kinder bekommen soviel man möchte. Man kann lieben, leben, lachen, traurig sein, das ganze Leben auskosten, und die Verstorbenen in Ehren halten. Ganz ohne Magie, befreit von Magie.
(11) Wir sind aufgrund unserer Vorstellungsfähigkeit/Imagination immer in Rollenspielen “gefangen”. Was muss das für den bayrischen Buben Josef Ratzinger für ein gigantisches Gefühl sein, der Nachfolger des galiläischen Fischers Simon Petrus zu sein? Die Rolle seines Lebens! Natürlich wirkt dagegen das Spiel von Fans, die sich in Harry-Potter-Klamotten werfen, peinlich und mickrig. Aber im Grunde ist es doch dasselbe! Die Macht der Vorstellung!
Von welchen Vorstellungen lassen wir uns beherrschen und wie beherrschen wir alle unsere Vorstellungen – das ist m.E. die entscheidende Frage.
Ergänzung
(12) Evolutionär selektiert wird am Ende demnach auch kein Merkmal, sondern Unterschiedlichkeit, d.h. eine bestimmte günstige Verteilung varianter Merkmalsausprägungen (z.B. 95% kooperativ, 5% aggressiv-egoistisch). “Gut” und “erfolgreich” ist dann nicht das Merkmal “kooperativ”, sondern die Verteilung dieses Merkmals , i.Bsp. mit einer Chance von 95:5.
(13) Bei dieser Betrachtungsweise wird noch einmal deutlicher, dass Evolutionsbiologie weder etwas über die Wahrheit noch über den Nutzen von Religiösität und anderen Merkmalen zu sagen hat. Eine bestimmte faktisch anzutreffende Verteilung unterschiedlicher Merkmalsausprägungen funktioniert biologisch, ist “viabel”, also: mit dem Leben vereinbar – mehr kann man in einer historischen Wissenschaft nicht sagen. Jede andere Verteilung könnte günstiger sein – hat sich historisch aber nun einmal nicht ergeben.
@Christian: 13 spannende Aussagen
Lieben Dank für Deine Gedanken, auf die ich gerne eingehe.
Bei (1) bis (3) gehe ich völlig, bei (4) noch weitgehend mit. Schwierig wird es bei (5) und (6): Das reproduktive Potential von Religiosität wird stets kulturell ausgeprägt und erschließt sich gerade nicht über nur statistische Korrelationen, sondern über konkrete Fallstudien. Auch Dachbegriffe wie “der Buddhismus” oder “das Christentum” sind dafür viel zu grob.
So sind z.B. sowohl die Shaker wie die Old Order Amish christlich – die einen aber praktisch kinderlos, vgl. hier
https://scilogs.spektrum.de/…ker-kurze-bl-te-kinderlos
die anderen extrem kinderreich, vgl. hier
https://scilogs.spektrum.de/…n-der-evolutionsforschung
Auch christliche Religiosität korreliert durchschnittlich mit höherer Kinderzahl “weil” kinderreiche Traditionen häufiger weiter gegeben wurden – es gibt also heute sehr viel mehr Amish als Shaker, obwohl dies im 19. Jahrhundert noch anders war. Hier z.B. US-Daten, aus denen Du sogar unterschiedliche Kinderzahlen fundamentalistischer bis liberaler Protestanten einsehen kannst:
https://scilogs.spektrum.de/…ionen-reproduktionserfolg
(7) Hier wechselst Du m.E. plötzlich die Begriffsebene, indem Du “Erfolg” nicht mehr evolutionsbiologisch, sondern ökonomisch definierst. Ich vertrete keinen Reduktionismus, bin aber der Auffassung, dass wir mit Begriffen und Begriffswechseln sorgsam umgehen sollten – evolutionärer Erfolg (Fitness) bei Säugetieren ist nun einmal über die differentielle Gen-Weitergabe (durch Reproduktion) definiert, vgl. hier:
https://scilogs.spektrum.de/…-fitness-und-religiosit-t
(8) Ich bin mir nicht sicher, ob Du hier noch beschreibst oder wertest. Klar nutzen religiöse Gemeinschaften wissenschaftliche Erkenntnisse. Umgekehrt könnte ich z.B. auch anmerken, dass sich kinderlose Atheisten von den Kindern aus religiösen Familien mal die Renten bezahlen und im Alter pflegen lassen. Wer ist da “schamloser”? Also, ich bin mir nicht sicher, wohin solche Vermischungen beschreibender und wertender Perspektiven führen sollten und plädiere daher dafür, sie sorgfältiger zu trennen.
(9) & (10) Ja, das ist die behavioristische Skinner-These, die er bereits auf Aberglauben (superstition) bezog. Aber allzu einfach sollte man es sich halt auch nicht machen, “Wirkungen” wie z.B. Schmerzreduzierung mögen wir als Placebo betrachten, sie sind dennoch da, vgl.
http://www.scienceandreligiontoday.com/…-relief/
Und warum sollten Menschen nicht mindestens pragmatisch nutzen (dürfen), was ihnen gut tut?
(11) Das hängt davon ab, ob man im Evolutionsprozess einen Erkenntnisprozess sehen mag oder nicht. Wenn Du mir das eine oder andere beweisen kannst, folge ich Deinen Bewertungen gerne. Solange dies nicht der Fall ist, lasse ich den Potter-Fan und die Papstprozession für sich selbst sprechen und enthalte mich des Spottes.
Mit (12) und (13) bin ich wieder völlig einverstanden! 🙂
@Störk: Danke, Überprüfung
Danke für den Hinweis, was gemeint gewesen sein soll. Ich hatte “Glauben an Gott/Göttliches” selbstverständlich so verstanden, das “Glaube an mindestens zwei Götter” auch noch darunter fällt.
Die ‘Nötigkeit’ einer Verallgemeinerung leitet sich aber doch aus dem Wollen ab, unter den Begriff eben auch polytheistische Systeme fassen zu wollen. Das Definiens wird geändert, damit unter den Begriff nun auch Polytheistische Systeme fallen. Das würde ich aber nicht als ‘Überprüfung’ des Begriffs bezeichnen, sondern als ‘Anpassung’. (Das war der Ausgangspunkt meiner Intervention zu dem Blogpost).
Zu den überempirischen Akteuren fällt mir gerade ein: Fallen eigentlich juristische Personen unter den Begriff des überempirischen Akteurs? Oder ‘die Geschichte’, ‘der Volkswille’, ‘die Arbeiterklasse’ usw.?
@Wegdenker: Empirisch Unzureichend?
Ich versteh nicht genau, was Sie sagen wollen. Begriffe dienen dazu, Aussagen über Dinge zu vereinfachen, die man mehr oder weniger problemlos auch ohne Verwendung des Begriffs machen könnte. Diese Aussagen (und nicht die Begriffe) sind es doch, die “empirisch unzureichend” – oder sagen wir es frei heraus: falsch – sein können. Wir haben kein Interesse daran, falsche Aussagen zur Grundlage unseres Räsonierens zu nehmen.
@Michael Blume: Altenpflege
1. Geht Ihre Anmerkung auch gegen kinderlose Atheisten, die im Alter keine Rente beziehen, sondern von Ihrem Kapital leben?
2. Lassen Sie sich Ihre Rente nur von Ihren Kindern bezahlen und lassen Sie sich im Alter nur von ihren Kindern pflegen?
@Ano Nym
Beachten Sie bitte, dass mein Argument hypothetischer Natur war – es wäre zum Beispiel problemlos durch die Frage zu entwaffnen, wie die Welt wohl aussähe, wenn alle Menschen immer soviele Kinder wie die Amish hätten (vgl. Malthusianismus)… Klar machen solche zugespitzten Debatten mal Spaß, aber ich halte sie für wissenschaftlich nicht sehr ergiebig, habe daher davor gewarnt.
Konkret zu Ihrer Nachfrage: “Rente” stand hier für Altersversorgung insgesamt. Wer als Kinderlose(r) Kapital anspart, rechnet damit, dass die Kinder anderer Leute später dieses Kapital verzinsen und für den Gegenwert Leistungen bereit stellen.
Dass dieses finanzielle Schneeballsystem bei allzu schnell fallenden Geburtenraten nicht länger aufgeht, erfahren wir gerade – und wird als “Asset Meltdown” seit 1989 in der Ökonomie (flüsternd) diskutiert.
https://scilogs.spektrum.de/…das-ende-des-kapitalismus
@Michael Blume
I.
