Der (marxistische) Begriff Entfremdung von Joachim Israel (1972)
BLOG: Natur des Glaubens
Für mich gibt es zwei Varianten der wundervollen Bücher-Schatzsuche: Digital streife ich gerne durch die eBook-Sortimente auf der Suche nach unentdeckten Perlen gerne auch unbekannter Autorinnen und Autoren zu günstigen Preisen. Und real komme ich an keinem Bücher-Grabbeltisch vorbei, ohne nach Werken zu stöbern, die mich überraschen könnten. Und so sprang mir an einem Kiosk am Stuttgarter Schlossplatz ein Titel zu einem Thema ins Auge, das mich schon länger interessiert hatte: “Der Begriff Entfremdung”.
Der Autor, Prof. Joachim Israel (1920 – 2001), war nicht nur ein jüngerer Zeitgenosse von Prof. Friedrich August von Hayek (1899 – 1992), sondern hatte auch wie dieser (NS-)Deutschland verlassen. Doch während zweiterer in Großbritannien zu einem bedeutenden Vertreter des Liberalismus wurde, wandte sich ersterer in Schweden dem Sozialismus und Marxismus zu.
In seinem “Entfremdung”-Buch von 1972 entschlüsselt Israel den marxistischen Zentralbegriff nicht nur aus den Schriften von Karl Marx (1818 – 1883) selbst, sondern vergleicht ihn mit Ansätzen von Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim, Erich Fromm und anderen. Das historische und philosophische Niveau ist dabei erstklassig – und ich konnte das Buch vor lauter neuer Einsichten und Aha-Erlebnissen kaum weglegen. Ich war allenfalls verwundert, dass Israel zwar aus Marxens “Zur Judenfrage” zitierte, aber kein Wort zu den darin enthaltenen, antijüdischen Aussagen verlor.
Knapp komprimiert kommt Israel zu dem Ergebnis, dass laut Marx eine Entfremdungserfahrung dann eintritt, wenn Menschen nicht mehr für sich selbst und den Tausch produzieren, sondern für den Geldmarkt. Nicht nur das Produkt werde unter den Bedingungen von Privateigentum und Kapitalismus also zur “ent-fremdeten” Ware, sondern schließlich auch der Arbeiter als ersetzbare “Arbeitskraft” selbst!
Hier liegt also im Kern eine soziologische These vor, deren psychologische Auswirkungen empirisch überprüft werden können! Durchaus spannend!
Doch umso weniger war ich auf die “kalte Dusche” gefasst, die mich erwartete, als es schließlich um diese wissenschaftlich doch entscheidende Frage ging, ob und wie sich die marxistische Entfremdungstheorie denn empirisch (also an den beobachtbaren Befunden) überprüfen ließe. Denn hier schlägt die differenzierte Gelehrsamkeit Israels plötzlich in einen beinharten Dogmatismus um!
Die empirische Falsifikation des Marxismus als “falsches Bewußtsein”
So setzt sich der Professor mit dem empirischen Befund auseinander, der sich auch aus der Befragung von Arbeitern ergebe (S. 107):
Einige Personen haben überhaupt keine Erfahrung der Entfremdung.
Man sollte jetzt doch erwarten, dass Israel hier wenn schon nicht eine glatte Widerlegung, dann doch eine zu behebende Schwäche der marxistischen Theorie erkennen würde. Doch weit gefehlt – mit dem betont atheistischen Glauben an die “objektiven Entfremdungsprozesse” verwirft er nicht etwa die Theorie, sondern die Fakten (bzw. die Berichte der Menschen)! (S. 107):
Das Individuum ist so entfremdet, dass es die Erfahrung seiner eigenen Entfremdung nicht mehr machen kann. […] Diese Situation könnte mit der eines geistig Kranken verglichen werden, dem die Einsicht in die eigene Krankheit fehlt.
Ja, Sie haben richtig gelesen: Der Mensch, der nicht die marxistisch vorgeschriebenen, psychologischen Erfahrungen berichtet, wird hier umstandslos zum “geistig Kranken” umgedeutet! (S. 108):
‘Unbewusste’ psychische Entfremdung kann tiefgreifende Konsequenzen für das soziale Handeln des Individuums haben. Wenn es seinen Zustand als ‘normal’ empfindet, wird es kaum die gesellschaftlichen Bedingungen reflektieren, die Entfremdung verursachen. […] In diesem Fall ist das Individuum in einem Zustand des fehlenden ‘Klassenbewusstseins’ – um einen Begriff der Marxschen Theorie zu verwenden.”
Und offensichtlich ungerührt von den längst bekannten Umerziehungs-, Straf- und Todeslagern des Stalinismus wie auch des gerade (1968) blutig niedergeschlagenen “Prager Frühlings” formuliert Israel (S. 108):
Mangelnde Einsicht in die eigene Krankheit bedeutet, dass das Subjekt die Symptome, die von einem Experten beobachtet werden, nicht selbst erfährt und/oder die Maßnahmen nicht versteht, die zur Veränderung der Situation getroffen werden müssen. Bei schweren Fällen mangelnder Einsicht in die eigene Krankheit kann das Individuum ohne eigene Einwilligung in eine Nervenklinik gebracht werden.
Und damit auch völlig klar ist, dass hier gerade auch Arbeiter gemeint sind, die es wagen, nicht-marxistische Erfahrungen und Gedanken zu haben, setzt er der unbotmäßigen “Person” mit “falschem Bewußtsein” nach (S. 111):
Ihre soziale Position, z.B. als schlecht bezahlter Arbeiter in einem kapitalistischen Unternehmen, sollte ihr Bewußtsein auf eine Weise bestimmen, dass sie sich ihrer Arbeit und den Bedingungen ihrer Arbeit widersetzt.
Wenn das Individuum dies unterläßt, da es seine Arbeit weder als unnatürlich empfindet, noch den Inhalt und die Bedeutung seines eigenen Verhaltens versteht, so hat es ein ‘falsches Bewußtsein’. Das bedeutet, dass es entfremdet denkt. Es fehlt ihm an ‘Einsicht in seine Krankheit’, da es seinen Zustand der Entfremdung nicht versteht.
Wenn es die Betreffenden selbst laut dieser Annahmen nicht zuverlässig können – wer könnte dann entscheiden, was ein “gesunder” Arbeiter zu denken und zu fühlen hat? S. 118:
Daher schließen sich die Intellektuellen, die sich von den Fesseln ihres eigenen sozialen Hintergrunds befreit haben, zu einer Elite zusammen. Die ‘fortgeschrittensten Mitglieder’ dieser Elite formen die kollektive Führung der politischen Organisationen, die die ‘wahren’ Interessen der Arbeiterklasse repräsentieren.
Diese über den Klassen stehende Einsicht in die “objektiven Entfremdungsprozesse”, die letztlich auch über das Schicksal aller anderen entscheiden, könnten laut Israel tatsächlich nur marxistische Intellektuelle haben – nicht z.B. widerstrebende Arbeiter und auch nicht andere “Klassen”. S. 124:
So neigen Kleinbürger als Klasse nach Marx dazu, sich einzubilden, sie seien über Klassenantagonismen im allgemeinen erhaben.
Hier wird also sehr deutlich, warum der dogmatische Marxismus die liberale Idee der Menschen- und Freiheitsrechte ebenso verwarf wie das Prinzip freier und demokratischer Wahlen. In der hier entworfenen “Diktatur des Proletariats” haben tatsächlich nicht einmal die Arbeiter “eine Wahl” darüber, was sie denken und fühlen dürfen – wenn sie nicht als “geistig krank” ausgesondert und “behandelt” werden wollen! Die vermeintlich “objektive Wahrheit” ist von marxistischen Intellektuellen bereits “erkannt” und kann empirisch nicht mehr falsifiziert werden!
Wenn “Wissenschaft” missbraucht wird
Dieses totalitäre Denken im Namen von “Wissenschaft”, dem wir hier begegnen, ist natürlich nicht auf den Marxismus beschränkt. Auch zum Beispiel in der frühen, freudianischen Psychoanalyse galt eine Leugnung von Verdrängung – als Beweis besonders starker Verdrängung! Eine empirische Widerlegung war damit faktisch unmöglich.
