Der bedrohte Segen – Für den Online-Dialog mit den kirchlichen Akademien & den Bad Boll-Blog

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Als nach dem zweiten Weltkrieg Deutschland nicht nur militärisch und wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich und moralisch in Trümmern lag, entstanden – oft mit US-amerikanischer Hilfe – Einrichtungen neuen Typs mit einer großen Breitenwirkung: Die kirchlichen, d.h. evangelischen und katholischen Akademien. Dabei handelte es sich um öffentlich zugängliche Tagungshäuser, geleitet von prominenten Direktoren und später auch Direktorinnen – meist Geistlichen – und mit disziplinär bunt gemischten Teams bestückt. Hier kamen die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft zu bald legendären Tagungen, Seminaren und Vorträgen zusammen – Christen mit Juden, Humanisten, Muslimen und Buddhisten, Arbeitgeber- mit Arbeitnehmervertretern, Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Manager, Intellektuelle, Arbeiter und Hausfrauen, Lehrerinnen und Ingenieure, Bischöfe und Kirchengemeinderäte. Auch für die traditionell noch sehr obrigkeitshörigen Kirchen war diese Öffnung zur Gesellschaft und zur eigenen Basis ungewohnt und so kam es zu – teilweise bis heute bestehenden – Spannungen zwischen den “verfassten” Kirchen und ihren Akademien. Hier diskutierten Ernst Bloch und Rudi Dutschke, vernetzten sich die frühen Aktivistinnen und Aktivisten der Frauen-, Friedens-, Ökologie- und interreligiösen Dialogbewegungen und trafen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen auf Augenhöhe zusammen – angesichts explodierender Wissensbestände, mangelhafter Grundfinanzierung der Universitäten und dem wachsenden Interesse an Interdisziplinarität gewann gerade dieser Dialog der Wissenschaften in den vergangenen Jahren sogar deutlich an Gewicht.

EvAkademieBadBoll

Panorama Evangelische Akademie Bad Boll

Bleibende Strahlkraft der Akademien…

Für mich persönlich hatten die kirchlichen Akademien eine enorme Bedeutung: Gerade weil wir als junge Christen, Muslime und Juden keine festen Orte und Ansprechpartner hatten wurden die Akademien (mit herausragenden Dialog-Studienleitern wie Wolfgang Wagner (Bad Boll) oder Hansjörg Schmid (Hohenheim)) zu festen Anlauf- und Tagungsstätten, um Brücken zu bauen und gemeinsam Themen zu vertiefen. Am 11. September 2001 saßen wir von der CIG Region Stuttgart beispielsweise in Bad Boll, um eine christlich-islamische Tagung zum Thema “Gemeinsam Gewalt verhindern” auf die Beine zu stellen…

Aber auch für die evolutionäre Religionswissenschaft waren die Akademien der ideale Ort, an dem sich nicht nur rege interessiertes Publikum, sondern auch hervorragend informierte und vernetzte Fachleute wie “Forum Grenzfragen”-Betreiber Heinz-Hermann Peitz (Hohenheim) fanden, die zudem noch Publikationsmöglichkeiten wie Tagungsbände und zunehmend auch Internetkanäle boten. Besonders dankbar war und bin ich beispielsweise für den “Vermittlungen”-Preis der Evangelischen Akademie Villigst. Zuletzt sprach und diskutierte ich im Hohenheim im Dezember zum Thema “Säkularisierung und religiöse Vielfalt”.

Es ist also vielleicht nachvollziehbar, warum mir die kirchlichen Akademien auch persönlich besonders am Herzen liegen, warum ich mich für sie aus Überzeugung engagiere (beispielsweise im Kuratorium der Ev. Akademie Bad Boll) – und warum ich mir zunehmend Sorgen um sie mache.

…trotz Dauersparen und neuen Medien?

Denn die große Rolle, die die kirchlichen Akademien für die Entwicklung unserer (Nachkriegs-)Gesellschaft gespielt haben, ist meines Erachtens vielfach bedroht. Zum einen haben sie schlichtweg wesentliche Aufgaben erfüllt: Die ganz großen Demokratiedefizite und gesellschaftlichen Spaltungen sind überwunden, die deutsche Gesellschaft droht heute eher durch Individualismus und immer kleinteiligere Filterblasen zu zerfasern. Die Kirchen haben ihre frühere gesellschaftliche Dominanz teilweise verloren und sind zugleich (sichtbar etwa an der aktuellen “Ökumenischen Sozialinitiative”) so sehr mit dem gesellschaftlichen Mainstream verschmolzen, dass kaum noch Reibung entsteht. Sinkende Kirchensteuereinnahmen und steigende Kosten (etwa für den Gebäudebestand) haben zudem immer wiederkehrende Sparrunden ausgelöst – was nicht nur das Programmangebot einschränkt, sondern vor allem auch die sichere Neueinstellung junger Studienleitenden behindert. Die Folge: Selbst brillante junge Fachleute kommen bestenfalls noch befristet zum Zug, die Mitarbeiterteams verlieren die Durchmischung aus erfahrenen und innovativen Köpfen und altern gemeinsam mit ihren Themen, Netzwerken und ihrem interessiert-bildungsbürgerlichem Publikum.

