Davos – Demokratie-Dialoge gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben

In meiner beruflichen, wissenschaftlichen und demokratischen Arbeit wird die Schweiz immer wichtiger. Wieder und wieder klärte ich gegen die bizarren und oft antisemitischen Verschwörungsmythen gegen das World Economic Forum (WEF) und dessen Leiter Klaus Schwab, Autor des Buches “The Great Reset” auf. (Ja, ich habe es gelesen. Nein, es enthält keine Weltverschwörung.)

Erst neulich besuchte ich mit dem badischen Landes- und Polizeirabbiner Moshe Flomenmann und dem Landtagsabgeordneten Jonas Hoffmann (SPD) von Lörrach aus die Schweizer Gedenkstätte in Riehen. Kurz darauf diskutierte ich mit Prof. Dr. Inan Ince in unserem Pod- und Videocast das den säkularen Westen bis heute prägende Werk des aus Genf stammenden Naturromantikers Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778). Schon 2021 hatte ich am KIT Karlsruhe die Gebirgsregionen-Medienthese am Beispiel des EUSALP-Alpenraumes veröffentlicht, in dem der föderale Gebirgsstaat eine Schlüsselrolle einnimmt. Im KIT-Alpenraum-Studienbrief dazu zitierte ich auf S. 30 eine bis heute den Tourismus prägende Aussage, die dem Begründer der Neo-Orthodoxie, Rabbi Samson Raphael Hirsch (1808 – 1888) zugeschrieben wird:

„Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ‚Hast Du meine Alpen gesehen?’“  

Sehr gerne nahm ich also Einladungen nach Davos zu Gesprächen und einem Vortragsabend zum Thema “Was heißt hier antisemitisch?” im Kulturplatz Davos an. Neben vielen nichtöffentlichen Gesprächen gab es auch einen Termin beim Davoser Landamann Philipp Wilhelm (SP), der bei der Wahl 2021 eine 100jährige FDP-Sukzession von Amtsvorgängern abgelöst hatte. Zumal Wilhelm u.a. einen kantonalen “Green Deal” hin zu Erneuerbaren Friedensenergien initiiert hatte, passte die Solarpunk-Chemie praktisch sofort! 🙂 

Der Davoser Landammann Philipp Wilhelm links und Dr. Michael Blume aus Baden-Württemberg rechts im Rathaus der Gemeinde Davos, Kanton Graubünden, Schweiz.

Nach einem intensiven Dialog zwischen dem Davoser Landammann Philipp Wilhelm (links) und dem Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben Dr. Michael Blume (rechts). Foto: Staatsministerium BW

Auch der Landammann und mehrere Mitglieder des Grossen Landrates kamen dann zum Vortragsabend, ebenso zahlreiche jüdische und nichtjüdische Interessierte aus Davos und dem Kanton Graubünden, Zeitungen, Fernsehen und Spitzen des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG): Vizepräsident Dr. Ralph Lewin mit Gattin und Generalsekretär Dr. Jonathan Kreutner.

Entsprechend verwarf ich auch mein Vortragsskript, sondern vereinbarte mit meiner Gesprächspartnerin, der evangelischen, seit Jahrzehnten christlich-jüdisch und europäisch-israelisch aktiven Pfarrerin Astrid Fiehland ein dialogisches Interview-Format. Wir entschieden, dabei auch früh Fragen aus dem Publikum einzubeziehen.

Bei der Begrüßung zu "Was heißt hier antisemitisch?" im Kulturplatz Davos spricht Geschäftsführerin Eike Riga (links), in der Mitte der Vortragsgast Dr. Michael Blume, rechts Pfarrerin Astrid Fiehland.

Begrüßung zum Gesprächsabend im Kulturplatz Davos durch die Geschäftsführerin Eike Riga. In der Mitte Dr. Michael Blume, rechts Pfarrerin Astrid Fiehland. Foto: Kulturplatz Davos

In Davos erlebte ich insgesamt ein großes Interesse an der wissenschaftlich soliden IHRA-Definition von Antisemitismus und dessen Entstehungsgeschichte. Viele Fragen bezogen sich auf meine Erfahrungen als Leiter eines humanitären Sonderkontingentes im Irak, auf den Israel-Hamas-Krieg und die Abgrenzung von Antisemitismus und Kritik an israelischer Regierungspolitik.