Sie schrieben als Replik auf den nicht besonders substanziierten Unredlichkeitsvorwurf Hoppes in (8), der gegen “Religiöse Gemeinschaften” und die von ihnen angeblich praktizierte Usurpation nicht-religiöser Errungenschaften gerichtet ist:
“könnte” deutet nur an, dass Sie die Diskussion nicht auf das Thema lenken möchten, am Inhalt, dass die Kinderlosigkeit kinderloser Atheisten ein vorwerfbares (sozialschädliches) Fehlverhalten zu sehen sei, ändert das nichts. Das ist übrigens – sieht man von Atheismus ab – auch höchstrichterlich “anerkannt”: Es hat sich unter anderem im erhöhten Beitrag Kinderloser in der gesetzlichen Pflegeversicherung niedergeschlagen.
II.
Eltern mit Kindern, die Kapital ansparen, tun das selbe und erwarten ebenfalls, dass die Kinder anderer Leute später dieses Kapital verzinsen und für den Gegenwert Leistungen bereit stellen.
Sogar Menschen mit ererbtem oder lottogewonnenem Geld erwarten ebenfalls, dass der Markt ihnen Leistung für Geld bietet, völlig unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht.
Die objektive Eigenschaft des Marktes, agnostisch hinsichtliche des ‘reproduktiven Status’ der Marktteilnehmer zu sein, können Sie nicht in einen wirksamen Vorwurf an den Kinderlosen ummünzen. Das ist der Grund, warum Ihr Argument nicht “hypothetisch” sondern nur unterirdisch ist.
Mir ist nicht klar, wer der Adressat des Vowurfs “Schneeballsystem” ist. Systemveranstalter ist im Zweifelsfall der Staat bzw. dessen Herrschaftspersonal.
@ Michael Blume – Grundlagen
Evolutionäre Entwicklung der Religion – dabei vergessen wir eigentlich, dass sich die Grundlagen schon bald nach der Schöpfung des Menschen (Homo sapiens aus dem Homo erectus) vor um 300.000 Jahren entwickelten. So gesehen ist der Atheismus wohl eher eine spätere Entwicklung. Nach der Sintflut vor um 13.000 Jahren begann alles mehr oder weniger neu.
Nun ergibt sich die Frage, ab wann soll hier eigentlich dieser Prozess untersucht werden? Die letzten 100 … Jahre?
@Ano Nym
Klar verzinsen auch Eltern ihre Spareinlagen bei den Kindern anderer. Aber sie stellen dafür ja dann auch wiederum eigene zur Verfügung (die u.a. arbeiten, bauen, dazu Kredite aufnehmen könnten etc.) – das tun Kinderlose nicht. Dennoch würde ich es ablehnen, Kinderlosigkeit pauschal “sozialschädlich” zu nennen. Haben Sie eine Quelle für Ihre These, dies sei in Deurschland “höchstrichterlich” so bewertet?
@Klaus Deistung
Wenn die Evolutionstheorie zutrifft – wofür alles spricht -, dann umfasst der Evolutionsprozess die gesamte Geschichte und setzt sich weiter fort.
Dummheit
“Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. (1943)
Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch -, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht.
Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.
Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen.
…Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.
…Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen.”
Als Theologe konnte Dietrich Bonhoeffer nicht wissen, dass die Ursache der Dummheit die Religion ist. Die Befreiung von der Religion nennt sich “Auferstehung”:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/…radies.html
@ Ano Nym
„…fanden sich für einen Urmonotheismus bislang keine überzeugenden Belege.“ dem kann ich mich nur anschließen. Es gab den Polytheismus, so wie ihn die Völker überliefert haben. Dazu gibt es jede Menge Belege in den indischen Veden und den sumerischen Keilschriften…, ganz aktuell:
http://www.amazon.de/…;qid=1343726748&sr=1-1
In der Geschichte hat der Polytheismus auch immer wieder zu Kriegen geführt – Daraus ergab sich die „Notwendigkeit“ zu einem Gott. Wenn wir aber heute die Eingott-Religionen sehen – nützt das auch nicht viel, selbst innerhalb des Christentum oder das Islam gibt/gab es große Machtkämpfe – keine Religionskriege. Es heißt zwar, dass Jehowa, Gott und Allah derselbe Gott sein soll – auf die Machtkämpfe hatte das eher auch noch einen negative Einfluss.
„…umfasst der Evolutionsprozess die gesamte Geschichte..“ Da stimme ich gern zu – aber da sind gerade viele religiöse „schwarze“ stellen drin und auch Geschichten, die man gern noch als Mythen „verkaufen“ möchte – und hier der Gegenbeweis angetreten wird, vgl. Link.
@ Thomas
„Religiöse haben mehr Kinder, also ist Religion gut.“ Wenn wir daran denken, wie wir immer mehr Menschen ernähren wollen – dann sollte das Problem der Geburtenrate mit einbezogen werden. Da die Menschen auch immer älter werden, verschärft sich das Problem ebenfalls. Die Meere sind jetzt schon deutlich überfischt, zu viele Wälder abgeholzt – und täglich werden es mehr. Wir müssten hier mehr umdenken. Das ständige Wachstum schränkt unsere Möglichkeiten immer mehr ein.
@Michael Blume
Nein. “Dafür” stellen sie ihre Kinder nicht zur Verfügung. Zur Verfügung stellen kann man nur, worüber man verfügt. “Verfügt” man über seine Kinder?
Wenn ein Kinderloser zur Bank geht, kriegt er die gleichen Zinssätze wie einer der zwei Kinder hat, weil es in der Marktwirtschaft keinen eingebauten Zusammenhang zwischen Rendite und der Kinderzahl des Anlegers gibt.
Weder für Beanstandungen noch für Änderungsvorschläge ist der Kinderlose der richtige Adressat.
Aber im Kern nervt es Sie die Vorstellung schon ziemlich, dass einer später mal gefüttert wird, ohne selbst Kinder gefüttert zu haben. So ist Ihr Reflex auf Hoppes Vorwurf auch auf dieser Seite angekommen.
Natürlich nicht mit der Wortwahl “sozialschädlich”.
http://www.bverfg.de/…mitteilungen/bvg35-01.html
Ab c) im Absatz, der mit “3.” beginnt.
@Ano Nym: Füttern
Was haben Sie nur für ein Problem damit, die Leistung erziehender Eltern einfach mal anzuerkennen? Auch das von Ihnen angeführte BVerfG-Urteil dringt doch zu Recht lediglich darauf, diese Leistungen z.B. auch bei den Beiträgen für die Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Sind Sie denn nicht auch froh, einst – wie Sie es abschätzig nennen – “gefüttert” worden zu sein (hoffentlich nicht nur mit Lebensmitteln)? Und warum vermitteln Sie hier den Eindruck, völlig verbissen zu argumentieren und überhaupt nicht (mehr?) fröhlich Lachen zu können? Schließlich: Ist Ihnen bewusst, dass Sie Ihre Kommentare in dem Moment “zur Verfügung stellen” und nicht(s) mehr kontrollieren zu können, in dem Sie sie absenden? 😉
@Michael
Michael,
wie kann man eigentlich vermeiden, dass diese ganze evolutionäre Religionswissenschaft auf das Trivium zusammenzurrt, dass Populationen mit positiven Einstellungen gegenüber Kindern tendenziell mehr Kinder haben (und umgekehrt)?
Religionen haben insgesamt eher eine positive Einstellung, aber es gibt Ausnahmen (z.B. die Shaker, Mönchtum usw.) – unterm Strich: mehr Kinder. Es ist also nicht die Religiösität, die Kinder begünstigt – sondern die günstige Einstellung gegenüber Kindern in manchen Formen von Religiösität. (Wirtschaftliche Faktoren dürften z. B. eine weitere zentrale Rolle spielen!)
Die weitere Frage wäre dann, warum der Atheismus selten(er) mit einer positiven, förderlichen Einstellung für Kinder/Nachwuchs einhergeht – und Atheisten folglich tendenziell weniger Kinder haben. (Der Atheismus ist ja nur das andere Ende der Verteilung des Merkmals Religiösität und lebensförderlich sind offensichtlich nur die mittleren Ausprägungen.)
Wären dies nicht die einfachen, angemessenen Fragen – ganz ohne Darwin, Evolution, Biologie und Gene?? Zudem auch die politisch richtigen Fragen: Welche Einstellung haben wir zu Kindern? Lassen sich solche Einstellungen ändern? Sollten wir sie ändern? usw.
@Christian: Religiosität
Lieber Christian,
Du fragtest: Michael, wie kann man eigentlich vermeiden, dass diese ganze evolutionäre Religionswissenschaft auf das Trivium zusammenzurrt, dass Populationen mit positiven Einstellungen gegenüber Kindern tendenziell mehr Kinder haben (und umgekehrt)?
Ganz einfach: Indem man die evolutionäre Religionswissenschaft nicht nur oberflächlich, sondern in ihrer längst existierenden Breite wahrnimmt. Wir erforschen z.B. ebenso experimentell Kognitionen, Kooperationen, Geschlechter- und Funktionsrollen, die Geschichte und Wirkungen von Ritualen, Gebets-, Lese- und Meditationserfahrungen, Spiritualität, Fundamentalismen usw. – übrigens auch alles hier auch kostenlos auf dem Blog zu finden. Auch in “Gott, Gene und Gehirn” nimmt die Religionsdemografie nur eines von vielen Kapiteln ein.
