Die Anthroposophie und ihr Erfolg
BLOG: Natur des Glaubens
Ich lebe auf den Fildern in der Region Stuttgart, einer Hochburg der Anthroposophie in Deutschland. Diese religiöse Weltanschauung geht auf Rudolf Steiner (1861 – 1925) zurück und verbindet christliche, esoterische und hinduistische Elemente (z.B. Reinkarnations- und Karmavorstellungen). Während der NS-Zeit – trotz der Anbiederungsversuche einiger Funktionäre – von den Nazis weitgehend unterdrückt und verboten, gelang der Anthroposophie ein Wiederaufschwung, der in meiner Heimatstadt Filderstadt u.a. durch einen Waldorfkindergarten, eine -schule, die renommierte Filderklinik und eine Vielzahl von Anbietern "biologisch-dynamischer" Produkte (wie Demeter, Weleda etc.) sichtbar wird.
Wie aber ist der langanhaltende (und sogar wachsende) Erfolg der anthroposophischen Bewegung zu erklären? In einer kritischen Biografie hat sich unter anderem Miriam Gebhardt mit Rudolf Steiner, seinem sozialen, akademischen, lebensreformerischen und okkultistischen Lebensumfeld und seiner Wirkung befasst.
Gerade weil Gebhardt sowohl am Lebenslauf wie auch an den Botschaften Steiners sehr viel als kritikwürdig, inszeniert und widersprüchlich wahrnimmt, stellt sich ihr die Frage nach dem bleibenden Erfolg des (mit ‘rite’ – bestanden) promovierten Philosophen, der sich vor allem als Goetheforscher verstand, als Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft mit dieser brach und eine eigene Tradition begründete, seine "Geisteswissenschaft" als auch unmittelbare Schau kosmischer Wahrheiten verkündete, von Kontakten mit (uns beobachtenden) Verstorbenen berichtete und binnen von 20 Jahren über 6000 (!) Vorträge und unzählige Texte zu so unterschiedlichen Themen wie Mathematik, Theologie, Pädagogik, Landwirtschaft, Sport und Politik hielt und publizierte. Vieles (etwa die Ansichten zu einer Evolution in planetaren Zeitaltern oder das Vergraben von mit Mist gefüllten Kuhhörnern zur Steigerung des Bodenertrages) wirkt aus heutiger Sicht unhaltbar oder gar grotesk, anderes etwas aus der Zeit gefallen (etwa die Ablehnung von Fußball oder die Tanzform der Eurythmie) und es finden sich durchaus auch einige aus heutiger Sicht autoritär, rassistisch und antisemitisch klingende Aussagen in seinen Werken und Reden (die Gebhardt darstellt und im Zeitkontext einordnet). Und doch sind Steiners Gedanken und Schriften heute gefragter denn je, finden auch Ausstellungen und Diskussionen zu seinem Werk statt. Warum?
Gebhardt entdeckt und benennt im wesentlichen drei Faktoren, die natürlich auch für die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen interessant sind und die ich daher hier aufzählen möchte.
1. Kundenorientierung am post-materialistischen Bürgertum. Die Lebenszeit Steiners am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts brachte die Moderne zu breiterem Durchbruch, deren Vorteile und Herausforderungen wir auch heute erleben. Einerseits breitete sich – auch dank des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts – ein wohlhabendes Bürgertum aus. Andererseits erlebten aber gerade auch solche aufsteigenden bzw. bereits länger wohlhabenden Menschen negative Folgen der Entwicklung wie Leistungsdruck, Umweltverschmutzung, eine "Entzauberung" des Alltags durch wissenschaftlich-reduktionistische Erklärungen, die Lockerung kirchlich-religiöser sowie familiärer Bindungen sowie Abstiegsängste, Orientierungs- und Sinnkrisen. Entsprechend wurden Hunderte von "lebensreformerischen" Alternativangeboten nachgefragt – vom Vegetarismus, Homöopathie und der Sehnsucht nach Atlantis bis zur Wandervogel-Bewegung, von spiritistischen Kontakten zu Verstorbenen bis zur Kirchenkritik, von der Propagierung fernöstlicher Religionen und der Wiederentdeckung von Klassikern wie Goethe bis zum Lob des ländlichen Lebens und der mittelalterlichen Mystik. Indem Steiner zahlreiche dieser Strömungen aufnahm und in kreativer Weise verknüpfte, schuf er einen weltanschaulichen Supermarkt der Möglichkeiten, in dem gerade auch bürgerliche und gebildete Menschen einige Antworten für sich finden konnten, ohne das Gesamtpaket annehmen zu müssen. So beobachtet Gebhardt:
„Während die Vegetarier ihren Vegetarismus hatten und die Wandervögel ihre Wanderlieder, konnte der reformbedürftige Zeitgenosse bei Steiner all das auch finden und dazu noch eine Meistererzählung, die die gesamte Geschichte der Menschheit mit dem Schicksal jedes einzelnen Individuums verband. Das war Steiners Erfolgsrezept. … Er hatte für jeden etwas im Angebot. … Dass so vieles davon kombinierbar war, machte Steiner zum Propheten des Pluralismus.
