Die Neandertaler und die Religion – Bestattungen

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Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Sowohl die Filmkritik zu “Ao – Der letzte Neandertaler” wie auch die evangelische Andacht für einen Neandertaler wurden stark nachgefragt. Da lag der Gedanke nahe, auf “Natur des Glaubens” eine eigene Kategorie zur Neandertalerforschung zu schaffen. Und schon ergab sich ein passender Anlaß: Das in diesen Tagen erschienene, 19-seitige Kapitel “Der Neandertaler und die Religiosität” von Matthias Nolte (Marburg) in der aktuellen Ergänzungslieferung des Handbuch der Religionen (HdR).

Forschungs- und Deutungsgeschichte des Homo neanderthalensis

Einleitend stellt Nolte fest, dass die Neandertalerforschung für “die Frage nach den Wurzeln der menschlichen Religiosität wie auch für das menschliche Selbstverständnis” eine “wichtige Rolle” spielten. Daher richtet er “ein besonderes Augenmerk auf die Bestattungspraxis des Neandertalers”.

In einem Überblick über die Forschungsgeschichte zeigt Nolte dabei auf, dass schon wenige Jahrzehnte nach dem ersten Fund (1856) und der Benennung durch William King (1863) etwa 20 weitere Individuen ausgegraben und erste “Bestattungen” beschrieben wurden. Doch sowohl unter sozialistisch-materialistischen wie westlich-idealistischen Vorzeichen zeigten sich je spezifische Vorbehalte gegen die Auseinandersetzung mit Neandertalerbestattungen. Unter Archäologen der DDR wurden Hinweise auf religionsbezogene Deutungen zurückgewiesen, in westdeutschen Kreisen überwog die Betonung von Unterschieden – dem heutige Homo sapiens wurde ein “Sprung zur Geistesbefähigung” zugesprochen, obwohl sich dieser immer schwerer aufrecht erhalten ließ.

Entsprechend wurden, so Nolte, auch Hypothesen zu genetischer Vermischung oder kulturellem Austausch “wie beim ‘Kind von Lagar Velho’, eher kritisch beäugt oder mit dem Verweis auf kleinste Unterschiede in den Werkzeugindustrien zurückgewiesen.” Doch die genetischen Befunde des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (eva) – Kurzfilm: Der Neandertaler in uns (Klick!) – wiesen auf, “dass alle Proben außerhalb Afrikas bis zu 4 Prozent Neandertalergene enthielten”. Die Vermischung gelte damit “definitiv” als erwiesen. Und: “In der Levante gibt es seit längerer Zeit Hinweise auf eine Kontaktzone, welche auch für die Entstehung der Bestattungssitte eine wichtige Rolle spielt.”

Nach einer regionalen und klimatischen Einordung des Neandertalers (v.a. längere Eiszeitphasen – Stadiale – mit kurzen, wärmeren Zeiten – Interstadiale) sowie Aussagen zur Anatomie (inkl. des durchschnittlichen Hirnvolumens bei 1520 ccm, 200 ccm mehr als der rezente Mensch) wendet sich Nolte den “kognitiven Fähigkeiten” zu: Ein gefundenes Zungenbein und der Nachweis des FOXP2-Gens deuteten auf Sprach- und Symbolbeherrschung hin. Die Herstellung von Werkzeugen sei belegt und es gebe erste Hinweise auf Ästhetik – u.a. Farbpigmente wie Ocker und Mangandioxid, Wertschätzung außergewöhnlicher Objekte, aber bislang keine Belege für bildliche Kunst und Schmuck. Dass das Individuum von Shanidar 1 trotz mehrerer, schwerer Verletzungen (ein Oberarmbruch, eine Amputation (!) des Unterarms) noch mehrere Jahre lang lebte, wertet Nolte als einen Beleg für kooperatives Sozialverhalten und “Praktiken zur Wundheilung”.

Dann widmet sich Nolte der Beschreibung der bislang 24 anerkannten Neandertaler-Bestattungen. “Bei 18 von 24 Befunden wurden Artefakte im näheren Umfeld der Bestattungen gefunden. Hierbei handelt es sich meist um Knochen (teils auch verbrannt), verschiedene Steingeräte und Abschläge sowie Ockerspuren.” Ob es sich explizit um Grabbeigaben handelt, werde in jedem Fall kontrovers diskutiert, mindestens für La Ferrasie nimmt es aber auch Nolte an. Neun der entsprechend identifitzierbaren Bestatteten waren männlich (zwei Teenager 7 – 20 J., sieben Erwachsene (20 – 60), drei Frauen (20 – 40 J.) und neun geschlechtlich unbestimmte Kinder (davon acht bis zu 7 J.). “Betrachtet man die Gruppe der Kinder genauer, fällt auf, dass sie in der Regel sorgfältiger bestattet wurden. So sind die Grabbeigaben bei Kinderbestattungen beispielsweise eindeutiger.”

Einige Gräber – wie Shanidar und La Ferrassie – beschreibt Nolte vertieft. Aber auch die Übersichten sind mehr als interessant:

In la Chapelle-aux-Saints fanden sich beispielsweise über dem Gesicht des Toten einige Langknochen, über denen ein Bovidenfuß gelegt wurde. Des Weiteren wurden Abschläge und Ockerstückchen um das Skelett gefunden. Ocker fand sich ebenfalls auch in Spy. Um das Skelett Amud 1 lagen zahlreiche Knochen und Artefakte. Der Säugling Amud 7 lag in einer Nische an der Höhlennordwand, ihm wurde ein Hirschkiefer an das Becken gelehnt. In Kebara wurde ein Nashornzahn beigelegt.