Ebenso bezeichnete Richard Dawkins im Namen der Evolutionsbiologie religiösen Glauben pauschal als “Gotteswahn (God Delusion)” – völlig unabhängig davon, dass religiöse Menschen empirisch gesehen im Durchschnitt glücklicher und evolutionär erfolgreicher (kinderreicher) sind. Auch das Scheitern früherer, vergleichbarer Antitheismen vermag viele seiner Anhängerinnen und Anhänger nicht zum Nachdenken zu bringen.
Ebenso haben reduktionistische Zweige der Ökonomie beispielsweise mit Homo oeconomicus-Modellen empirisch nicht überprüfbare Theorien errichet, auf deren Basis falsche Ratschläge gelehrt und erteilt wurden (und zum Teil noch werden). Religiöse Fundamentalisten quer durch alle Weltreligionen lehnen unter den Bannern von anti-evolutionären Kreationismen und Intelligent Design ebenfalls jede ehrliche Auseinandersetzung mit empirischen Befunden ab.
Und begünstigt durch das Internet basteln sich heute auch z.B. Impfgegner, UFO- und Chemtrail-Verschwörungsglaubende eigene Blasen zusammen, die nicht mehr überprüft und also auch nicht mehr sinnvoll diskutiert werden können. Nicht mehr große, kirchenähnlich organisierte Ideologien, sondern kleine Radikalisierungsblasen scheinen ein Ergebnis medialer “Retribalisierung” (McLuhan) zu sein.
Weltanschauung und Wissenschaft
Empirisch beobachtbar ist, dass alle Menschen auch weltanschauliche Annahmen brauchen und haben, die selbst nicht wissenschaftlich entscheidbar sind: Ob es Gott gibt oder nicht, ob Menschenrechte universelle Geltung haben sollten, ob “das Leben einen Sinn hat” oder nicht und vieles mehr gehört ebenso dazu wie z.B. die Frage, wie genau Sie “Wahres, Gutes und Schönes” definieren, ob und wen Sie wann heiraten und wie vielen Kindern Sie das Leben schenken sollten und vieles mehr. Wissenschaftlich-empirisch lässt sich die Entstehung (“Genese”) dieser Ideen und Werte durchaus erforschen, nicht aber ihre subjektive Geltung für Sie.
Kein Mensch lebt “nur von und in den Aussagen, die sich beweisen lassen”.
Doch gefährlich wird es, wenn Menschen “im Namen der Wissenschaft” ihre eigene Weltanschauung als letztgültige “objektive Wahrheit” ausgeben – zu der Widerspruch also ein (bösartiger?) Irrtum oder gar eine “geistige Krankheit” sein müsse. Dann wird es totalitär.
Joachim Israels “Entfremdungs”-Buch ist ein eindrucksvolles Dokument dafür, dass auch kluge, hoch gebildete und sicherlich wohlmeinende Menschen in diese Denkfallen tappen können, die sich noch “wissenschaftlich” nennen, sich aber längst gegen jede empirische Überprüfung abgeschottet haben. Ob es ihm später wohl noch gelang, aus dem selbstgebauten, marxistisch-dogmatischen Denkgefängnis auszubrechen? Ich erwäge ernsthaft, mich auf die Suche nach einem seiner Spätwerke zu machen…
Mein Fazit aus dem “Begriff Entfremdung”: Gerade auch Intellektuelle sollten nicht nur “kritisch” gegenüber “der Gesellschaft” oder “dem System” sein – sondern auch gegenüber den eigenen Gedanken und weltanschaulichen Annahmen. Die liberalen Menschen- und Freiheitsrechte sind eben kein überflüssiger Luxus, sondern ein Schutzwall gegen selbsternannte “Experten” für “objektive Wahrheit”, die uns ihren Ideologien unterwerfen und fremdbestimmen wollen.
Den Begriff der Entfremdung finde ich sehr spannend gerade in Bezug auf unseren Umgang mit der Umwelt sowie unserem in großen Teilen industrialisierten Ernährungssystem.Es erklärt zu einem gewissen Grad den Widerspruch zwischen vorherrschenden Konsummustern und unserem Wissen über deren negative Folgen. Ein paar flüchtige Gedanken dazu von mir gibt es hier: http://kochkultur-leipzig.de/2015/06/22/entfremdung-das-kritische-mas-im-anthropozan/
Vielen Dank, @Johannes Timaeus – auch für den sehr anregenden Blogpost-Link!
Und, ja, ich stimme zu, dass “Entfremdung” (im Kontext verwandter Begriffe wie Verdinglichung, Anomie, Anthropodizee etc.) ein sehr faszinierendes Konzept ist, für das sich mehr Forschung und Diskussion lohnen würde. Das hier vorgestellte Buch hat mich auch entsprechend gefesselt – wenn ich über den unkritischen Umgang mit den Folgen des real existierenden Marxismus auch sehr erschüttert war. Dennoch überlege ich, am Thema dran zu bleiben. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Sie zu dem Thema nochmal etwas schreiben würden, bin sehr interessiert!
Die sogenannte Entfremdung ist zuvörderst ein Begriff der Agitation derjenigen kollektivistischen Kräfte mit internationalistischem Anspruch.
Spaßeshalber kann sich vorgestellt werden, wie die Entwicklung (“Evolution” für einige) der Kulturtechniken bspw. den Nomaden, der auf die Zunahme von Landwirtschaft stieß, seinerzeit “entfremdet” haben könnte oder den Analphabeten nach der Erfindung der Schrift.
Aber auch heutzutage, bspw. war Frank Schirrmacher von der FAZ bzgl. des Internets oder bzgl. bestimmter Entwicklung des Internets erkennbar “entfremdet”.
Eine (nicht suggestive, sondern ernsthaft interessierte) Nachfrage dazu, @Webbaer: Hätte der Begriff der “Entfremdung” zur jahrzehntelangen und millionenfachen Agitation getaugt, wenn er nicht ein vielfaches, ggf. diffuses Empfinden aufgegriffen hätte?
@ Herr Dr, Blume :
I.p. Gefühligkeit taugte er offensichtlich.
Agitation kann, wie dull sie sich heutzutage auch für aufgeklärte Kräfte anfühlen mag, über die Bildung von Begriffen und ungünstige Ideologisierung die Menge oder die Leutz derart erreichen, dass sie über Konzepte wie “Entfremdung” verkauft oder “an den Mann” gebracht werden kann.
Sie sind doch selbst Anthropologe, woll?!
MFG
Dr. W (bei dem auch auf besondere Ansprache (“nicht suggestiv, sondern ernsthaft interessiert”) verzichtet werden kann, denn der ist nicht nur kein Gummibär, sondern Hardliner, wie Sie vielleicht auch nach all den Jahren festgestellt haben)
Ja, @Webbaer – und genau vor diesem anthropologischen Hintergrund interessiert mich dann natürlich, wie und warum Begriffe wirken. So haben evolutionäre Studien zur Konstruktion sozialer Menschengruppen sehr viel dazu beigetragen, Wege der Integration wie auch fremdenfeindlichen Ausgrenzung verständlich zu machen:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit-gmf-in-evolution-rer-perspektive/
Mir wären aber noch keine vergleichbaren Ansätze und Forschungen zum Thema “Entfremdung” bekannt. Entsprechend erfolgte auch mein Hinweis auf die Ernsthaftigkeit des Interesses – ich bin da weniger an “Hardliner”-Schlagworten als an wirklich tiefergehenden Gedanken interessiert.
@ Herr Dr. Blume :
Sie schrieben ja schon mehrfach, dass fern einer Tendenzwissenschaft (Fachwort) empirisch bei der “Verfremdung” nichts zu holen scheint.
Selbst für Neomarxisten nicht, die ihren Interessen folgend selektiv Sichten der Menge (Fachwort) auf Gruppen zu bearbeiten gewohnt sind.
Ja, der Begriff ist ja bis zur Unkenntnis vieldeutig. Gleichwohl finde ich die Frage empirisch spannend, ob und welche Lebenserfahrung(en) damit angesprochen wurden und werden. Wie ja auch diese Blogdiskussion hier zeigt, besteht da seit Jahrhunderten eine starke und vielstimmige Resonanz.