Ich denke also, hier liegt eher ein Wahrnehmungsproblem als ein Problem der aktiven Wissenschaft(ler) vor.
Religionen haben insgesamt eher eine positive Einstellung, aber es gibt Ausnahmen (z.B. die Shaker, Mönchtum usw.) – unterm Strich: mehr Kinder. Es ist also nicht die Religiösität, die Kinder begünstigt – sondern die günstige Einstellung gegenüber Kindern in manchen Formen von Religiösität.
Schön, dass das endlich angekommen ist – ich schreibe genau dies seit Jahren. Und auch schon F.A. von Hayek merkte zu recht an, dass sich der Reproduktionsvorteil von Religiösen “nicht intrinsisch, sondern historisch” auspräge. Womit sich auch gleich erklärt, warum statistische Korrelationen zwar interessant sind, wir aber immer die konkreten Fälle in den Blick nehmen müssen. Also: Auch hier besteht für den wirklich Informierten keine Gefahr des Reduktionismus.
Zu Mönchen und Zölibat hatte ich übrigens schon meinen allerersten Scilogs-Blogpost geschrieben – als Gastpost bei Lars Fischer:
https://scilogs.spektrum.de/…t-bio-logisch-erfolgreich
Die weitere Frage wäre dann, warum der Atheismus selten(er) mit einer positiven, förderlichen Einstellung für Kinder/Nachwuchs einhergeht – und Atheisten folglich tendenziell weniger Kinder haben. (Der Atheismus ist ja nur das andere Ende der Verteilung des Merkmals Religiösität und lebensförderlich sind offensichtlich nur die mittleren Ausprägungen.)
Ja, genau diese Frage(n) beschäftigen auch die Kolleginnen und Kollegen in o.g. Religion, Brain & Behavior. Es sind m.E. durchaus spannende Forschungsfragen, die wir evolutionär und empirisch beantworten wollen. Genau auch dazu hatte ich bereits vor Jahren geschrieben und lade auch hier gerne dazu ein.
Wären dies nicht die einfachen, angemessenen Fragen – ganz ohne Darwin, Evolution, Biologie und Gene??
Wenn schon der studierte Theologe Charles Darwin Religion auch unter evolutionären Gesichtspunkten erforschen durfte, so kann ich seinen heutigen Kolleginnen und Kollegen vor allem im deutschsprachigen Raum nur empfehlen, nicht weniger mutig zu sein. Die Resonanz insbesondere der jungen Generation darauf erlebe ich als sehr ermutigend. Offenbar ist der Bedarf an metaphysischen Sprachspielen ohne empirische und interdisziplinäre Basis längst gut gedeckt – und auch in Deinen Texten und Vorträgen berufst Du Dich ja gerne auf die Naturwissenschaften. Also: Bitte keine Angst vor der interdisziplinären Evolutionsforschung! 🙂
Zudem auch die politisch richtigen Fragen: Welche Einstellung haben wir zu Kindern? Lassen sich solche Einstellungen ändern? Sollten wir sie ändern? usw.
Wenn unsere Forschungen zu solchen Fragen Anstoß geben, so freut mich das sehr, vielen Dank! In wenigen Tagen dürfte ein Interview von mir dazu in einer humanistischen Publikation erscheinen.
Antworten auf Kritiker
@Herr Blume:
“Und wer soll all diese tiefgeistigen, deutschen Texte noch lesen – und warum?”
Die Frage ist ja im Grunde die selbe wie die, warum jemand empirische Studien zum Thema “Evolution der Religionen” lesen will. Weil er einen bisher wenig beleuchteten oder gar ignorierten Teil dieser Thematik beleuchten will.
Gut, Metaphysik, grade in diesen Zusammenhang war und ist enorm beliebt gewesen. Aber inzwischen ist sie eben wieder vergessen.
Mein Absatz war zugegebenermaßen nicht ganz ernst gemeint. Dennoch würde ich nicht ganz ausschließen wollen, dass die Leute in Zukunft sich diesem ganzen Thema wieder mehr metaphysisch nähern wollen oder auf Basis der Kunst oder der Musik. 😉
“Begriffe dienen dazu, Aussagen über Dinge zu vereinfachen, die man mehr oder weniger problemlos auch ohne Verwendung des Begriffs machen könnte. Diese Aussagen (und nicht die Begriffe) sind es doch, die “empirisch unzureichend” – oder sagen wir es frei heraus: falsch – sein können. Wir haben kein Interesse daran, falsche Aussagen zur Grundlage unseres Räsonierens zu nehmen.”
Da bin ich komplett anderer Meinung. Nicht jede Aussage ist ohne die Begriffe, die in dieser Aussage enthalten sind, machbar. Eine Art Higgs-Teilchen etwa kann man erst suchen, wenn man einen Begriff davon hat, unsere heutigen theoretischen Aussagen über dunkle Materie wären gar nicht möglich, wenn man nicht vorher einen Begriff davon gebildet hätte und auch solche scheinbar klaren Aussagen wie “Phlogiston gibt es nicht” wären unmöglich ohne einen Begriff von Phlogiston. (Die Rolle von Begriffen bei Existenzaussagen scheint interessant zu sein.)
Es gibt durchaus Fälle (wie der Mengenbegriff Cantos) in denen ein relativ einfacher Begriff auf eine Reihe von Aussagen (Axiome) umformuliert wurde. Dies diente aber dazu, den Begriff widerspruchsfrei zu machen. Wohlgemerkt das in der Mathematik! Auch wenn dort Definitionen gem
Antworten auf Kritiker II
(Da mein letzter Beitrag etwas abgeschnitten wurde:)
Grade in der Mathematik, wo Definitionen wirklich teilweise schlicht als Vereinfachungen betrachtet werden.
Die Rolle von Definitionen in empirischen Wissenschaften muss aber nicht mit der in der Mathematik zusammenfallen. Wenn es um empirische Daten geht ist oft auch wichtig, welche Beobachtungen oder Ereignisse man für relevant hält und welche nicht.
Nicht Reproduzierbar zu sein beispielsweise ist oft ein KO-Kriterium für eine Beobachtung im wissenschaftlichen Sinne. Für mystische Erfahrungen oder tänzerischer Ekstase muss das nicht gelten. 😉
@Michael
Ich glaube, ich habe mich noch nicht klar ausgedrückt.
(1) Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Evolution kognitiver und anderer Fähigkeiten auf den Bereich des religiösen Verhaltens und Erlebens und vielleicht sogar die Betrachtung der Religion und ihrer Evolution als ein gutes Paradigma für die Erforschung der genannten Fähigkeiten ist unstrittig.
(2) Mir kommt es aber immer wieder so vor, dass Du aus den Populationsstatistiken so etwas herausliest wie: Das Leben gibt der Religion Recht; Du stehst als religiöser Mensch auf der richtigen Seite; Religion funktioniert, biologisch betrachtet. Das ist nun einmal eine empirische Tatsache, welche es Naturalisten sehr schwer macht, noch gegen Religion zu argumentieren – das Leben und die Natur stehen nämlich nicht auf ihrer Seite, sondern lassen sie einfach in der nächsten Generation aussterben. — So oder ähnlich, nur etwas überzeichnet, nehme ich Dein Engagement in dieser Thematik wahr. Liege ich da ganz falsch?
(3) Allein im Hinblick auf diesen Gedanken, fragte ich mich, ob man das nicht alles auf die Einstellung zu Kindern runterkochen muss – wir reden hier also m.E. gar nicht über Religion, Biologie, Gene usw. sondern darüber, dass Gruppen mit positiven Einstellungen zu Kindern tatsächlich hinterher auch mehr Kinder haben. Was einigermaßen trivial ist. Biologisch gewinnt man also kein Argument für Religion, sondern allenfalls für die positive Einstellung zu Kindern!
(4) Nicht trivial ist die Frage, warum Nichtreligiöse offensichtlich bisher eher keine so positive Einstellung zu Kindern (zum Leben?) gefunden haben? Ist eine nichtreligiöse Grundeinstellung automatisch mit egoistisch-hedonistischen, materialistischen, misanthropen oder gar nihilistischen – also irgendwie lebensfeindlichen – Einstellungen assoziiert, sodass Kinder eher als störend, belastend, beängstigend o.ä. wahrgenommen werden?
Hier auf den SciLogs sind doch soviele Atheisten/Naturalisten unterwegs: Äußert Euch doch bitte mal zu Euren Kinderwünschen!! Das wäre interessant!! Mir leuchtet nicht ein, warum ein Atheist nicht genauso viel Freude am Zusammensein mit Kindern empfinden kann und genauso gerne Verantwortung für Kinder übernehmen mag wie ein Christ, Muslim oder Buddhist?!!