Die Vernetzung der On- und Offlinedebatten auch zwischen den Generationen und Lebenswelten wäre eigentlich ein ideales, neues Aufgabenfeld für die Akademien – doch genau dafür fehlt es bislang an den Leuten, Konzepten und dem langen Atem. Oft liegt es am Engagement einzelner Studienleitenden, ob es überhaupt eine ansehliche Homepage, einen Facebook-Auftritt oder sogar (!) einen Akademie-Blog gibt.

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Kann man immerhin auch schon online-blättern: Das SYM-Magazin der Evangelischen Akademie Bad Boll

Kulturelle Institutionen für das 21. Jahrhundert

Derzeit bleiben die kirchlichen Akademien unter ständigem Spardruck und teilweise auch Erschöpfung weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Doch sie haben unserer Gesellschaft so viel gegeben und könnten gerade auch im 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen – wenn wir sie selbst, ob Christen oder Nichtchristen, wiederentdecken und mit neuem Leben füllen.

Und es gibt Ansätze: Der neue Direktor von Bad Boll, Jörg Hübner, hat sich nicht nur selbst in den Bereich der neuen Medien gewagt, sondern auch die Bereitschaft signalisiert, gezielt mit neuen Medien zu arbeiten. Endlich gibt es einen Bad Boll-Akademieblog, der sich in den nächsten Monaten und Jahren entfalten soll.

BadBollAkademieblog

Neu am Start: Der Bad Boll-Akademieblog freut sich auf Kommentare und Debatten!

Mein Plädoyer: Gerade, wenn Sie bisher noch keinen Kontakt zu einer kirchlichen Akademie hatten – wagen Sie den ersten Schritt (oder doch Klick)! Ich habe es nie bereut und würde mir wünschen, dass auch unsere Kinder und Enkel noch die Möglichkeiten einer “vernetzten Begegnungswelt” haben, wie sie sich Deutschland in der Nachkriegszeit erfolgreich schuf…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

10 Kommentare

  1. Soweit ich mich erinnere werden in diesen kirchlichen Akademien auch Lehrerfortbildungen abgehalten. Meine Schwester erwähnte mal, dass sie eine solche mitgemacht hätte. Die Themen im SYM-Magazin scheinen zwar breit gestreut zu sein, aber irgendwie hat man das Ganze in ähnlicher Form schon mal wo anders gelesen oder gehört. Auch die Debatte über Demokratie im Bad Boll-Akademieblog scheint mir recht allgemein zu sein. Ich vermisse da eine gründliche Analyse der momentanen Verhältnisse und auch einen Lösungsansatz. Die Themen eignen sich zwar für Diskussionen oder Erörterungen in der Schule, aber ob sie dazu geeignet sind eine Breitenwirkung zu entfalten, das bezweifle ich. Sicher macht der allgemeine Sparzwang vieles kaputt, aber das Bildungsbürgertum alter Schule stirbt langsam aus und die jungen Leute haben größtenteils andere Interessen. Die Menschen wollen auch nicht endlos über Dinge reden, die ihnen auf den Nägeln brennen. Viele würden sich von den Kirchen mehr soziales Engagement erwarten, aber stattdessen werden die immer gleichen Themen wiedergekaut. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre scheinen da kaum Spuren hinterlassen zu haben. Die jungen Leute werden heutzutage auch nicht nur mit einer anderen Nation oder Religion konfrontiert, sondern mit einer bunten Vielfallt, vor allem an den Universitäten.