Obwohl ich nichts anderes feststellte, als dass der Einzelne stets in einer mehrdimensional verfassten Welt lebt und dessen Beziehungen zu ihrer Vielfalt als das Soziale gilt, verstieg sich ein kommentierender Leser meines von einer in Hamburg ansässigen Wochenzeitung veröffentlichten Beitrags zu dem haltlosen Vorwurf, meinerseits schieren Dogmatismus, wenn nicht totalitäre Auffassungen zu vertreten; so, als ob beispielsweise die kopernikanische Wende per Dekret erklärt wurde und noch nie Ausfluss wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung war. Entfremdung tritt dadurch mehr als offensichtlich zu Tage und lässt augenfällig erkennen, wie sie selbst vor längst unabweisbar gleichsam auf dem Tisch liegenden Befunden kein Halten kennt.
Enftremdete Arbeit gab es im realen Sozialismus wohl noch weit mehr als in “sozialen Marktwirtschaften”, denn der typische Lohnarbeiter in einem der zenralistisch gesteuerten Volksbetriebe war nur ein Zahnrädchen das die zentral vorgegeben Vorgaben umzusetzen hatte. Er erlebte zudem beim Schlangestehen vor Warenhäusern aber auch beim Warten auf Rohstoffe, Ersatzteile und Reparaturdienste in seinem Betrieb, was es bedeutet, wenn die persönliche Initiative nicht mehr belohnt, ja gar bestraft wird. Das im realen Sozialismus häufig vorhandene Gefühl, das geht mich nichts an, dafür bin ich nicht zuständig, darum kümmere ich mich nicht und darf mich kümmern, ist sogar ein direkter Ausdruck des Entfremdungsgefühls.
Das ist jetzt nicht mehr Marxismus, sondern Marxismus-Leninismus, und klar, wenn es mit der Umsetzung, auch auf Individuen bezogen, des Sozialismus mit internationalistischem Anspruch nicht geklappt hat, ist im Sinne Lenins gerne auch pathologisiert worden, Systemkritiker landeten im “Ostblock” nicht selten in der Klapse.
MFG + danke für diese Beobachtung!
Dr. W (der im Abgang noch anmerkt, dass diejenigen Gesellschaftssysteme, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend implementieren konnten, nicht totalitär sind, zu bestimmten Fragen keine Antworten haben)
“Entfremdung” gibt es selbstverständlich als soziale Phänomen, wenn auch die dogmatische, marxistische Sichtweise von Israel als totalitär abzulehnen ist.
Es ist nichts neues, dass manche Unternehmen etwas gegen “Entfremdung” unternehmen, früher vor allem durch eine paternalistische Fürsorge z.B. bei Krupp und durch Korpsgeist, heute Corporate Identity genannt. Eine Möglichkeit besteht auch darin, subalternen Mitarbeitern in ihrem Bereich mehr Verantwortung zu übertragen. Selbstverständlich hat das seine Grenzen, der durchschnittliche Angestellte hat meist gar nicht soviel Interesse, sich mit dem Unternehmen zu identifizieren.
Man müsste das Konzept der Entfremdung vielleicht zusammen mit dem Konzept der “Kompensation” untersuchen. Seit dem 18. Jh. ist die Kulturgeschichte von ständig neuen Reformbewegungen geprägt, die zurück zu Natur oder zu den “Ursprüngen” von etwas will. Das kann man als Kompensation von Entfremdungen interpretieren.
Stimme zu, @Paul Stefan. Persönlich war ich zum Beispiel ziemlich überrascht davon, Gedanken, Arbeiten und Formulierungen von J.R.R. Tolkien zur industriellen “Alienation” zu finden – was ggf. den Erfolg seiner Romane auch in den “rebellischen” Jugendkulturen der 60er und 70er-Jahre miterklären könnte.
Als durchaus anregend habe ich auch die oben verlinkten Gedanken von @Johannes Timaeus zum Thema empfunden…
Frage am Rande: In meiner Jugend gab es keine Muslime sondern nur Mohammedaner. Die waren fremd, exotisch aber auch interessant. Wann wurden daraus Muslime? Als Kinder fanden wir es schade, dass die Mohmmedaner keine Gottesdienste in der großen Moschee des Schwetzinger Schlossgartens abhielten. Die selben Menschen sind heute gegen den Bau von Moscheen. Ihre Argumente lassen sich zusammenfassen: Das sind heute keine Mohammedaner mehr, das sind Anhänger des Islam.
Das lässt sich recht einfach klären, @Karl Stor: “Mohammedaner” war der in Europa verwendete Fremdbegriff, da man gemeinhin davon ausging, dass Mohammed von Anhängern des Islam in gleicher Weise verehrt würde wie Christus von Christen. Inzwischen ist aber – nicht zuletzt durch den millionenfach Dialog mit Muslimen – klar, dass Muslime Mohammed nicht als Sohn oder Inkarnation Gottes betrachten, sondern als menschlichen Gottesgesandten. Entsprechend wird er im islamisch-religiösen Kontext auch kaum abgebildet und soll nicht angebetet werden.
Vor diesem Hintergrund zeugt es von mangelnder Bildung und gezielter Bösartigkeit, Muslime weiterhin “Mohammedaner” zu nennen. Ebensowenig sollte man Juden noch “Mosaisten” nennen, was z.B. Luther noch tat und heutige Antisemiten gerne weitertreiben.
nun, man sollte schon “Muslime” sagen. Unserem Sprachgebrauch zufolge wäre allerdings m.E. “Mohammedaner” ebenso legitim. Schließlich spricht man auch von “Platonikern”, “Thomisten”, “Hegelianern”, ohne den jeweils damit gemeinten Anhängern bestimmter Lehren zu unterstellen, die Urheber zu vergotten. “Christen” ist eher ein Spezialfall. Und schließlich sind auch Arianer Christen.
@zabki
Ja, Kommunikation ist halt nie neutral, sondern findet immer zwischen Sendern und Empfängern statt. Denken wir beispielhaft an die Debatte um den Begriff “Negro”, den einige auch heute noch gerne verwenden wollen – und sich dabei gerne darauf berufen, dass ja auch Martin Luther King jr. ihn noch verwendet habe. Diejenigen, die gegen “political correctness” wettern, wollen ja ihrerseits Sprachregeln durchsetzen…
Im Übrigen kann ich mich nur wundern, dass auch “dieser” Blogpost doch wieder in Richtung Islam-Debatte umgebogen wird. Fixierung, anyone? 😉
Früher ist gerne der Begriff Mohammedanismus politologisch verwendet worden, weil er als Außensicht die gemeinte Veranstaltung als soziales System, auch als Herrschaftssystem, zu erklären hilft. Der M. kümmert sich ja nicht nur um Gläubige.
Islam, das wörtlich Unterwerfung meint, wäre eher die Innensicht, es wird ja nicht zum Islam konvertiert, sondern sich unterworfen, sprachlich, auch im Arabischen, ist dies klar.
Warum genau die Außensicht durch die Innensicht abgelöst worden ist, bleibt eine spannende Frage…
MFG
Dr. W
Die Aussagen zur “Geisteskrankheit” sind totalitär , stimmt , aber die Kritik daran übersieht , daß “der Arbeiter” selber sehr häufig äußerst totalitäre Ansichten hat , meistens eher dumpf und ganz prinzipiell gegen jeden gerichtet , der es wagt , irgendeine Form des Widerspruchs zu äußern .
Viele “Arbeiter” hassen das wie die Pest und sind jederzeit bereit , kritischen Kollegen in den Rücken zu fallen , wer als Arbeitnehmer kritisch denkt , kriegt Riesenärger – zuerst mit den lieben Kollegen , nicht mit dem Chef.
Da darf durchaus die Überlegung angestellt werden , was dahinter stehen könnte ,unter Anderem z.B. die Entfremdung , und es ist legitim , sich dabei über den Willen des “Beobachteten” hinwegzusetzen , vorausgesetzt , dieser ist seinerzeit übergriffig , etwa in Form von Denunziation, aber auch schon durch die stillschweigende Unterstützung derselben.
Vor allem in Zeiten , wo es beim Arbeitskampf um die Existenz geht , darf sich gewehrt werden gegen faule Eier in den eigenen Reihen , inklusive der Analyse der Gründe , die , das ist doch völlig logisch , vom hinterhältigen Teil der Arbeiterschaft nicht offen zugegeben werden.
Vor dem Hintergrund dieses primitiven , aber bis heute sehr sehr häufigen totalitären Arbeitnehmer-Denkens muß man diese Aussagen oben verstehen , sie sind eine Gegenreaktion , und sie sind ein Stück weit notwendig , mit einem hartleibigen Mob wirst du nicht mit schönen Reden fertig.