Die Demeterkartoffeln transportieren das Versprechen von Harmonie und Gesundheit. Sie wachsen, zumindest in der Phantasie von Konsumenten, in einer heilen Welt. Und auch wenn der Glaube an die Macht der Sterne und die Kraft des Kuhhorns schwerfällt, ein bisschen Esoterik kann auf jeden Fall nicht schaden. Wir ‘Verbraucher’ der Anthroposophie sind wie die Römer, die alle Götter in ihr Pantheon aufnahmen, man kann ja nie wissen. … Rudolf Steiners Geist sitzt nicht mehr im okkultistischen Spukschloss. Der moderne Prophet hat viele Leben.“ (Gebhardt S. 343 ff.)
In moderner Sprache würde man wohl von "Ganzheitlichkeit des Angebots" sprechen, wobei diese dadurch geöffnet und gemildert wird, dass dem oder der Einzelnen weitgehend freigestellt bleibt, welche Elemente in die eigene Weltanschauung und Lebensführung übernommen werden. Ob A einfach die Kosmetikprodukte und Nahrungsmittel schätzt oder B sich der anthroposophischen Christengemeinschaft anschließt bleibt dem Einzelnen bzw. der anthroposophisch geprägten Familie überlassen. So kann sich ein jede(r) – ganz modern – im Rahmen der eigenen Bedürfnisse bedienen und bleibt die Anthroposophie zugleich stets Geheimnis und Versprechen von Ganzheitlichkeit.
2. Wertschätzung des Lebens. Zu Steiners Zeit brachen die Geburtenraten des Bürgertums bereits auf breiter Front ein: Die bürgerlichen Familien gingen dazu über, immer weniger Kinder zu haben und dafür mehr in das Einzelne zu investieren. Nicht mehr erst im Himmel, sondern schon im Erdenleben sollte sich Lebensglück finden lassen. Die Lehren der Anthroposophie kam diesen Sehnsüchten direkt entgegen: Einerseits wurde der einzelne Mensch als über den Tod hinaus reichende (ggf. bereits vielfach wiedergeborene) Seele betrachtet, der sich auf einem kosmisch-geistigen Entwicklungsweg befand. Andererseits wurde die Erziehung und Bildung von Kindern zu einem Beitrag zur eigenen und universalen Geistes-Entwicklung. Hier ein Besuch und Einblick des evangelischen Theologen und SWR-Reporters Andreas Malessa in der Filderklinik, die sich mit menschlichem Leid, Möglichkeiten und Grenzen der Heilung von der Geburt bis zum Tode auseinander setzt.
3. Die Waldorfschulen. Bei aller bleibenden Nachfrage nach anthroposophischen Produkten und Lehren erkennt (auch) Gebhardt jedoch auch, dass die Anthroposophie ohne den anhaltenden Erfolg der Waldorf-Schulen keinesfalls so erfolgreich hätte wachsen können. Von einem Zigarettenfabrikanten in Stuttgart für die Arbeiterschaft mit aktiver Beteiligung Steiners gegründet, entwickelte sich die erste Waldorf-Schule in Stuttgart (die später von den Nazis geschlossen wurde) zu einem Modell, das bald überwiegend von Kindern aus bürgerlichen Familien besucht wurde und sich schnell in der westlichen Welt ausbreitete. Auch hierbei werden zwei zentrale, bürgerliche Versprechen kombiniert: Jene nach Klassenerhalt mit jenem nach dem Schutz vor Leistungsdruck und anderen "verderblichen" Einflüssen von Technik und Moderne. Heute besuchen rund ein Prozent der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen in Deutschland eine Waldorfschule – mit weiter steigender Tendenz.
Fazit: Es wäre ein Fehler, wenn sich Interesse und Debatten rund um die Anthroposophie weiterhin fast nur zwischen entschiedenen Anhänger- und ebenso entschiedener Kritikerschaft abspielten. In ihren Ausprägungen, Angeboten und deren anhaltenden Erfolg in einem (zunehmend) freiheitlichen Wettbewerb werden menschlich-bürgerliche Fragen und Sehnsüchte sichtbar, die unsere Moderne, unsere Wirtschafts-, Wissenschafts- und Schulsysteme und unser Verständnis von "Fortschritt" aufwerfen. Gebhardt belegt, dass man kein Anthroposoph sein muss, um das nachdenkenswert und interessant zu finden.
Leider sind einige Anhänger und Kritiker der Anthroposophie auch auf diesem Blog gleich wieder sehr unsachlich und zunehmend persönlich abwertend aufeinander losgegangen. Schade, aber "Natur des Glaubens" ist ein religionswissenschaftlich orientierter Ort des gerne auch kontroversen, bitte aber stets respektvollen Dialoges zwischen Menschen unterschiedlichster lebensweltlicher, wissenschaftlicher, religiöser und weltanschaulicher Prägung. Für gegenseitige Beschimpfungen ist hier erklärtermaßen kein Platz und solches lasse ich hier auch nicht stehen, sondern schließe hiermit bedauernd die Kommentarfunktion dieses Blogposts und bitte die Beteiligten, ihr Dialog- und Online-Verhalten mal zu reflektieren. Schade, aber so kann man m.E. in einer freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaft nicht (mehr) miteinander umgehen!
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