Vor allem aber interessierten sich die Schweizerinnen und Schweizer für die Beauftragung gegen Antisemitismus und für das jüdische Leben, da die digitale und teilweise auch akademische Radikalisierung auch die Eidgenossenschaft erfasst hat, gerade auch das WEF in Davos betrifft und die notwendige, wissenschaftliche wie praktische Expertise nicht neben- oder ehrenamtlich zu erbringen ist. So reisen jährlich Tausende modern-orthodoxer wie auch ultraorthodoxer (haredischer) Jüdinnen und Juden aufgrund der o.g. religiösen Würdigung der Alpen aus der Sommerhitze Israels in die Schweiz und besonders nach Davos, was auch zu vielerlei Kulturkonflikten führt und den Bedarf nach Expertise, Dialog und einem würdigen Ort der Begegnung anwachsen lässt. Während viele säkulare und religiös-liberale Jüdinnen und Juden den Schwarzwald bevorzugen, zieht es religiös Observante häufiger in die rabbinisch hervorgehobenen Alpen. Dazu gab es viele Fragen zur Mediennutzung und Demografie der verschiedenen, jüdischen Strömungen – und ich war glücklich nicht nur auf mein Buch “Die Haredim. Geschichte und Erfolg des ultraorthodoxen Judentums“, das inzwischen hier kostenfrei online steht. Vielen Anwesenden half auch der Religionsvergleich mit den ebenso kinderreichen Old Order Amish, die aus einer Schweizer Täuferbewegung hervorgegangen waren.

Das Cover des sciebook "Die Haredim. Geschichte und Erfolg des ultraorthodoxen Judentums" von Dr. Michael Blume, 2013, zeigt einen Vater mit Kindern auf dem Weg zu einem Purim-Fest.Cover: Michael Blume, “Die Haredim”, sciebooks 2013  

Wie schon die zahlreichen Gespräche davor war auch dieser Diskussionsabend außerordentlich intensiv und dauerte auch noch mit intensiven Fragen im interreligiösen Ausgang an.

Volle Sitzreihen im Kulturplatz Davos beim Interview von Dr. Michael Blume durch Pfarrerin Astrid Fiehland.

Volle Sitzreihen, Medien und viele intensive Fragen bei der Dialogveranstaltung in Davos. Foto: Kulturplatz Davos

Das große Interesse am Dialog, an Politik- aber vor allem auch Religionswissenschaft, die gemeinsame Ablehnung von feindseligem Dualismus, Antisemitismus und Trolling, die Leidenschaft für föderale Demokratie – die Tage in Davos werden mir unvergesslich bleiben. Und angesichts der bereits jetzt ausgesprochenen und vorliegenden Anfragen aus unserem europäischen Nachbar- und Freundesland Schweiz habe ich nun schon einmal eine eigene Blog-Kategorie erstellt. Denn dieses Miteinander wird nicht nur an mich herangetreten, es ist mir auch persönlich wichtig. Während ich mich als Deutscher niemals aufdrängen werde, werde ich wo immer möglich Einladungen zu Experten- und Publikumsgesprächen anzunehmen versuchen. Denn es gibt noch so viel voneinander und miteinander zu lernen und zu entdecken!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

31 Kommentare

  1. Guten Morgen,
    dieser Post ist eine wirkliche Herausforderung für mich, weil ich mich zunächst durch die vielen Links arbeiten werde.
    Vertieft habe ich mich in den Green Deal, der hier für Davos/Graubünden beschrieben wird. Ich finde es besonders wichtig, wie hervorgehoben, dass man Anreize schafft, die viel wichtiger sind als Verbote.
    Die Lösung eine Faltfotovoltaik-Anlage über einer Kläranlage anzubringen, ist besonders begeisterungswürdig.
    Die PDF-Dateien zu den beiden sci-e-books habe ich mir heruntergeladen und werde ich in Ruhe lesen. In diesem Post stecken sehr viele, sehr unterschiedliche Informationen.
    Ich bin auf die kommenden Kommentare gespannt.

    • Oh, vielen lieben Dank, @Elisabeth K.!

      Und, ja, genau das – die Vielfalt der Themen – war auch meine Herausforderung bei diesem Blogpost über die Dialoge in Davos! 🤓🇨🇭⛰️

      Sollte ich über die Gebirgstegionen-Medienthese bloggen, die die föderalen Traditionen im EUSALP-Alpenraum einschließlich der Schweiz, Bayern & Baden-Württemberg erschließt? Oder über die intensiven Debatten in Schweizer Gemeinden, Kantonen und Bund, ob und wie Beauftragungen gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben erfolgen sollten? Oder über die jüdisch-haredischen Touristinnen und Touristen, die auch in diesen Tagen das Stadtbild mitprägten und mit kinderreichen Familien den Davoser See umwanderten? Oder über Geschichte und Philosophie – fand doch wenige Hundert Meter vom Kulturplatz Davos die berühmte Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger statt? Die sog. Gutsloff-Affäre und der folgende „Einmarsch“ deutscher Nationalsozialisten in die Gemeinde, mit dem sich die heutige Schweiz und gerade auch der Landammann zunehmend befassen?