(5) Dein Blog heißt “Natur des Glaubens” – aber Du schreibst über die Evolution der Religion. Daher hier eine letzte Anmerkung, Michael:
(5a) Glaube ist die vernünftige Denkform des mir Möglichen, Glaube ist die Denkform meiner persönlichen zukünftigen Handlungen. In diesem Sinne glaubt jeder Mensch an irgendetwas, Religiöse und Nichtreligiöse: jeder ergreift bestimmte Möglichkeiten auf Glaube hin bzw. lässt sich von bestimmten Möglichkeiten ergreifen. Auf welche Möglichkeit setze ich? Was halte ich für meine beste Möglichkeit? Was ist für mich überhaupt ein “gelungenes Leben”? Jeder trifft hier seine Entscheidungen.
(5b) Für mich ist der einzige Grund, der einen Glauben trägt, dass die erkannte Möglichkeit sich wahrhaftig als Möglichkeit erweist und – nicht zuletzt durch mein daran glauben! – Wirklichkeit werden kann. Die Wahrheitsfrage ist in Bezug auf Glauben also keine empirische oder biologische Frage, sie ist aber auch nur zu einem geringen Teil eine metaphysisch-philosophische Frage: weil sie individuelle Personen und Lebenssituationen betrifft. Sie ist eine Frage der persönlichen Lebensentscheidung, Lebenspraxis und Lebenserfahrung.
(5c) Ich persönlich teile mit unzähligen Menschen – Religiösen und Nichtreligiösen, Christen und Nichtchristen – den Glauben, dass Liebe unsere beste Möglichkeit ist, nach der es sich zu suchen lohnt unter allen Umständen. Ich glaube, dass wir nur in der Liebe Erfüllung finden können. Ich glaube, dass Liebe keine romantisch-vernebelte, sondern eine höhere, umfassendere Form der Erkenntnis des Anderen und der Wirklichkeit ist. Mit der Möglichkeit der Liebe zu rechnen, sie zu entdecken und zu ergreifen erweist sich als befreiend, heilsam, verbindend.
(5d) Liebe ist der Maßstab aller christlichen Praxis (auch der religiösen) und der hermeneutische Schlüssel zu den ausgestalteten christlichen Glaubensinhalten; Liebe ist der Inbegriff des christlichen Glaubens, er hat genau genommen keinen anderen Inhalt als Liebe.
(5e) In diesem Zusammenhang kommt mir persönlich – für meine persönliche Glaubensentscheidung! – Populationsstatistik völlig irrelevant vor, Michael. Sie trägt weder zum Verständnis der “Natur des Glaubens” bei(u.a. weil sie Glauben mit Religion verwechselt und den essentiell individuellen Charakter von eigentlichen Glaubensakten übersieht) noch liefert sie irgendwelche Begründungen dafür oder dagegen. Sie scheint mir, wie gesagt, auch gar nicht spezifisch über die Effekte der Religiösität, sondern recht trivial über die Effekte positiver/negativer Einstellungen zu Kindern auf die Kinderzahl zu sprechen.
@Wegdenker
Tja, da liegen wir in dieser Frage vielleicht gar nicht so weit auseinander. M.E. braucht es eben immer wieder beides: Empirische Forschungen und metaphysische Reflektionen, die sich idealerweise im Austausch miteinander befinden, aufeinander aufbauen etc.
In Deutschland gibt es m.E. jedoch eine erdrückende Übermacht der Metaphysiker, die dann auch noch gerne darüber klagen, dass kaum jemand von ihren dicken Wälzern Notiz nehmen möchte. Und schon weil immer weniger Kinder überhaupt noch in deutsche Akademikerfamilien hinein geboren werden, wird sich das wohl auch kaum noch ändern. Empirische Forschungen wären dagegen ein Weg, die metaphysischen Suchen wieder zu erden, interessant und auch über den deutschen Sprachraum hinaus fruchtbar zu machen.
@Christian: Individualismus
Lieber Christian,
gerne greife ich auch diese Deiner Anmerkungen noch einmal ausführlich auf. So schreibst Du:
(1) Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Evolution kognitiver und anderer Fähigkeiten auf den Bereich des religiösen Verhaltens und Erlebens und vielleicht sogar die Betrachtung der Religion und ihrer Evolution als ein gutes Paradigma für die Erforschung der genannten Fähigkeiten ist unstrittig.
Das freut mich! Dann mach doch einfach mit! Sapere aude! 🙂
(2) Mir kommt es aber immer wieder so vor, dass Du aus den Populationsstatistiken so etwas herausliest wie: Das Leben gibt der Religion Recht; Du stehst als religiöser Mensch auf der richtigen Seite; Religion funktioniert, biologisch betrachtet. Das ist nun einmal eine empirische Tatsache, welche es Naturalisten sehr schwer macht, noch gegen Religion zu argumentieren – das Leben und die Natur stehen nämlich nicht auf ihrer Seite, sondern lassen sie einfach in der nächsten Generation aussterben. — So oder ähnlich, nur etwas überzeichnet, nehme ich Dein Engagement in dieser Thematik wahr. Liege ich da ganz falsch?
Ja, da liegst Du falsch. Zum einen hast Du m.E. ja inzwischen nachvollziehen können, dass der Vorwurf, ich würde nur an Populationsstatistik interessiert sein, schlicht und ergreifend ein Strohmann ist. Es mag ein Zeichen unserer Zeit sein, dass Leute schon dann vor-urteilen, wenn sie nur oberflächlich gelesen haben. Mehr als viele meiner Texte auch kostenlos zugänglich zu machen und immer wieder geduldig zu antworten kann ich beim besten Willen nicht tun.
Dieser Blogpost hier, unter dem Du gerade kommentierst, behandelt zum Beispiel die Evolutionsforschung zum Atheismus und verlinkt zu einem Artikel dazu, den ich schon vor Jahren geschrieben und veröffentlicht habe. Und auf scilogs.com stelle ich 10 evolutionäre Hypothesen von Dominic Johnson zum Nichtglauben vor. Wie passt denn das zu Deiner gefühlten Annahme, es ginge mir nur um den Triumph der Religiösen? Soll ich Daten verschweigen, damit ja niemand gestört wird?
Was ich durchaus möchte – und was Dich und andere ggf. stört – ist, bräsige Selbstgefälligkeiten sowohl religiöser Fundamentalisten wie auch naturalistischer Reduktionisten heraus zu fordern. Gerade auch die Leute, die sich so viel auf ihre vermeintliche Bildung und Aufklärung einbilden und auf einfachere Menschen herab sehen, möchte ich gerne zum echten Nachdenken anregen. Und die empirischen Befunde sauge ich mir ja nicht aus den Fingern, sondern ich stelle sie vor. Soll ich als Wissenschaftler denn nur schweigen, damit es einigen in ihren religiösen oder weltanschaulichen Nischen nicht unbequem wird? Nö. Empirische Befunde sind eine Einladung zum Weiterdenken.
(3) Allein im Hinblick auf diesen Gedanken, fragte ich mich, ob man das nicht alles auf die Einstellung zu Kindern runterkochen muss – wir reden hier also m.E. gar nicht über Religion, Biologie, Gene usw. sondern darüber, dass Gruppen mit positiven Einstellungen zu Kindern tatsächlich hinterher auch mehr Kinder haben. Was einigermaßen trivial ist. Biologisch gewinnt man also kein Argument für Religion, sondern allenfalls für die positive Einstellung zu Kindern!
Hierauf gibst Du, lieber Christian, Dir die richtige Antwort ja gleich selbst:
(4) Nicht trivial ist die Frage, warum Nichtreligiöse offensichtlich bisher eher keine so positive Einstellung zu Kindern (zum Leben?) gefunden haben? Ist eine nichtreligiöse Grundeinstellung automatisch mit egoistisch-hedonistischen, materialistischen, misanthropen oder gar nihilistischen – also irgendwie lebensfeindlichen – Einstellungen assoziiert, sodass Kinder eher als störend, belastend, beängstigend o.ä. wahrgenommen werden?
Gute, mutige Fragen, lieber Christian. Hättest Du den Mut, sie auch einmal auf Deinem Blog zu stellen? Oder hättest Du dann den Backlash derjenigen zu fürchten, die sich sonst gerne für so rational und wissenschaftlich halten? Ich fände es toll, wenn solches erkundet oder diskutiert würde – statt es nach Kräften zu leugnen und zu verdrängen.
Hier auf den SciLogs sind doch soviele Atheisten/Naturalisten unterwegs: Äußert Euch doch bitte mal zu Euren Kinderwünschen!! Das wäre interessant!! Mir leuchtet nicht ein, warum ein Atheist nicht genauso viel Freude am Zusammensein mit Kindern empfinden kann und genauso gerne Verantwortung für Kinder übernehmen mag wie ein Christ, Muslim oder Buddhist?!!