Die Kunst besteht darin , die Kurve zu kriegen zu einer besseren Idee , die nicht totalitär ist , daß das oft mißlungen ist , steht außer Frage.
Aber da haben wir auch leicht reden , die blutigen Auseinandersetzungen darum waren zu unseren Lebzeiten überwiegend abgeschlossen.
Der Begriff Entfremdung ist zunächst einmal vor allem ein philosophischer Begriff, der in der Lebenserfahrung und Vorstellungswelt der Philosophen Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel – Lebenserfahrung vor allem auch des ersteren – eine geradezu fundamentale Rolle spielt, und der dann auch die Grundlage der Dialektik Hegels bildet.
Hölderlin sah mit der Einführung des Christentums die vorchristlichen Völker von ihrer eigenen Religion und Kultur als entfremdet an und arbeitete an eine Wiederkehr der Antike, an einer Renaissance, an einer Aufhebung dieser als sehr grundlegend von ihm empfundenen Entfremdung.
Marx hat den Entfremdungs-Begriff bloß materialistisch gedeutet und ihn aller metaphysischer Komponenten entkleidet. Wenn aber der Marxismus-Leninismus so viele Menschen so lange überzeugen konnte, so lag es an solchen mutmaßlichen Körnchen Wahrheit wie dem eben gerade von mir genannten.
Und trotz dieser Irrwege des Marxismus-Leninismus bleibt der Entfremdungs-Begriff natürlich ein wesentlicher Begriff zur Deutung der Lage der heutigen Weltkultur und der in der heutigen Welt vorherrschenden und gelebten Moral.
(Man könnte übrigens ähnliches sagen zu dem zentralen Begriff Ausbeutung.)
@ Herr Bading :
Das “Körnchen Wahrheit” war im Marxistisch-Leninstischen der sogenannte Rote Terror, der in der Tat eine gewisse Überzeugungskraft hatte.
MFG
Dr. W (der vielleicht recht in der Annahme geht, dass Sie im Bereich des Rechtsextremismus zu publizieren wussten?)
Ich denke, man muss den Ursprung des modernen Entfremdungskonzeptes in der Aufklärung suchen (das 19. Jh. sei hier mal der Moderne zugeschlagen), und zwar im Kontext einer Dialektik der Aufklärung. Die Aufklärung produziert zwangsläufig solche Vorstellungen einer Entfremdung des Menschen durch die Entmythologisierung seiner Sinnerfahrung.
Auch in der vormodernen Zeit gab es ein Konzept der Entfremdung, nämlich das christliche. Der Mensch war auf Erden nur ein Pilger auf Pilgerfahrt, ein Peregrinus (ein Fremder) und seine wahre Heimat war Gott, seine Pilgerfahrt eine Vorbereitung auf die Heimkehr zu ihm.
Der Grund für die Pilgerfahrt in der Welt war der Sündenfall, der zur Vertreibung aus dem Paradies geführt hat. Es gab in der frühen Neuzeit Diskussionen darüber, ob und inwieweit der Sündenfall auch die Natur korrumpiert habe. Die Bilder von Hieronymus Bosch zeigen z.B. sehr anschaulich eine sehr pessimistische Sicht, wo auf den Menschen in der Welt nur Böses und Unheil wartete.
Im 18. Jahrhundert setzte sich aber mehr eine positive Sicht der Natur durch („die beste aller Welten“) und Philosophen begannen, sich auf das Naturrecht zu berufen, um Rechte von Menschen zu rechtfertigen. Das führte zu einer steten Suche nach den wahren Ursprüngen des Menschen, denn ein hypothetischer Naturzustand musste notwendigerweise in der Vergangenheit liegen. Weil die Abweichung vom Urzustand als Entfremdung gedeutet wurde, erhoben und erheben sich bis heute chronisch die Forderungen, zur Natur und zu den Ursprüngen zurückzukehren,.
Ich habe weiter oben geschrieben, dass es Entfremdung als soziales Phänomen gebe. Genauer müsste man wohl formulieren:
Es gibt Erfahrungen von Defiziten an Sinn und Sinnlichkeit, die mit dem Konzept der „Entfremdung“ interpretiert werden können. Das gilt z.B. dafür, wenn man im Job Dinge tun muss, die man für sinn- und zwecklos hält, wenn man nur als Ausführungswerkzeug höherer Mächte gehalten wird. Oder wenn wir chronisch Dinge tun, für die unser Körper biologisch nicht optimiert ist, Bewegungsmangel, Mangel an Licht, Luft, Kontakt mit natürlichen Stoffen etc.
Siehe hier: https://scilogs.spektrum.de/positive-psychologie-und-lernen/das-ja-vier-schritte-sinn/
Der Text hat mich zum Nachdenken gebracht.
Ein interessanter Hinweis:
In der Tat geht der Kommunismus von einer Art Paradies aus, aus dem der Mensch vertrieben wurde: Der Urkommunismus, im dem es noch keine Klassenunterschiede gab.
Aber, und hier sehe ich den Hegel, dann entstand als Antithese die ersten Klassenunterschiede und diese werden am Ende der Geschichte wieder “Aufgehoben”, so dass es eine bessere Welt für alle gibt.
Das ähnelt sehr einer Religion.
1. Ja, es sollte einen intelligenten Menschen zum Nachdenken bringen, dass die Erfahrungen seiner Hypothese scheinbar widersprechen.
2. Nein. Das Ergebnis des unter 1 geschilderten Nachdenkens ist nämlich nicht vorweggenommen.
Es kann nämlich durchaus sein, dass die “Widerlegung” nur eine scheinbare Widerlegung war, das heißt, dass der Schein hier trügt und man mit einer genaueren Analyse der Wahrnehmung hinter das Geheimnis kommt.
Als Beispiel führe ich hier einen Fall aus der Wissenschaftsgeschichte an: Galilei hat behauptet, die Erde würde sich um sich selbst drehen. Das war unter den Augen der damaligen Gelehrten offenbarer Unsinn. Ein Pfeil, der unter diese Bedingungen abgeschoßen würde, müsste dann doch die Auswirkungen der Erdbewegung zeigen!
Als Antwort auf diese Einwände formulierte Galilei dann das galileische Relativitätsprinzip.
Was hat der große Gelehrte also gemacht?
Er hat eine empirische Widerlegung nicht akzeptiert und stattdessen eine Theorie entworfen, wieso die Widerlegung eigentlich unwirksam ist.
Das Wort “Falsifikation” stammt aus der Philosophie von Popper, die heute unter den Namen “Kritischer Rationalismus” verbreitet und weiterentwickelt wird.
Ich verweise nur darauf, dass auch Popper letztlich ein Konventionalist war, wenn er schreibt, dass die Experten selbst erkennen müssen, ob ein Ergebnis die Theorie angreift und widerlegt oder nicht!
Grade der Bereich ist ja nun sehr kompliziert…
“Entfremdung” ist ein Begriff, der mich auch gerade interessiert. Nun bin ich kein Freund des Totalitarismusbegriffes, insofern ich diesen unpräzise finde (Links bei Bedarf). Und vielleicht sollte man die “Das Kapital”-Definition auch erst einmal als etwas analytisch gedachtes begreifen: Ein Produktionsverhältnis ist dann entfremdet, wenn Produktivkräfte nicht die Produktionsmittel “besitzen”. Soweit so gut, so langweilig. In der Folge, was Michael hier nur sehr knapp andeutet, wurde der Begriff der Entfremdung aufgeladen mit parallelen Vorstellungen einer “Entfremdung”: Entfremdung von der Natur, von Gott, vom Körper (bzw. körperlicher Arbeit). Man könnte sagen, es handelte sich um essenzialistische Aufladungen, denn gegenüber steht nicht ein Besitzverhältnis, sondern eine Art Verfälschungstheorie mit Abfall vom Wahren, Guten, Schönen (und Marx geht es – nach meiner Kenntnis – hier nicht um eine Vergangenheitsutopie mit Tauschhandel und Subsistenzwirtschaft, aber auch diese Annahme späterer Fans wird in den Entfremdungsreigen der Diskurse eingehen). Jedenfalls nach dieser meiner Lesart ist die Umfrage unter Arbeiter_innen als solche kritisch zu sehen, da sie sozusagen “Gefühle” und Selbstwahrnehmungen abfragen will, also hier bereits ein entsprechend aufgeladener Begriff von “Entfremdung” vorzuliegen scheint.