War der Homo neanderthalensis auch schon ein Homo religiosus?

Nolte diskutiert, ob “eine Bestattung immer religiös intendiert sein muss, wie es beispielsweise der Religionswissenschaftler Mircea Eliade” annahm. Er erkennt jedoch auch nichtreligiöse Zwecke insbesondere auch psychologischer Art – Abschied, Trauerarbeit – und schließt, “dass Bestattungen nicht zwangsläufig mit einer Jenseitsvorstellung einhergehen müssen”.

Frühe Annahmen eines altsteinzeitlichen Bärenkultes hält Nolte für widerlegt (für die Lagen der Bärenschädel gibt es sparsamere Erklärungen), die Befundlage zu Kannibalismus – etwa bei Moula-Guercy – für unklar.

Faszinierend sind seine Überlegungen zu einem möglichen Kulturtransfer zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis in der Levante und besonders dem Gebiet des heutigen Israel (Höhlen von Qafzeh, Skhul, Tabun und Kebara). In dieser Region sind nicht nur mittelpaläolithische Bestattungen beider Menschenzweige nachgewiesen, sondern hier dürfte auch die genetische Vermischung der aus Afrika auswandernden Homo sapiens mit den Neandertalern stattgefunden haben. Dies würde die verhältnismäßig gleichmäßige Verteilung der Neandertalergenome quer durch die nichtafrikanischen Sapiens-Populationen erklären. Nolte kann die Annahme eines nicht nur biologischen, sondern auch kulturellen Austausches zwar (noch) nicht belegen, aber eine interessante Hypothese für zukünftige Forschungen ist es allemal.

War der Neandertaler also bereits religiös? Nolte zögert, denn inhaltlich formuliert er an (voll entwickelte) Religiosität den Ansprüch eines “Jenseitsverständnisses”. Dies sieht er auch bei Homo sapiens erst ab dem Jungpaläolithikum durch “sorgfältigeren Grabbau und reiche Grabbeigaben” als belegt und stellt also fest:

Nach einem evolutionären Verständnis von Religionsentwicklung kann man in dem Verhalten der Neandertaler Protoreligiosität sehen. Nach Ina Wunn waren den Neandertalern Gedanken über den Tod hinaus nicht ganz fremd, doch fehlte ihnen ein tieferes Symbolverständnis. Diese Meinung müsste allerdings revidiert werden, sollten sich handfeste Indizien für Kulthandlungen finden.

Das Kapitel schließt mit einer klassisch wie aktuell gut bestückten Literaturliste.

Meine Bewertung

Die vorliegende Ausarbeitung von Matthias Nolte halte ich für hervorragend – sorgfältig und anregend in der Darstellung, fair abwägend im Ton, auf Effekthascherei verzichtend. Zwar wäre eine entwickelte Jenseitsvorstellung in der gängigen, evolutionären Definition von Religion als “Glauben an übernatürliche bzw. überempirische Akteure” (inkl. Ahnen) keine Voraussetzung und man könnte statt von Protoreligiosität auch von “früher Religiosität” sprechen, aber das ist m.E. eine Nuance.

Die hier zusammengestellten Befunde machen nicht nur deutlich, wie vielfältig und relevant die Entdeckungen der Neandertalerforschung auch für unser Selbstverständnis längst sind (wohl ein Grund, warum sie oft so stark ideologisch abgeblockt oder überformt werden). Der Neandertaler rückt uns immer näher, immer mehr Abgrenzungslinien lösen sich auf – und nun gehören sie und er auch noch zu unseren (wenn wir Nichtafrikaner sind) direkten Vorfahren. Spannend ist auch, was es zum Homo neanderthalensis noch zu entdecken gibt – sei es durch weitere Ausgrabungen, Argumente oder neue, z.B. genetische Auswertungsmethoden.

Völlig neu war mir beispielsweise die starke Bedeutung von Kinderbestattungen, die sich sowohl in demografische wie tiervergleichende Überlegungen (Sorge um Nachwuchs, Trauer etc.) sehr gut einfügt. Und stehen wir nicht kurz vor einem Jahresfest, in dem Milliarden Menschen auf unserem Planeten die Geburt eines Kindes inmitten einer notgeplagten Familie als göttliches Wunder feiern werden?

Chanukka sameach & Frohe Weihnachten!

Literatur

* Nolte, M. (2011): “Der Neandertaler und die Religiosität”, Kapitel I-17.2, Handbuch der Religionen (HdR) (EUR 5,60 bei eDidact.de)

* Blume, M. (2009): “Homo religiosus”, Gehirn und Geist 04/2009. S. 32 – 41 (kostenfrei)

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

3 Kommentare

  1. @A. Venenbaum

    Lieben Dank! Wegen der geschehenen und noch anstehenden Feiertage hatte ich gar nicht mit Kommentaren gerechnet. 🙂

    Aber auch Leserinnen und Leser scheinen aktiv zu bleiben: Wir gehen schon heute Abend stramm auf die 500 IP-Zugriffe zu.

    Allen da draußen beste Grüße! 🙂

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