Danke, lieber Christian! Für viele Atheisten/Naturalisten scheint es halt einfacher zu sein, sich über die vermeintlich doofen Religiösen zu empören als sich auch einmal selbst zu hinterfragen. Dabei denke ich, dass jede Religion oder Weltanschauung durch Selbstreflektion gewinnen könnte. Und arbeite sehr gerne z.B. mit Humanisten zusammen, die dazu in der Lage sind.
(5a) Glaube ist die vernünftige Denkform des mir Möglichen, Glaube ist die Denkform meiner persönlichen zukünftigen Handlungen. In diesem Sinne glaubt jeder Mensch an irgendetwas, Religiöse und Nichtreligiöse: jeder ergreift bestimmte Möglichkeiten auf Glaube hin bzw. lässt sich von bestimmten Möglichkeiten ergreifen. Auf welche Möglichkeit setze ich? Was halte ich für meine beste Möglichkeit? Was ist für mich überhaupt ein “gelungenes Leben”? Jeder trifft hier seine Entscheidungen.
So schön ich diese Worte finde, lieber Christian, so muss ich Dir doch leider antworten, dass diese Definitionen 1. nicht empirisch-deskriptiv, sondern metaphysisch-normativ und 2. erkennbar zeit- und schichtgebunden sowie kaum verständlich sind. Könntest Du beispielsweise klar definieren, was Du genau mit “Vernunft” meinst, wenn Du Glauben als “vernünftige Denkform” bezeichnest? Und wenn jemand “unvernünftig glaubt” glaubt er also nicht?
Hätte z.B. Jesus so geredet, so hätte ihn wohl nur eine kleine, bildungsbürgerliche Schicht überhaupt verstanden und er wäre wie meisten Weisheitslehrer wohl längst vergessen worden. Der Mann sprach nicht vom großen ICH, sondern von einem größeren Gott (der bei Deinen Einlassungen nicht ein einziges Mal vorkommt), er redete klar und verständlich, nutzte Gleichnisse – und liebte Kinder. So gerne ich Deine extrem individualistische Normierung des Glaubensgeschehens auch respektiere, lieber Christian, würde ich doch stark bezweifeln, ob sie Allgemeingültigkeit beanspruchen darf.
Gegen Deine Definitionen ließe sich zudem Beispiel empirisch einwenden, dass es eben ganz offensichtlich doch einen Unterschied macht, wie und woran die Leute so glauben. Auch, aber nicht nur im Bezug auf ihren Reproduktionserfolg. Wie Du unter 4. zu denken wagst, ist also offensichtlich doch nicht alles einfach so gleich. Glauben ist offensichtlich nicht einfach nur Glauben. (Daher kann ich auch ehrlich verstehen, dass Dich die Befunde ärgern und herausfordern.)
(5b) Für mich ist der einzige Grund, der einen Glauben trägt, dass die erkannte Möglichkeit sich wahrhaftig als Möglichkeit erweist und – nicht zuletzt durch mein daran glauben! – Wirklichkeit werden kann.
Damit erweist Du Dich m.E. als beeindruckend gelehriger Schüler des deutschen Bildungsbürgertums samt Individualismus und Idealismus (“für mich, wahrhaftig, mein”…. – nur von Gott oder anderen Menschen etc. ist nicht die Rede). Kann man(n) machen. Aber leider kann dies zum Beispiel eine orthodoxe Jüdin, ein !Kung San im Num-Tanz, ein Muslim, eine Pfingstkirchlerin in Stuttgart-Heslach oder auch ein katholischer Chinese auch ganz anders sehen und erleben. Da ist vielleicht das “Ich” ein bisschen kleiner, das “Wir” dafür etwas größer ausgeprägt. Und könnte es nicht sein, lieber Christian, dass wir auch von diesen Menschen manches lernen könnten – auch wenn sie ggf. nicht so kunstvoll geflochtene Sprachgirlanden zu flechten verstehen?Ich bin mir der Überlegenheit des deutschen Individualismus nicht ganz so sicher…
Die Wahrheitsfrage ist in Bezug auf Glauben also keine empirische oder biologische Frage, sie ist aber auch nur zu einem geringen Teil eine metaphysisch-philosophische Frage: weil sie individuelle Personen und Lebenssituationen betrifft.
Nein, lieber Christian, gerade hier sehen wir beide Unterschiedliches. Deiner These halte ich entgegen, dass Glauben und Religiosität grundlegend beziehungsstiftend sein, kooperative und soziale Funktionen erfüllen können und dann von einem übersteigert individualistischen Standpunkt her kaum zu verstehen sind. Wenn Du Dir Deine eigenen obigen Gedanken zu Kinderreichtum & Kinderlosigkeit noch einmal anschaust, so darf ich zum Beispiel ergänzen: Zum Kinderhaben gehört normalerweise mehr als ein Mensch – und viele Menschen, gerade auch viele Nichtreligiöse, beklagen schlicht das Fehlen einer tragbaren Partnerschaft. Religiosität streckt sich nach dem Jemand und hat dadurch das Potential, das Ego wenigstens teilweise zu transzendieren. Lieber Christian, ich fürchte, der deutsch-idealistische Individualismus ist noch nicht Ziel und Ende aller (Evolutions-, Offenbarungs-, Geistes- etc.)Geschichte.
(5c) Ich persönlich teile mit unzähligen Menschen – Religiösen und Nichtreligiösen, Christen und Nichtchristen – den Glauben, dass Liebe unsere beste Möglichkeit ist, nach der es sich zu suchen lohnt unter allen Umständen. Ich glaube, dass wir nur in der Liebe Erfüllung finden können. Ich glaube, dass Liebe keine romantisch-vernebelte, sondern eine höhere, umfassendere Form der Erkenntnis des Anderen und der Wirklichkeit ist. Mit der Möglichkeit der Liebe zu rechnen, sie zu entdecken und zu ergreifen erweist sich als befreiend, heilsam, verbindend.
Liebesmystik habe ich schon immer klasse gefunden. Allerdings lässt sich schon fragen, ob Du es Dir nicht zu einfach machst. So könnten Dir eine Menge Religionskritiker (bis hin zu Buddha und Jesus) den nicht unerheblichen, empirischen Einwand vortragen, dass auch Religiöse historisch nicht nur durch Liebenswürdigkeiten aufgefallen sind. Erklärt Dein Ansatz denn wissenschaftlich irgendetwas, oder formuliert er nur normativ Ideale, denen die böse, böse Realität dann ohnehin nicht gerecht werden kann?
(5d) Liebe ist der Maßstab aller christlichen Praxis (auch der religiösen) und der hermeneutische Schlüssel zu den ausgestalteten christlichen Glaubensinhalten; Liebe ist der Inbegriff des christlichen Glaubens, er hat genau genommen keinen anderen Inhalt als Liebe.
Schön, wenn Du das glaubst und verkündest! Aber darf ich Dich, von Religionswissenschaftler zu Theologe, freundlich daran erinnern, dass die letzten zweitausend Jahre Kirchengeschichte doch erhebliche Zweifel an dieser Deutung aufwerfen könnten? Klar, INDIVIDUELL kannst Du Dich natürlich von all diesen niederen Realitäten abgrenzen und sie als “uneigentlich” von Dir abperlen lassen, aber dadurch verschwinden sie nicht, ändern sich übrigens auch nicht…
(5e) In diesem Zusammenhang kommt mir persönlich – für meine persönliche Glaubensentscheidung! – Populationsstatistik völlig irrelevant vor, Michael.
Das ist Dein gutes Recht, lieber Christian. Wenn ich es auch ein bissel schwach finde, mir wieder erst mal einen Strohmann unterzuschieben (nur “Populationsstatistik”). Mir scheint, als wolltest Du Deinen individualistischen Liebesmystizismus unbedingt gegen empirische Zumutungen verteidigen, und das kann ich gut nachvollziehen. Viele Religiöse und Nichtreligiöse haben ein Problem mit Evolutionsforschung und finden alle möglichen Gründe, sich davon abzugrenzen. Damit kann und muss ich wohl leben, das ging noch allen Evolutionsforschern so. 🙂
Sie trägt weder zum Verständnis der “Natur des Glaubens” bei(u.a. weil sie Glauben mit Religion verwechselt und den essentiell individuellen Charakter von eigentlichen Glaubensakten übersieht) noch liefert sie irgendwelche Begründungen dafür oder dagegen.