Christoph Wagenseil: “Und vielleicht sollte man die “Das Kapital”-Definition auch erst einmal als etwas analytisch gedachtes begreifen: Ein Produktionsverhältnis ist dann entfremdet, wenn Produktivkräfte nicht die Produktionsmittel “besitzen”.”
Nichtsdestotrotz enthält diese Analyse doch schon eine Wertung, bzw. Abwertung des Umstandes, wenn die Produktionsmittel nicht mehr in den Händen der Produktivkräfte sind. Dahinter steht die Idee, das die Produktionsmittel grundsätzlich den Produktivkräften gehören sollte.
Was Herr Blume anführte, klang aber etwas anders. Da entstand die Entfremdung durch die Produktion für den Geldmarkt, anstatt für Eigenbedarf und Tausch. Sie müsste also auch dann auftreten, wenn eine Produktionskraft die Produktionsmittel besitzen würde, aber trotzdem für den Geldmarkt anstatt für Tausch und Eigenbedarf produziert. Geht das?
Ich bin kein Marx-Kenner, vielleicht weiß jemand anders weiter …
Ich fahre mit meinem eigenen Auto zu Kunden und schraube mit meinen eigenen Schraubendrehern an kaputten Computern herum. Für jede Reparatur bekomme ich eine Pauschale. Mein fest angestellter Kollege fährt mit dem Dienstwagen zu Kunden und schraubt mit Firmen-Schraubendrehern an kaputten Computern herum und wird nach Stunden bezahlt. nach der Marxistischen Theorie muß der Ärmste ja völlig entfremdet und ausgebeutet sein…
Lieben Dank für die gekonnte Hinterfragung, @Störk! In vielen früheren Staaten – und auch noch einigen heutigen – kämen Sie für diese “freche” Antwort in den Knast… 😉
Mir kam die Sache gleich Spanisch vor, und ich habe mir deshalb mal eine gute Viertelstunde Zeit genommen, Israels Buch in der Bibliothek aufzusuchen (Ein Teil meiner Familie hieß vor dem Krieg “Israel”, auch wenn ich wohl nicht mit Joachim verwandt bin.)
Das Ergebnis: Der vermeintliche Totalitarismus hat weniger mit Israel zu tun als damit, dass Herr Blume nicht lesen kann:
1. Menschen, die nicht die marxistisch vorgeschriebenen, psychologischen Erfahrungen machen, werden nicht umstandslos zu “geistig Kranken” umgedeutet, vielmehr wird ihre Situation verglichen mit der geistig Kranker! (S. 108) Das ist etwas völlig anderes! Dass Menschen sich und ihre Interessen manchmal selbst nicht richtig verstehen, ist keineswegs eine skandalöse Annahme, die geradewegs in die Umerziehungslager und Todeslager führt, sondern eine beinahe schon triviale Beobachtung.
2 (und am wichtigsten!!). Israel erläutert und interpretiert Marxens Theorie – mal mehr mal weniger distanziert – er macht sie sich nicht zu eigen!! Die Übersetzerin hat unglücklicherweise fast überall den Indikativ stehen lassen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Marx’ Theorie dargestellt und dabei – eine gute hermeneutische Tugend !- möglichst stark gemacht wird, ohne dass Israel sie jedoch einfach unkritisch übernimmt. Hier Beispiele auf denselben Seiten, von denen Blume zitiert, die das unmissverständlich zeigen:
“Es ist also schwieirg zu entscheiden, was die wirklichen Interessen der Arbeiterklasse sind” (S.116)
“Das wahre Bewusstsein wird daher von außen durch Parteiideologen in die Arbeiterklasse hineingetragen. Diese Ideologen sind fähig die notwendigen wissenschaftlichen Analysen durchzuführen und richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Dies ist jedoch eine Illusion [sic!]” usw. (S.117)
Wie kann man das einfach übersehen? Nach dem Zitat, das Blume von Seite 118 bringt, als handle es sich um Israels Position, stellt der Autor übrigens fest, besagte Auffassung führe zu “politischen Problemen” und “theoretischen Schwierigkeiten”!
Das ist vielleicht keine Distanzierung, wie man sie sich wünschte, aber doch eine Distanzierung.
3. Der größte Hammer besteht aber in Folgendem: Israel lehnt den Begriff der Entfremdung (ob von Marx oder anderen) als untauglich ab! Zu den Gründen äußerst er sich auf den S.312-325.
Wie gesagt, das hat mich weniger als eine halbe Stunde gekostet. Ich weiß nicht, ob das Buch von Israel etwas taugt, ja nicht einmal, ob es vielleicht tatsächlich dogmatische oder totalitäre Tendenzen hat. Die “Beweisführung” Michael Blumes – so viel ist sicher – zeigt jedoch nichts dergleichen. Die Rhetorik (blutig niedergeschlagener Prager Frühling, Todeslager, Stalinismus, Warum wird Marxens Antisemitismus nicht erwäht?) kommt der Verunglimpfung eines Verstorbenen nahe, der nach allem, was man weiß, ein ausgesprochen anständiger Zeitgenosse war.
Eine öffentliche Entschuldigung scheint mir angebracht.
Noch ein Wort zu Dawkins (auch wenn man genauso gut die Wand anschreien kann…): Für die Frage, ob der Glaube an Gott ein Wahn (d.h. ein grober Irrtum) ist oder nicht, ist IRRELEVANT, ob gläubige Menschen glücklich sind oder viele Kinder haben. Ich sage das als jemand, der NICHT glaubt, dass der Glaube an Gott ein Wahn ist und der das Buch von Dawkins für hundsmiserabel hält. Trotzdem noch einmal: IRRELEVANT.
@Christian Weidemann
Freut mich, dass Sie begonnen haben, mit dem Buch zu ringen! Ich kann nur empfehlen, es wirklich zu lesen – auch z.B. Israels Sympathie für Lösungsvorschläge wie die “jugoslawischen Arbeiterräte”.
Und, nein, ich habe überhaupt kein Problem damit, dass jemand eine Theorie erst einmal “hermeneutisch stark macht” – wenn dann auch eine kritische Überprüfung und Reflexion folgt. Und angesichts von millionenfachen Mordopfern, Gulags, der Niederschlagung des “Prager Frühlings” u.v.m. matt und unkonkret anzumerken, da gebe es “politische Probleme” und “theoretische Schwierigkeiten”, ist nicht nur überaus zynisch, sondern auch dogmatisch kalt.
Vielleicht hilft es Ihnen, sich vorzustellen, Sie hätten das Buch eines Nationalisten (einer beliebigen Nation) vor sich, der erst einmal eine Lesart völkischer Thesen “hermeneutisch stark macht” – und dann aber Fragen dazu wie Rassismus, Kolonialismus, Gewalt und Genozide an Minderheiten sowie die nationalistischen Grundierungen beider Weltkriegen mit der Seitenbemerkung abtut, dies wären eben ein paar “politische Probleme” und “theoretische Schwierigkeiten”! Ich nehme an, Ihre Empörung würde (m.E. zu Recht!) kaum Grenzen kennen… So einfach sollte es sich m.E. keine Weltanschauung mehr machen, mindestens nicht im wissenschaftlichen und öffentlich besoldeten Diskurs.
Nicht nur, aber insbesondere (!) von Vertreterinnen und Vertretern der Geisteswissenschaften erwarte ich nicht nur eine inhaltlich präzise Wiedergabe von Thesen (die Israel m.E. auf herausragendem Niveau und nicht nur für Marx leistet), sondern auch eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung – zumal die millionenfachen Verbrechen im Namen des Marxismus 1972 schon kein “Geheimnis” mehr waren. So war z.B. Solschenizyns “Der erste Kreis der Hölle” schon 1968 erschienen (der “Archipel Gulag” dann 1973).
Auch die Ablehnung der Idee der Menschenrechte durch die Sowjetunion war ja kein Geheimnis, sondern offiziell erklärt – hätte eine Auseinandersetzung dazu nicht in ein Buch über “Entfremdung” gehört!?
Israel selbst erhebt in seinem vorliegenden Werk den Anspruch, die Wissenschaften sollten nicht nur “beschreiben”, sondern auch orientieren bzw. kritisieren. Diesem zweiten Anspruch ist er m.E. hier ganz klar nicht gerecht geworden. Ich überlege aber ernsthaft – wie oben geschrieben -, noch bewusst ein Spätwerk von ihm zu lesen, um zu sehen, ob er sich ggf. in späteren Jahrzehnten aus der marxistischen Dogmatik heraus freischwimmen konnte. Schließlich war Israel mit der Begeisterung für marxistische “Ideale” in den 1970ern ja keineswegs alleine, wir haben es hier – gerade auch an den Universitäten – durchaus mit einem Generationenphänomen zu tun, das noch allzu wenig reflektiert und aufgearbeitet wurde.