    Michael, Du schreibst in Deinem Artikel den Satz: “Die ganz großen Demokratiedefizite und gesellschaftlichen Spaltungen sind überwunden, die deutsche Gesellschaft droht heute eher durch Individualismus und immer kleinteiligere Filterblasen zu zerfasern.” Ich weiß jetzt nicht was Du unter “Demokratiedefizit” verstehst, ich habe das Wort mal gegoogelt und auf Wikipedia versteht man darunter eher mehr direkte Demokratie in Form von Volksentscheiden oder dass das Volk den Bundespräsidenten direkt wählen darf.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratiedefizit

    Unser Grundgesetz wird zudem immer stärker von der Europäischen Union überlagert. Hier wird sogar ein “strukturelles Demokratiedefizit” beklagt. Denn “Ohne einheitliches Staatsvolk, so die Kritiker des strukturellen Demokratiedefizits, fehle es der EU an elementarer demokratischer Legitimation.”

    http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratiedefizit_der_Europ%C3%A4ischen_Union

    • @Mona

      Ja, auch Lehrerfortbildungen gehören zum guten Angebot.

      Was die Inhalte angeht, sehe ich das o.g. Problem: Akademien und neue Bewegungen sind langsam auseinander gedriftet, es fehlen die aktiven, jungen Leute gerade auch auf Mitarbeiterseite. Es gibt da tolle – auch ältere – Leute, aber der Fluss der Zeit droht sich in der Tat zu entfernen.

      Was das “Demokratiedefizit“ angeht, meinte ich natürlich die Gesellschaft, nicht die Strukturen. Anders gesagt: Dass sich heute viele Menschen für mehr Demokratie – nicht nur in Europa – engagieren, halte ich für ein gutes Signal dafür, dass die Demokratie “angekommen“ ist. Strukturell kann sie m.E. nie “fertig“ sein.

  2. Zu ihrem Plädoyer:

    Die Nachkriegszeit war geprägt durch das nakte Überleben auf breiter Ebene dre Bevölkerung. Die Vernetzung abseits des notwendigen Alltags in Kirchengemeinden und hier Akademien somit – auch wegen Alternativlosigkeit – gegenwärtig billigste Möglichkeit. Das hört sich brachial an – ist auch nur aus bestimmter Perspektive im Rückblick schlüssig und zulässig.

    Aber ihr neuer Aufruf; ihr Hinweis, ist der also deswegen vielleicht, weil es derzeit wieder mal sozusagen um “nackte Überleben” geht? Weil ein nicht ganz offensichtlicher Höhepunkt einer Phase erreicht war und nun aber rasant abgestürzt ist, womit das “kleine Brötchen” wieder genug sei – das maximal mögliche sei?

    Dieses Szenario abseits davon, dass es in jedem Leben solche Ereignisse geben kann, die einem zwingen, kleinere Brötchen zu essen – man also unabhängiger von einem globalen Ereignis abgestürzt ist und sich irgendwo auffangen lassen muß.

  3. Hintergrundfrage:

    Sinkende Kirchensteuereinnahmen (Artikeltext)

    Wie steht’s denn da um die öffentliche Mittelvergabe bzw. zu welchem Anteil ist der bundesdeutsche Steuerbürger an derartiger Veranstaltung beteiligt?

    MFG
    Dr. W

    • @Webbär

      Die Akademien werden aus Kirchenmitteln finanziert (zu denen freilich (noch) nicht zweckgebundene Staatsleistungen gehören), sowie aus Beiträgen von Kooperationspartnern (auch staatlichen, z.B. Lehrerbildung), Teilnahmegebühren und Spenden.

      • @ Dr. Blume :
        Ihr Kommentatorenfreund bezog sich bei seiner Frage u.a. auf diese Angabe der bekannten Online-Enzyklopädie:
        ‘Sie [die Akademien] finanzieren sich aus kirchlichen und öffentlichen Mitteln sowie durch Teilnehmerbeiträge und Spenden.’ (Quelle)

        Oder läuft die staatliche Unterstützung der Akademien ausnahmslos über ‘Kooperationspartner’, gibt es also keine direkten Zahlungen?

        MFG
        Dr. W

  4. Wie hat denn das “einfache Volk” von diesen Akademien profitiert?
    Konnte es sich aktiv mit vernetzen und auch mal mitreden oder durfte es zumindest zuhören?

    • @Skeptiker

      Es war – und ist – sogar ausdrücklich gewünscht, dass sich Menschen dort aktiv einbringen, und die Möglichkeiten sind nahezu endlos.

      Bedenke, dass auch ich selbst als junger Mensch aus einer konfessionslosen, weder wohlhabenden noch einflußreichen Familie stammte, sondern eben einfach Lust auf Engagement mitbrachte. Das hat völlig gereicht, um dort vieles zu lernen und vieles zu bewegen.

      Ich kann also echt nur empfehlen, sich so eine Akademie, ihr Programm und ihre Studienleitenden einmal anzuschauen und sich ggf. auch selbst einzubringen. Auch der Bad-Boll-Blog ist ja ein ganz neuer und chancenreicher Weg.

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