Nun, sie könnte Dich zum Beispiel anregen zu prüfen, wie weit Deine wiederum normative Annahme vom “essentiell individuellen Charakter von eigentlichen Glaubensakten” trägt – und wie viel Herablassung gegenüber Menschen darin steckt, die anders (z.B. sozialer, traditioneller, gemeinschafts- und familienorientierter) glauben als Du. Nach Deinem Verständnis sind das alles offenbar “nur” religiöse Menschen, die “nichtessentiell” und “uneigentlich” glauben und nicht so richtig wie Du erleuchtet sind. Da kann ich schon verstehen, dass Dich unsere empirischen Befunde ärgern.
Sie scheint mir, wie gesagt, auch gar nicht spezifisch über die Effekte der Religiösität, sondern recht trivial über die Effekte positiver/negativer Einstellungen zu Kindern auf die Kinderzahl zu sprechen.
Tja, wie oft Du es auch leugnen magst: Die Daten und Fallstudien sagen etwas anderes. Es macht eben nachweisbar durchschnittlich durchaus Unterschiede, ob man gemeinschaftlich religiös lebt, Atheist ist, sich in einen idealistischen Individualismus zurück gezogen hat, Moses oder Mao folgt etc. Es ist eben offensichtlich “nicht alles irgendwie gleich”, wie es von den hohen Wolken kunstvoll gedrechselter Metaphysik her vielleicht erscheint. Du hast unter 4. doch schon die Fragen gestellt, die kaum jemand offen zu stellen wagt. Hat Dich der Mut schon wieder verlassen?
Sorry, dass wir weniger Erleuchteten mit unserem Leben, Lärmen und unseren Kindern manchmal die Sphären Eurer abstrakten, um das je eigene Ego kreisenden Liebesideale da oben stören… Und dass Wissenschaftsfreiheit auch heißt, empirische Befunde allgemein bekannt zu machen – selbst wenn sie für manche unbequem sind…
@Michael
Eigenartig, dass Du meinen Post so missverstehen konntest …
Ich bin weder Idealist noch Individualist noch Liebesmystiker noch fühle ich mich besonders erleuchtet noch verhalte ich mich arrogant irgendwem gegenüber. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass es zwischen Religion und Glaube einen Unterschied gibt, dass dies im Falle des christlichen Glaubens (der eben nur ein möglicher Glaube ist) in besonderer Weise gilt, dass sich dieser eigentliche Glaube (sehr vieler religiöser und nicht religiöser Menschen!) letztlich einer Definition und Systematisierung entzieht, weil er stets das (u.a. soziale!) Handeln einzelner Personen in ihrer konkreten Lebenssituation betrifft (das allein meinte ich mit “individuell”). Es ist schon verwunderlich, wie Du mir aus meinen Überlegungen zu Glaube und Liebe einen Egoismus andichtest …
Das Wort “Gott” nicht allzu oft und nicht unnötigerweise in den Mund zu nehmen, halte ich übrigens für eine hervorragende (jüdische) Tradition, der ich mich sehr gerne anschließe.
An keiner Stelle fragt Jesus allgemeine Weltanschauungsbekenntnisse ab oder prüft eine religiöse Praxis – wie empirische Religionswissenschaftler -, wenn es ihm um die Einladung zum Glauben geht. Es geht ihm wohl nicht um Philosophie oder Religion! Und die Paradebeispiele Glaubender sind bei ihm: Samaritaner (abgefallene Juden), Heiden (Römer), Prostituierte und Zöllner(Unreine) usw. – religionswissenschaftlich betrachtet: Areligiöse, outlaws. Religion ist sogar (neben Besitz und Familie) eines der wesentlichen möglichen Glaubenshindernisse und der Tod Jesu wurde vor allem von Religiösen aus religiösen Gründen betrieben: Jesus ist u.a. auch Opfer der Religion geworden. Die frühen Christen hießen “atheoi” (Gottlose), weil sie über 300 Jahre lang keine “Tempel” hatten/brauchten und die Götter nicht verehrten.
Da werde ich doch auf den Unterschied, die Spannung und den teilweisen Widerspruch zwischen Glaube und Religion hinweisen dürfen, oder?
@Religionswissenschaft vs. Theologie
Hallo Michael,
vielleicht ist das Verhältnis zwischen Religionswissenschaft (Soziologie, Psychologie) und Theologie vergleichbar mit dem Verhältnis von Wissenschaftssoziologie und Physik. Die wenigsten Physiker interessieren sich für die Soziologie ihres Verhaltens – u.a. weil Wissenschaftssoziologie nichts über die Physik selbst zu sagen weiß, sondern eben nur über das Verhalten (und Erleben) von Physikern. Der hintergründige Konstruktivismus der Soziologie dürfte zudem viele Physiker stören – als seien physikalische Erkenntisse nichts anderes als das Ergebnis einer soziale Übereinkunft.
Ähnlich interessieren sich auch Theologen nur am Rande für Religionswissenschaft, weil das empirisch ermittelte Verhalten (und Erleben) der religiösen Akteure nicht die Sache selbst ist, für die sich Theologen interessieren, obwohl sich dieses Verhalten/Erleben ebenfalls auf diese Sache bezieht. Ebenso wie Physiker stören sich Theologen an dem hintergründig konstruktivistischen Ansatz der heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften; bei vielen Autoren ist der Triumph, endlich die soziologischen und psychologischen Mechanismen hinter der gigantischen Illusion “Religion” entlarvt zu haben, ja kaum zu überlesen.
Was hältst Du von dieser Analogie?
@Christian
Vielen Dank für Deine beiden Antworten. Freilich möchte ich betonen, dass ich bei Dir keinen Egoismus, sondern einen extremen Individualismus wahrnehme, der das eigene Denken, Fühlen und Texten gerne zum Maßstab “eigentlichen” Glaubens machen würde. Wir anderen glauben dann nach Deinen Maßstäben halt weniger “eigentlich”, weniger “essentiell” und weniger “vernünftig” – wobei ich meine Frage noch einmal erneuern möchte: Christian, wie genau definierst Du “Vernunft”? Das würde mich wirklich sehr interessieren!
M.E. geht in dem von Dir vertretenen individualistischen Religionsverstädnis verloren, dass auch Jesus im Doppelgebot der Liebe je von Gott und dem Nächsten gesprochen hat (obwohl er Jude war und in der zurückhaltenden Verwendung des Gottesnamens ggf. keine Nachhilfe benötigte). In Deinen o.g. normativen Definitionen sind Addressaten der Liebe dagegen nicht einmal benannt, das bloße Ich schwimmt in gefühlter, aber seltsam beziehungsloser Liebe.
Und so lese ich m.E. übrigens die auch von Dir erwähnte Zuwendung von Jesus zu Samaritanern (abgefallene Juden), Heiden (Römer), Prostituierte und Zöllner(Unreine) usw. gerade als Beleg für die soziale Dimension von Glauben: Jesus urteilt und belehrt sie nicht in feinen Sprachspielen abstrakt über deren “Vernünftigkeit”, sondern tritt schlicht in Beziehung zu ihnen bzw. lobt im Falle des Samariters dessen Zuwendung zum Nächsten. Auch der römische Hauptmann setzt sich ja bei Jesus für seinen Diener (!) ein, dreht sich also nicht nur ums große Ich, die eigenen Möglich- und Wirklichkeiten, die eigene Vernunft etc., sondern um den Nächsten.
religionswissenschaftlich betrachtet: Areligiöse, outlaws. – Wie bitte? Abgesehen davon, dass gerade Religionswissenschaftler auch die reichen, religiösen Kulturen von Samaritanern und Römern erforschen und einen Terminus wie “abgefallene Juden” nicht benutzen, beurteilen wir ja gerade nicht, sondern beschreiben. Für die religiös-normativen Wert- und Aburteile waren und sind die Theolog(i)en zuständig, lieber Christian – und da ging und geht es nicht immer nur liebevoll zu! 😉
In Deiner Gegenüberstellung von Physik & Wissenssoziologie kann ich Dir leider nicht folgen, da beide Bereiche empirisch arbeiten – Du aber subjektiv & normativ. Du machst m.E. Deine eigenen, sehr schön und tiefgehend ausgearbeiten, Gedanken und Erfahrungen zum Maßstab “eigentlichen” und “vernünftigen” Glaubens und zeigst Dich eher verärgert, wenn die Empirie zu anderen Ergebnissen kommt: Zum Beispiel Unterschiede in den Ausprägungen von Liebes- und Beziehungsstrukturen unterschiedlicher (Nicht-)Glaubenstraditionen findet, die es nach Deinen Annahmen eigentlich nicht geben dürfte). Deine Herangehensweise erscheint so gerade nicht als (immer empirische) Physik, lieber Christian, sondern als Metaphysik. Diese lese und schätze ich gerne – und würde zum Beispiel zu gerne erfahren, was genau mit “Vernunft” gemeint sei -, aber habe mich bewusst dafür entschieden, lieber empirisch forschen und dabei auch selbst immer wieder Überraschungen erleben zu wollen.