Danke für die Antwort! Ich denke, wir kommen einander schon näher.
In einem Punkt gebe ich Ihnen jedenfalls recht: Deutlichere Worte vonseiten israels hätten nicht geschadet. und es ist legitim, dass Sie das kritisieren. Ich gebe Ihnen auch darin recht, dass ich mich für einen Nationalisten kaum so in die Bresche geworfen hätte. Das sagt allerdings mehr über mich aus als darüber, ob eine vergleichbare Kritik an einem Nationalisten nicht genauso unfair gewesen wäre.
Was ich Ihnen vorwerfe, ist, dass sie eine Reihe entlastender Dinge nicht erwähnen:
1. Es handelt sich um eine Übersetzung, die mit geweisser Vorsicht zu geniessen ist.
2. Während Hayek Österreich lange vor dem “Anschluss” verließ, weil er einen Ruf nach London hatte, musste Israel Deutschland als Jude verlassen, ein Teil seiner Familie wurde später ermordet. Das macht den Vorwurf, er schweige über den (in seiner Bedeutung umstrittenen) Antisemitismus von Marx etwas schal erscheinen lässt.
3. Israel hat durchaus gewichtige Zweifel an und Einwände gegen Marx’ Konzeption von “Entfremdung” und “falschem Bewußtsein”.
4. Israel gesteht zu, dass es auch in sozialistischen Staaten Entfremdung gibt.
5. Israel hält den Begriff der “Entfremdung” letztlich für ungeeignet und will ihn durch “Verdinglichung” ersetzen.
6. Marx’ Grundidee, es gebe Situationen, wo Menschen ihre wahren Interessen nicht kennen und diese daher von anderen wahrgenommen werden müssten, ist ganz harmlos. Bleibt eine Sklavenhaltergesellscaft, in der die meisten Menschen zufrieden mit ihrem Los sind, deshalb etwa keine Sklavenhaltergesellschaft (Nordkorea)? Selbst die CDU vertritt, wenn sie sich für staatliches Gewaltmonopol, Asylrecht oder Religionsfreiheit einsetzt, auch die (wahren) Interessen von Leuten, die diese Dinge ablehnen, oder? [Dass diese grundsätzlich richtige Einsicht im real existierenden Sozialismus pervertiert wurde, ist geschenkt!]
Indem Sie all das verschweigen, erscheint Israel als ein Apparitschik, der Marx und weit schlimmer: den Marxisten Osteuropas, in allem unkritisch folgt. Trotz meiner nur bescheidenen Kenntnis des Buches erscheint mir das als klarerweise falsch. Und ich finde, Sie sollten den Post so nicht stehen lassen.
Eine Sache kann ich mir nicht verkneifen: nämlich den Nationalistenvergleich, der bei mir (zugegeben!) durchaus einen wunden Punkt traf, mit gleicher Münze zurückzugeben. Falls ein Religionswissenschaftler, nennen wir ihn Mike Flowers, herausfände, dass agressive Nationalisten und Faschisten besonders zufrieden und kinderreich sind, würde das Ihre Meinung über die Wahrheit des Nationalismus ändern?
Vielen Dank, @Christian Weidemann – das Kompliment kann ich so nur zurückgeben! So engagierte und reflektierte Kommentierende kann man sich als Blogger ja nur wünschen, so macht das Freude & Sinn!
Zu Ihren Anmerkungen: Ja, gerade wegen der eigenen Erfahrungen mit Antisemitismus bin ich immer noch befremdet darüber, dass Israel Marxens “Judenfrage” zwar zitiert, aber in keiner Weise kritisch würdigt. Das hat meinen Argwohn eher bestärkt. Für Hayek war es z.B. selbstverständlich, für die Aufnahme (& damit Rettung) von Popper und dessen Gattin vor den Nazis einzutreten. Es ist mir nach wie vor unverständlich, dass Israel auch Marx in Sachen Antisemitismus beklemmend “schont” – und ich hoffe, dazu in Zukunft noch mehr zu erfahren. Und, nein, die Auseinandersetzung mit Marxismus und Israel bleibt ganz sicher “nicht so stehen” – auch ich bin da ja längst viel neugieriger geworden. Wenn Sie auf eine Biografie oder ein spannendes Spätwerk stoßen, lassen Sie es mich bitte umgehend wissen!
Sie schilderten Ihren Eindruck: Indem Sie all das verschweigen, erscheint Israel als ein Apparitschik, der Marx und weit schlimmer: den Marxisten Osteuropas, in allem unkritisch folgt.
Das habe ich so nicht geschrieben und es ist auch nicht mein Eindruck. Ich nehme jedoch wahr, dass Israel einerseits in eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft geflohen ist, andererseits aber Marx sehr weitgehend verteidigt und eine ehrliche, kritische Auseinandersetzung mit den millionenfachen Menschheitsverbrechen im Namen dieser Ideologie (wie auch mit dessen Antisemitismus) nur schwach und indirekt führt, sie kaum beim Namen nennt. Das erlaube ich mir – selbst Kind von Stasi-Opfern – kritisch zu benennen, verbunden mit dem Hinweis, dass ich die spätere Entwicklung des rezensierten Autors noch nicht absehen kann (und relevant finde).
Zu Ihrer Abschlussfrage:
Falls ein Religionswissenschaftler, nennen wir ihn Mike Flowers, herausfände, dass agressive Nationalisten und Faschisten besonders zufrieden und kinderreich sind, würde das Ihre Meinung über die Wahrheit des Nationalismus ändern?
Dazu darf ich klar antworten: Evolutionärer Erfolg ist m.E. NICHT einfach “gut” oder gar “wahr”! Zufriedenheit und Kinderreichtum sind m.E. deskriptive, aber noch keine normativen Kategorien! Tatsächlich sehe ich den Aufstieg nach außen abgeschotteter und zugleich extrem kinderreicher Gemeinschaften nicht einfach als Triumph, sondern durchaus auch mit Sorge – und habe nicht zufällig unmittelbar nach “Religion und Demografie” ein Buch über die Gefahren von Fundamentalismus und Extremismus vorgelegt! Siehe hier: http://www.sciebooks.de/cms/books/religioeser-fundamentalismus-extremismus
Um meine eigene Weltanschauung hier transparent zu machen: Ich glaube, dass alles Menschengemachte immer “Licht” und “Schatten” umfasst. Daher sollte die Aufgabe einer Wissenschaftlerin weder in kritikloser Bewunderung noch in selbstgerecht-destruktiverer Dekonstruktion liegen, sondern in der sorgfältigen, deskriptiven Forschung (“Wie funktionieren die Dinge?”) und der ebenso sorgfältigen normativen Diskussion (“Was bedeutet dies für mich und uns?”). Deswegen reicht es mir zum Beispiel auch nicht, einfach zu konstatieren, der Marxismus sei “gescheitert” – ich will besser verstehen, wie und warum er Millionen Herzen und Köpfe gewinnen und bis in die Selbstaufgabe führen konnte. Darauf geht übrigens auch mein Interesse an den Entfremdungs-Theorien zurück. Umgekehrt würde ich immer darauf bestehen, zwischen “evolutionärem Erfolg” (deskriptiv!) einerseits und dem “Wahren” und “Guten” (normativ!) andererseits zu unterscheiden, die Bezüge zu ertasten, zu debattieren, statt die Kategorien zu vermischen.
Nochmal danke für Ihr Engagement und Ihre wirklich anregenden Kommentare! Ich hoffe sehr, Sie schauen hier öfter mal vorbei!
Den Entfremdungsbegriff finde ich ganz nützlich, aber problematisch, weil er (wie vieles) so schwammig ist.
Ich habe den Eindruck, dass hier im Blogpost und den Kommentaren der Begriff auf zwei Arten verwendet wird: einmal individuell-psychologisch und einmal systemisch.