@Michael
Freilich möchte ich betonen, dass ich bei Dir keinen Egoismus, sondern einen extremen Individualismus wahrnehme, der das eigene Denken, Fühlen und Texten gerne zum Maßstab “eigentlichen” Glaubens machen würde.
Ich bemühe mich zu verstehen, was Glauben überhaupt bedeutet – und fand das Ergebnis interessant, dass jeder, der in eine offene Zukunft hinein handelt, glaubt. Ich bemühe mich zu verstehen, was der christliche Glaube ist, und fand das Ergebnis interessant, dass der christliche Glaube zentral mit Liebe (und damit selbstredend mit dem Anderen) zu tun hat. Ich führe diese Auseinandersetzung in Verbindung mit anderen Menschen, mit der Tradition, mit der Theologie. Ich versuche, diesen Glauben zu leben, privat, im Beruf – fast ohne religiös zu sein. Bei meinen Vorträgen erscheinen anderen Gläubigen meine Ausführungen als erhellend, nicht als normativ oder gar arrogant-besserwisserisch. — Ich habe daher keine Ahnung, warum Du mir Individualismus unterstellst. Der Glaube ist Sache einer persönlichen Lebenswahl, aber daraus resultiert doch kein individualistisches Glaubensverständnis.
Wir anderen glauben dann nach Deinen Maßstäben halt weniger “eigentlich”, weniger “essentiell” und weniger “vernünftig”
Habe ich nirgendwo gesagt. Aber eine religiöse Praxis, die sich selbst “christlich” drauf schreibt, muss dadurch noch lange nicht christlich sein. Der Inhalt des christlichen Glaubens lässt sich genausowenig per Abstimmung und Empirie ermitteln, wie die Gravitationskonstante in der Physik.
– wobei ich meine Frage noch einmal erneuern möchte: Christian, wie genau definierst Du “Vernunft”? Das würde mich wirklich sehr interessieren!
Ich weiß nicht, warum Du auf diese Frage kommst. Es ging mir doch gar nicht um Vernunft; lediglich in einem Nebensatz habe ich davon gesprochen, dass Glaube – wenn man ihn zunächst ganz allgemein als die Denkform versteht, die es mit der Wahl konkreter Handlungsmöglichkeiten angesichts einer unbekannten Zukunft zu tun hat – (i) nicht in Widerspruch zu vernünftigem Denken steht und (ii) nicht identisch mit Religion ist.
M.E. geht in dem von Dir vertretenen individualistischen Religionsverstädnis verloren, dass auch Jesus im Doppelgebot der Liebe je von Gott und dem Nächsten gesprochen hat (obwohl er Jude war und in der zurückhaltenden Verwendung des Gottesnamens ggf. keine Nachhilfe benötigte).
Dass der christliche Glaube notwendigerweise eine persönliche Sache ist (“Ich glaube, …”), also konkrete Personen in ihrer konkreten Situation betrifft (und eben nicht das allgemeine Haben irgendwelcher Weltanschauungen meint), heißt doch nicht, dass mein Glaubensverständnis “individualistisch” ist. Deine Reaktion geht irgendwie immer haarscharf an dem vorbei, was ich sagen will. Mich überraschen diese Kommunikationsprobleme zwischen uns, nun denn.
In Deinen o.g. normativen Definitionen sind Addressaten der Liebe dagegen nicht einmal benannt, das bloße Ich schwimmt in gefühlter, aber seltsam beziehungsloser Liebe.
Weder habe ich etwas “normativ definiert”, noch verstehe ich unter Liebe ein Kuschelgefühl, das ich für mich habe – wie kommst Du nur darauf? Ausnahmslos jeder Mensch, der mir begegnet, ist möglicher “Adressat” (so Dein Begriff) dieser Liebe.
Und so lese ich m.E. übrigens die auch von Dir erwähnte Zuwendung von Jesus zu Samaritanern (abgefallene Juden), Heiden (Römer), Prostituierte und Zöllner(Unreine) usw. gerade als Beleg für die soziale Dimension von Glauben: Jesus urteilt und belehrt sie nicht in feinen Sprachspielen abstrakt über deren “Vernünftigkeit”, sondern tritt schlicht in Beziehung zu ihnen bzw. lobt im Falle des Samariters dessen Zuwendung zum Nächsten. Auch der römische Hauptmann setzt sich ja bei Jesus für seinen Diener (!) ein, dreht sich also nicht nur ums große Ich, die eigenen Möglich- und Wirklichkeiten, die eigene Vernunft etc., sondern um den Nächsten.
Jesus hat auch keine empirischen religionswissenschaftlichen Studien durchgeführt, Blogs geschrieben oder Bücher veröffentlicht. Merkwürdige Antwort von Dir, Michael. Das Bemühen, sich diese Inhalte (theologisch) zu erschließen, kannst Du doch nicht einfach so der Praxis der Liebe entgegen setzen und mir unterstellen, dass ich mich hier auf Sophisterei und Vernünftelei im stillen Kämmerchen beschränke. Die Glaubenspraxis Jesu revolutioniert das Verständnis von Religion – das müssen sich Christen immer wieder in Erinnerung rufen.
religionswissenschaftlich betrachtet: Areligiöse, outlaws. – Wie bitte? Abgesehen davon, dass gerade Religionswissenschaftler auch die reichen, religiösen Kulturen von Samaritanern und Römern erforschen und einen Terminus wie “abgefallene Juden” nicht benutzen, beurteilen wir ja gerade nicht, sondern beschreiben. Für die religiös-normativen Wert- und Aburteile waren und sind die Theolog(i)en zuständig, lieber Christian – und da ging und geht es nicht immer nur liebevoll zu! 😉
Wieder knapp daneben. Ich wollte darauf hinaus, dass für Jesus religiöse Grenzen ihre Bedeutung verlieren und dass er den Glauben vor allem außerhalb seiner eigenen Religionsgemeinschaft gefunden hat – was bemerkenswert ist. Ich wollte hier niemanden aburteilen, ich wollte nur zeigen, dass der christliche Glaube sich von Religion unterscheidet und in gewisser Weise unabhängig von Religion ist. Auf diesen Gedanken magst Du offensichtlich nicht eingehen; religionswissenchaftlich ist das eben alles dasselbe. Die Fakten zählen. Für Christen ist es aber völlig “normal”, sich in Spannung zu einem “Ideal”, zum “eigentlich Gemeinten”, zur “besten Möglichkeit” zu bewegen.
In Deiner Gegenüberstellung von Physik & Wissenssoziologie kann ich Dir leider nicht folgen, da beide Bereiche empirisch arbeiten – Du aber subjektiv & normativ.
Die Theologie arbeitet nicht subjektiv und auch nicht normativ; jedenfalls nicht mehr als die Geschichtswissenschaft. Es gibt normative Texte, Quellen, Praktiken, die der theologischen Reflexion Maßstab und Orientierung bieten; auch die persönliche Lebenspraxis/-erfahrung spielt hier mit hinein. Ich denke nicht einfach so vor mich hin, sondern habe dabei diese Quellen “vor Augen”, soweit ich sie kenne (was sicher sehr begrenzt ist).
Der Unterschied zwischen einer religionswissenschaftlich-empirischen Sichtung exakt diesen Materials und einer theologischen Durchdringung besteht gerade darin, wieweit man diese Inhalte auf sich bezieht, sie sich für sein Leben erschließen will oder es aber nur mit objektiven, mir äußeren Fakten zu tun zu haben meint. Anders formuliert: der Unterschied besteht darin, ob man an dieses Material die Frage stellt, ob es denn wahr ist.
Ich vernehme einen gewissen Empirismus aus Deinen Antworten, Michael. Vorliebe für Empirie usw. schön und gut – aber warum dieser Empirismus?
Du machst m.E. Deine eigenen, sehr schön und tiefgehend ausgearbeiten, Gedanken und Erfahrungen zum Maßstab “eigentlichen” und “vernünftigen” Glaubens
Das ist nicht meine Absicht, und Du bist der Erste, der mir dies unterstellt.
Nochmals: ich halte Glauben für ubiquitär, nämlich in Bezug auf die Notwendigkeit zu handeln angesichts einer unbekannten Zukunft, also: irgendeiner Möglichkeit zu trauen. Der christliche Glaube vertraut einer ganz bestimmten Möglichkeit: Liebe. Eine (religiöse) Praxis, die sich hierzu in Widerspruch befindet, kann sich m.E. nicht mit gutem Recht “christlich” nennen, auch wenn sie empirisch die Praxis von “Christen” wäre. Es ist ein Wesensmerkmal dieses Glaubens, dass er aus sich selbst mit der Theologie eine kritische Instanz entwickelt hat, die die Aufgabe hat, immer wieder das ursprünglich Gemeinte zu erschließen – angesichts der Fakten, aber auch in Widerspruch zu den Fakten.
und zeigst Dich eher verärgert, wenn die Empirie zu anderen Ergebnissen kommt: Zum Beispiel Unterschiede in den Ausprägungen von Liebes- und Beziehungsstrukturen unterschiedlicher (Nicht-)Glaubenstraditionen findet, die es nach Deinen Annahmen eigentlich nicht geben dürfte).