Bei Marx muss man aufpassen, weil der oft streng systemisch ist (“Die Judenfrage” kenne ich nicht). Dass soll heissen, ich würde denken, das Marx folgendes eher systemisch als individuell meint:
> Eine Entfremdungserfahrung dann eintritt, wenn Menschen nicht mehr für sich selbst und den Tausch produzieren, sondern für den Geldmarkt.
Wenn jetzt Israel das individuell operationalisiert, dann muss er sich nicht wundern über:
> Einige Personen haben überhaupt keine Erfahrung der Entfremdung.
Ich würde das systemisch operationalisieren über Drogenmissbrauch (z.B. Alkoholismus) oder psychologische “Krankenheiten” (z.B. Burn-out) breiter Bevölkerungsschichten oder so?
Ähnlich in den Kommentaren:
> Ein Produktionsverhältnis ist dann entfremdet, wenn Produktivkräfte nicht die Produktionsmittel “besitzen”.
Das ist offensichtlich systemisch gemeint. Wenn dann Störk individuell antwortet:
> … nach der Marxistischen Theorie muß der Ärmste ja völlig entfremdet und ausgebeutet sein…
passt das nicht zur systemischen Ebene. Also der Ärmste ist natürlich ausgebeutet. Nach Marx war Ausbeutung doch, wenn der Mehrwert den Arbeitern vorenthalten wird. Und ich gehe mal davon aus, dass der Ärmste rentabel für seinen Arbeitgeber ist. Das Beispiel ist ganz schön, weil man sieht wie schwammig Entfremdung im Vergleich zu Ausbeutung ist.
Entfremdung wird oft psychologisch-individuell verwendet, von daher sollte man das vielleicht auch so definieren, aber wie? Für mich ist Entfremdung, wenn man in Verhältnissen steckt in denen man als Mensch nicht zählt und keinen Einfluss hat,
sondern nur das eigene Funktionieren zählt. (Was eine wenig psychologische Definition ist.)
Z.B. eine Liebesbeziehung ist nicht entfremdet, weil man ja immer den ganzen Mensch liebt und dessen funktionieren sollte keine Rolle spielen. Wenn jetzt einer im Bett nicht funktioniert, dann ist das ein nachgelagertes Problem und sollte keine Rolle für die Liebe spielen. Oder anders, wenn Funktionserfordernisse in die Beziehung kommen, z.B. der Mann muss ökonomisch für seine Frau sorgen können, dann suppt Entfremdung von aussen in die Beziehung und macht die Liebe schal. Also eine Liebesbeziehung wird eher durch Entfremdung kaputt gemacht als dass Entfremdung ein Bestandteil einer Beziehung ist. Wenn jetzt eine Frau ökonomisch gefesselt an einen Mann, ihn desshalb liebt, weil er ökonomisch für sie sorgt, dann ist das keine Liebesbeziehung nach heutigem Ideal und irgendwie komisch. Entfremdet? Der Sklave liebt seinen Herren, weil es sein Herr ist.
Anderes Beispiel: Schule. Die Bedürfnisse eines Schülers zählen in der Schule nur soweit wie sie das Funktionieren beeinträchtigen im Rahmen der Institution. Die Funktionserfordernisse der Schule sind Pünktlichkeit, eine gewisse Hierarchiehörigkeit usw.. Entspricht ein Schüler dem, dann interessiert es auch keinen was er in seiner Freizeit macht. Also dem einzelnen Lehrer kann es schon interessieren ob ein Schüler sich am Wochenende komatös die Kante gibt, aber im Rahmen der Institution ist das wurscht, so lange er den Erfordernissen der Institution entspricht. Von daher ist Schule für mich auch ein entfremdetes Verhältnis.
Problematisch scheint es auch zu sein, wenn man als Agent einer Institution sich deren Rahmen soweit internalisiert hat, dass man seine eigenen Fesseln nicht mehr sieht und sich frei vorkommt. Dazu habe ich mal irgendwo ein Beispiel gefunden (aber ich habe vergessen woher) und zwar Anfang des 20. Jahrhundert ein paar bürgerliche Frauen sitzen beim Kaffeekränzchen und alle haben einen Mann, Kinder und ein Haus mit Bediensteten. Per Definition müssten sie glücklich sein, aber keine ist es (so “Desperate Housewives”-mässig) und sie wissen nicht warum. Sie spüren nur irgendwas stimmt in ihrer Langeweile nicht.
Darauf gibt es dann zwei Taktiken entweder man redet sich weiter ein alles ist in Ordnung, man ist frei, und lässt sich seine Neurose bei Herrn Freud behandeln oder man macht Emanzipation.
Das ist wahrscheinlich der Knackpunkt, Entfremdung hin oder her. Die eigentliche Frage ist doch: erzeugen entfremdete Verhältnisse Leiden (darauf deutet vieles hin) und andersrum kann man bestimmte Formen von Leiden auf Entfremdung zurückführen.
Obwohl ich nehme das wieder zurück, eine Definition von Entfremdung (Was ist das eigentlich?), ist gar nicht so schlecht.
Ich verstehe irgendwie immer noch nicht, warum man, wenn man ein Buch über Entfremdung schreibt sich erstmal von der Tagespolitik der Sowjetunion distanzieren muss bzw. vom Stalinismus.
Ganz einfach, @int: Wenn man diskutiert, ob eine wissenschaftliche These (z.B. zur marxistischen Entfremdung) richtig ist, sollte bereits beobachtbare Auswirkungen (hier: der marxistischen Praxis) nicht ausblenden oder beschönigen. Dies tut der Autor – selbst dort, wo er “Entfremdung in sozialistischen Staaten” diskutiert, wird die auch seinerzeit längst bekannte Gewalt kaum benannt, kaum bewertet und nicht verurteilt… :-/ Das kann man egal finden, mich hat es schockiert, zumal der Autor eindeutig ein sehr kluger Kopf war…
Ich denke ja, dass irgendwer kam und aus Marx eine Staatsideologie gestrickt hat. An der Stelle hört man widersprüchliches. Einerseits habe ich mal gehört: Marx war kein Marxist. Und andererseits: Oh ja, der hat mit dem Quatsch sehr wohl angefangen. Also ich habe keinen Plan. Ich kenne mich zu wenig mit der Zeit aus.
Das was ich kenne ist halt 3 Bände von Marx da steht so grob drinne das und warum Lohnarbeit eine richtig schlechte Idee sind. Und dann kuckt man sich die Sowjetunion an, naja, sieht aus, riecht und schmeckt nach einem auf Lohnarbeit-basierendem System.
Also wie gesagt, möglicherweise ist das bezogen auf Israel oder auch generell legitim und ich weiss das nur nicht, aber aus meiner jetzigen Perspektive finde ich den Sprung von ein Konzept von Marx nehmen hin zu das ist dann marxistisch, im Sinne dieser Staatsideologie, problematisch. Und dann den Sprung von der Staatsideologie Marxismus hin zur Praxis, finde ich auch problematisch. Ich könnte mir vorstellen, dass viel Kram was in der Sowjetunion gelaufen ist, gar nicht so direkt in den Marxismus-Traktaten drin steht.
Das soll heissen Entfremdung nehmen und das ist möglicherweise auch ein Basisdetail des Marxismus ist erstmal irrelevant ausser man landet dann automatisch im Marxismus. Und dann wenn man Marxismus macht, kommt automatisch Sowjetunion raus ist mir auch nicht so einleuchtend.
Den ideologischen Anstrich von Leuten und was die so machen kann man jetzt miteinander verwechseln, muss man aber nicht unbedingt.
Wenn ich was über Entfremdung schreiben würde, käme ich gar nicht auf die Idee mich von der Sowjetunion abgrenzen zu müssen. Weil das für mich so offensichtlich abstrus ist das da eine Verbindung besteht.
Ich frage mich, ob es da schöne symmetrische Beispiele für gibt. Also z.B. wenn man über den historischen Jesus schreibt, muss man sich erstmal von der katholischen Kirche und deren Verbrechen distanzieren. Oder wenn man über die Moralphilosophie der alten Griechen schreibt, muss man erstmal erklären, dass man kein Befürworter der Sklaverei ist. Oder wenn man über den Liberalismus bzw. ein Detail davon schreibt, muss man sich auch erstmal von der Sklaverei distanzieren, weil das in Amerika zur Gründerväterzeit Liberalismus war.
Ich hoffe mein Problem ist einigermassen klar geworden. Die ganze Polemik habe ich nur drin damit das Spass macht beim Lesen (und viel wichtiger noch beim Schreiben). Aber der Punkt ist mir wirklich unklar.
@int
Lieben Dank fürs Ringen! 🙂 Und ich finde, die Ihrerseits gewählten Beispiele passen m.E. ganz gut: Wenn jemand das politische System des antiken Athen anpreisen würde, so wären Äußerungen zur Sklaverei zu erwarten. Wenn jemand mit Berufung auf Jesus und die Bibel ein politisches System errichten wollte, so wäre eine ehrlich-kritische Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte zu erwarten. Und wenn Israel hier den Marxismus (bzw. seine Lesart des M.) als auch politisches System mit großer Sympathie vorstellt, so wäre eine mutige, ehrliche Auseinandersetzung mit den damals bereits bekannten Schwierigkeiten und Verbrechen in real existierenden Gesellschaften wie der Sowjetunion doch zu erhoffen gewesen…
Der Begriff “Entfremdung” ist problematisch, weil es ein wertender Begriff ist. Wer hat das Recht oder die Kompetenz die Diagnose zu stellen und was sind die Maßstäbe? Kann man das überhaupt systemisch tun?
Ich möchte noch einmal an meine Ideologiekritik des Entfremdungskonzeptes erinnern, was ich weiter oben schon ausgeführt habe. Hier noch einmal klarer.
Im Christentum und im Neoplatonismus gab es schon einmal ein Konzept einer Entfremdung. Der Mensch ist im Jammertal des Lebens auf Erden ein Pilger (Peregrinus) auf der Pilgerfahrt zu seiner eigentlichen Heimat, Gott.
Die Aufklärung hat solch einer Sinngebung den Boden entzogen. Gott wurde zu einem moralischen Prinzip und eine rein metaphysisches Konzept. Da war der Schritt nicht weit, gleich Atheismus auszurufen.
Damit entstand ein Sinndefizit, dass neue Ideologien ausfüllten: Nationalismus, Kunstreligion (Romantik, Symbolismus), Kommunismus, Nationalsozialismus, Fundamentalismus etc.
Diese Ideologien erklären den unbefriedigenden Ist-Zustand der Welt zumeist mit einer Entfremdung von einem idealen Urzustand, den es wiederherzustellen gilt, durch einen dialektischen Schritt nach vorne oder eine Rückkehr zu den guten, alten Verhältnissen. Das ist der ideologische, “systemische” Entfremdungsbegriff, um den Ausdruck von “int” aufzugreifen.
Vielen Dank für den tiefen Gedanken, @Paul Stefan. Ich stimme zu – jedoch mit einem “Aber”.
Denn m.E. benötigt jede (religiöse wie auch nichtreligiöse) Weltanschauung eine Erklärung für das erfahrene Leid in der Welt. Die Annahme eines “paradiesischen” Urzustandes, aus dem die Menschen (durch einen religiösen Tabubruch, den Kapitalismus, die Entstehung des Selbstbewusstseins o.ä.) herausgefallen wären, ist die häufigste, geradezu klassische Lösung. Daran kann ich zunächst nichts Verwerfliches finden.
Gefährlich wird es jedoch tatsächlich, wenn die je eigenen Annahmen nicht mehr an der Wirklichkeit überprüft und ggf. angepasst werden. Große Teile des Marxismus – und tendenziell auch der hier rezensierte Autor – tendierten dazu, Widerlegungen (z.B. anderslautende Aussagen von Arbeitern) nur wiederum als Beleg von “Entfremdung” und also zu “überwindendem” Widerstand zu sehen. Dann, erst dann, werden ziviler Widerspruch & friedliche Widerlegung unmöglich, die Weltanschauung wird antiplural und totalitär… :-/
Der Entfremdungsbegriff ist wertend? Bei Marx weiss ich nicht, aber neuerem Kram hatte ich eher den Eindruck als würde ein Leiden diagnostiziert und das dann erklärt mit entfremdeten Verhältnissen. (Also mal dahingestellt, ob das eine sonderlich gute oder schlechte Erklärung ist.) Erstmal soweit nicht wertend, würde ich sagen.
Im nächsten Schritt (okay das meist eher implizit) Leiden ist schlecht, desshalb ist Entfremdung schlecht.
Das wäre ein bisschen billig, wenn man das Buch argumentativ so under-cutten könnte, indem man sagt: Naja, für den Geldmarkt produzieren, steigert ja den allgemeinen Wohlstand an der Stelle also kein Problem oder wenn die Werkzeuge nicht Eigentum der Arbeiter sind, ist das gut, weil dann brauchen die sich nicht um deren Pflege kümmern und können in Ruhe arbeiten an der Stelle also kein Problem. So nach dem Motto: das kann man jetzt als entfremdetes Verhältnis definieren, wenn man den will, aber das ist kein Problem ganz im Gegenteil.
Gut, ich bin mir nocht ganz sicher auf was du hinaus willst, aber Entfremdung oder Leiden, würde ich sagen, kann erstmal jeder völlig kompetenzbefreite Trottel diagnostizieren, gerne auch systemisch. Das Recht dazu hat er, weil alles was nicht verboten ist, ist erlaubt. Auf mich bezogen muss er mir das nur plausibel machen. Das ich das verstehe, natürlich. Und systemisch muss die Gesellschaft wir uns überlegen, ob das überhaupt ein Problem ist oder nicht und ob wir irgendwas dagegen tun oder nicht.
Womit ich mich wenig anfreunden kann, ist die Vorstellung den Entfremdungsbegriff fallen zu lassen wie im heutigen Mainstream-Diskurs wegen untauglich (zu schwammig oder wertend). Dann hat man gar kein Konzept mehr für ein bestimmte Form von Leiden und die Leidensverdrängungsstrategien
wie Alkoholismus usw. sind dann am besten noch individuelle Probleme breiter Bevölkerungsschichten.
Ähnliche Konzepte sind vielleicht “strukturelle Gewalt” oder Angst in dem Bereich
(beides relativ schwammig). Mal abgesehen, dass beides nicht ganz dasselbe wie Entfremdung ist, sind die Begriffe auch relativ problematisch. “Strukturelle Gewalt” mag ich nicht, weil Gewalt bei mir immer was unmittelbares hat, da aber genau nicht. Und wenn man irgendwas mit Angst erklärt z.B. “Die flächendeckend zugedröhnte Jugend hat Angst vor der Zukunft und verdrängt das damit.” dann hat das auch sowas individuelles. Also ein u.U. strukturelles Problem wird zu einem individuellen Problem umgewandelt. Der Entfremdungsbegriff vermeidet das.
Die Welt an einem Ideal messen, finde ich auch eher normal bzw. eine Notwendigkeit. Muss man nicht unbedingt, man kann auch irgendwo Leiden diagnostiziert und dann halt das Leiden punktuell bekämpfen. Reformismus halt was jetzt nichts schlechtes ist.
Schwierig wird es schon, wenn man irgendeinen strukturellen Grundpfeiler unser heutigen Welt als Leidensursache diagnostiziert hat wie z.B. Geld oder Lohnarbeit, dagegen dann vorgehen will und dann kein Ideal hat wohin man will. “Lass uns erstmal Geld abschaffen, dann schau’n wir mal.” Bzw. wenn man revolutionär unterwegs ist, würde ich fast sagen, ist das eine Notwendigkeit.
Wobei natürlich intuitiv klar ist, dass im Namen von irgendwelchen Idealen wurden die grössten Verbrechen der Menschheit begangen. An der Stelle muss man tierisch aufpassen. (Ich lese gerade eine Harriet Tubman Biografie “Freiheit oder Tod” von Anna-Maria Benz, da wird der Erfahrungsbericht eines Sklaven wiedergegeben mit: Die schlimmsten Herren sind die frommen Herren. Das kennt man ja sonntags in die Kirche rennen und damit ist der Moral dann aber auch genüge getan.)
Ansonsten ist “Ideologische Entfremdung” aber ein super Begriff. “Entfremdung” ein herrlich schwammiges Konzept.
Da ist natürlich was dran, wenn man irgendwann mal zufällig die falsche Pille genommen hat und man im Dissenz zur heutigen Welt ist, dann verursacht das schon Leiden (siehe den Matrix-Film). Man hat sich von der Matrix entfremdet.
Also wie gesagt, für mich ist Entfremdung anders: Verhältnisse in denen man als Mensch nicht zählt sondern nur das eigene funktionieren und in denen man auch keinen grösseren politischen Einfluss hat.