Warum sollte es solche Unterschiede nicht geben? Ich habe doch betont, dass das, was den christlichen Glauben im Letzten ausmacht, bei Religiösen und Nichtreligiösen, bei Christen und Nichtchristen anzutreffen ist. Warum sollte ich hier bestimmte Beziehungsstrukturen annehmen oder verneinen??
Ich ärgere mich nicht über empirische Fakten, sondern darüber, dass z.B. den Christen von außenstehenden Empirikern unterstellt wird, was ihr Glaube objektiv (nämlich: messbar und faktisch) ist. Die zugegeben schwierige innere Reflexion des Glaubens durch die Christen selbst wird dabei als bloße “Metaphysik”, als “subjektiv und normativ” abgetan – in Unkenntnis der Theologie oder aus Abneigung gegenüber Theologie.
Deine Herangehensweise erscheint so gerade nicht als (immer empirische) Physik, lieber Christian, sondern als Metaphysik.
Ja, selbstverständlich hat es die Theologie mit den Voraussetzungen unseres Seins und Denkens, und damit mit Meta-Physik zu tun. Aber genau diese Fragen können nicht durch empirische Religionswissenschaft beantwortet werden – diese schaut (auf Basis zahlreicher metaphysischer Voraussetzungen übrigens!) auf die faktischen Verhaltens- und Erlebensweisen der Menschen im Umgang mit diesen Voraussetzungen (die in verschiedenen Traditionen “Gott” genannt wird), aber eben nicht auf diese Voraussetzungen selbst. – Meine Analogie gilt; ob Theologie empirisch ist wie die Physik tut hier gar nichts zur Sache, es geht um die unterschiedlichen Beschreibungsebenen.
aber habe mich bewusst dafür entschieden, lieber empirisch forschen und dabei auch selbst immer wieder Überraschungen erleben zu wollen.
Ich interessiere mich dagegen für den Dialog zwischen dem christlichen Glauben und der Philosophie und den Wissenschaften – und bin daher als professioneller klinischer Neuropsychologe und “Freizeit-Theologe” wohl genau richtig gelandet. Für mich brachte diese Auseinandersetzung ebenfalls viele spannende Überraschungen (z.B. der theologische Ursprung des Begriffs “Wirklichkeit”.)
Abschließend: Du hattest mich in einer früheren Reaktion gefragt, ob ich nicht einmal auf meinem Theo-Neuro-Blog die “Atheisten” nach ihrer Einstellung zu Kindern fragen wollte. Warum sollte ich das tun? Zur Wahrheitsfrage trägt das nichts aus. Es wäre vielleicht interessant, aber genauso gut könnten unsere Kosmologen-Co-Blogger ihre Kollegen nach Kindern fragen; es hätte mit Kosmologie nichts zu tun – aber viel mit Wissenschaftssoziologie.
Wir arbeiten, wie es aussieht, mit ähnlicher Begeisterung an grundlegend verschiedenen Baustellen!
@Christian: Baustellen
Ja, und ich möchte bemerken, dass ich aus dieser konstruktiv-kritischen Debatte viel mitnehme – vielen Dank dafür!
Wenn ich Dich also jetzt richtig verstehe, so meinst Du mit Aussagen wie “Der Glaube ist ein vernünftiger Denkweg…” gar nicht eine alle verpflichtende, sondern Dir zugängliche Perspektive. (Aber wieder erhielt ich keine Antwort auf die Frage nach “der Vernunft”… 🙁 ) Während mir in der Tat wichtig ist, den Begriff an den real existierenden Vielheiten zu messen.
Nochmal: Ich lese Deine Texte gerne, sie tasten m.E. nach hohen Idealen. Meine wissenschaftlichen Baustelle sind aber in der Tat eher die sozialen Realitäten – mit ihren Höhen und Tiefen. Bedenke auch, dass Du in Deiner Arbeit in erster Linie individuelle Patienten vor Dir hast, ich dagegen stärker Gemeinschaften mit auch wechselndem Personal. Vielleicht ist es gut, wenn sich Perspektiven reiben und ergänzen.
@Christian: Fundstück
Zufällig habe ich in einem anderen Kontext (Beschneidungsdebatte) ein Statement des Theologen und Pfarrers Gil Fraser entdeckt, dem ich mich – aus meiner Forschungs- und auch Erlebensperspektive – nur voll anschließen kann:
“Faith is about being a part of something wider than oneself. We are not born as mini rational agents in waiting, not fully formed as moral beings until we have the ability to think and choose for ourselves. We are born into a network of relationships that provide us with a cultural background against which things come to make sense. “We” comes before “I”. We constitutes our horizon of significance.”
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/belief/2012/jul/17/german-circumcision-affront-jewish-muslim-identity
Nicht trivial
(4) Nicht trivial ist die Frage, warum Nichtreligiöse offensichtlich bisher eher keine so positive Einstellung zu Kindern (zum Leben?) gefunden haben? Ist eine nichtreligiöse Grundeinstellung automatisch mit egoistisch-hedonistischen, materialistischen, misanthropen oder gar nihilistischen – also irgendwie lebensfeindlichen – Einstellungen assoziiert, sodass Kinder eher als störend, belastend, beängstigend o.ä. wahrgenommen werden?
Der erste abendländische Philosoph, der mal wirklich konsequent zuende gedacht hat, was “Atheismus” eigentlich bedeutet, war Max Stirner. In seinem Hauptwerk “Der Einzige und Sein Eigentum” frotzelte er über seine jung-hegelianischen Mit-Philosophen “unsere Atheisten sind fromme Leute”, um letztlich zu dem Schluß zu kommen, daß, wer sich von den geistlichen Zwängen des Christentums ebenso “empören” will wie sich Paulus von den Zwängen der Thora befreit hat, konsequenterweise nur ein individualistischer Egoist werden kann.
Daß die Alternativen zum Egoismus dann “Materialismus” oder “Nihilismus” heißen, ist historisch naheliegend: sowohl Marx als auch Nietzsche entwickelten ihre jeweiligen Philosophien in der Auseinandersetzung mit Stirner – dessen Radikalität beiden Angst machte, und den sie deswegen nie explizit zitierten.
Religionen bietet viele Optionen, Kinder und Familien zu integrieren und zu fördern. Gottlosigkeit, konsequent zuende gedacht, bietet nur Egoismus.
Die Ehrenrettung des Egoismus kam von Ayn Rand: ihr “Objektivismus” verwirft sowohl den Materialismus eines Marx als auch den Nihilismus eines Nietzsche und behauptet, daß der Kapitalismus dem Menschen die Chance gibt, objektiv das Gute und Richtige zu tun und dabei dennoch den eigenen Vorteil nie aus dem Blick zu verlieren. Mein persönliches kapitalistisches Lieblingsbeispiel, die Brüder Albrecht, die die Geringverdiener der Republik mit allem versorgten, was der Mensch zum leben braucht, und genau dadurch stinkreich wurden, paßt aber eben nicht in’s Schema von Rand: die Brüder waren beide praktizierende Katholiken und die größten Kirchensteuerzahler Deutschlands.
plump
“Etwas” plump, man könnte auch versucht sein die Religionen idealtypisch und letztlich als Kollektivismus abzuhaken.
Werte sind nicht an Religionen gebunden.
MFG
Dr. Webbaer (der der Hoppe-Argumentation aber aus für ihn guten Gründen nicht gefolgt ist)
@webbär
beim Stichwort “Kollektivismus” denke ich immer an den Spruch “Du bist Nichts, dein Volk ist Alles”.
Die nihilistische Variante könnte lauten “Du bist nichts, aber das macht nichts, alles andere ist nämlich auch nichts”.
Die christliche Antwort sehe ich dann so: “Gott ist alles – und weil ER Dich liebt, bist Du viel mehr als nur ‘nichts’.”
Diese Sicherheit, von Gott geliebt zu werden, ermöglicht viel mehr Freiheit, als jeglicher “-ismus”.
@Störk
Da fehlt ja schon wieder die Kennzeichnung als Ich-Aussage.
Übrigens ist von der Beschaffenheit her der Christianismus ein Ismus und eine Ideologie. Ist ja auch nicht schlimm. – Bei anderem Glaubensentscheid dagegen…
MFG
Dr. Webbaer
Habe gerade gesehen, dass Daniel Dennett seinen Artikel mit Ryan McKay über den möglichen evolutionären Nachteil des Atheismus auf seiner Homepage online gestellt hat:
http://ase.tufts.edu/cogstud/dennett/papers/2012McKay&Dennett.pdf