      https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/1945/davos-im-zweiten-weltkrieg-der-weltberuehmte-kurort-war-einst-ein-nazi-nest

      Es ging ja aber auch um Israel, den Terrorkrieg der Hamas, fossile Gewaltenergien und die also auch friedebspolitische Dividende des Graubündener „Green Deal“, um Kirchensteuern – die in Davos auch von Betrieben gezahlt werden! – und die Diskussion um einen würdigen, jüdischen Gebets- und Begegnungsort usw…

      Schließlich entschied ich schweren Herzens, das meiste aufzuschieben, einige Links zu setzen und auf den Dialog in den Kommentaren sowie künftige Blogposts zu setzen.

      Daher nochmal von Herzen: Danke! 🙏

      • Vielen Dank für den aufschlussreichen Link zur NS-Vergangenheit von Davos. Jetzt weiß ich auch, wie das versenkte Schiff “Wilhelm Gustloff” zu seinem Namen kam.

        Wieder was gelernt. 🙂

        • Ja, @Tilmann Schneider – von kleineren Städten und Orten, an denen sich die großen Geschichten der Menschheit überschneiden, geht für mich und ich meine für den dialogischen Monismus insgesamt eine besondere Faszination aus. Dazu zähle ich etwa Weimar, Jena und Lörrach in Deutschland 🇩🇪🇪🇺, Alpbach in Österreich 🇦🇹🇪🇺 und Davos in der Schweiz 🇨🇭. Wenn ich von Gemeinden für mehr als einen Vortragsabend eingeladen werde, bereite ich mich immer auch respektvoll auf die Ortsgeschichte vor. Und auch in der eBooklet-Reihe zur bundesdeutschen Buchstabiertafel versuche ich jede Stadt als Knotenpunkt von Geschichte(n) ernstzunehmen. Bedeutung ist immer auch geografisch verkörperlicht, meine ich.

          Danke für das Interesse an den tiefen, deutsch-schweizerischen Bezügen! 🙏📚⛰️

  2. “Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ‚Hast Du meine Alpen
    gesehen?”

    Aufgrund meiner AKE kann ich Dir sicher sagen: Da wird nichts und niemand Dir eine solch blöde Frage stellen.
    👋😇

    • Danke, dass Sie uns noch einmal an die Pathologien von Empörungssucht, feindseligem Dualismus und digitalem Trolling erinnern, @hto 🙏

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/empoerungssucht-nach-dem-x-odus-trolle-scheitern-an-den-mastodon-instanzen/

      Und, nein, die Rabbi Hirsch zugeschriebene Frage, die zu einer Alpenreise-Tradition im religiösen Judentum gerade auch in die Schweiz und nach Davos wurde, ist ganz und gar keine “blöde Frage”. Die Aussage ist von tiefer, also monistischer Religiosität und Spiritualität.

      „Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ‚Hast Du meine Alpen gesehen?’“

      Denn dahinter steht die biblische Schöpfungsgeschichte, nach der G’tt diese Welt “gut” geschaffen und den Menschen darein gesetzt und beauftragt habe. Hier geht es also nicht um eine bloße Ausbeutung oder gar Ablehnung der natürlichen Welt, wie sie dem feindseligen Dualismus und dem Umwelt-Begriff zu eigen sind. Und es geht auch gegen eine Naturromantik nach Rousseau, nach der die Zivilisation, Medizin, Technologie, Bildung zu verwerfen sei. Es geht bei diesem biblisch-monistischen Auslegungssatz vielmehr um das Recht und die Pflicht, auch die Schönheit der Natur als Mitwelt wahrzunehmen, sie zu genießen und zu schützen. Ich sprach u.a. bei einem Eden-Festival genau auch dazu:

      https://youtu.be/WVDBk45CSu0?si=22qXBL0MaepMx77C

      Auch in Ihrem letzten Druko beriefen Sie sich wieder auf eine AKE, eine Außerkörperliche Erfahrung. Doch in der Bibel und also auch im gelehrten Judentum finden Sie die Würdigung der Körperlichkeit von Mensch und Mitwelt. Aus dem Geist wird Welt geschaffen. Und es war – gerade auch in den Alpen – sehr gut.

      Biblisch informierter Dialog, Mitweltschutz und erneuerbare Friedensenergien bilden eine Solarpunk-Verbindung, die bisher nur von wenigen verstanden wird. Doch auch dank Ihrem Troll-Post sind es nun sicher einige mehr. Danke dafür! 🙂

  3. Der ganze Blogpost ist voller Optimismus. Danke, dass Sie Ihre Erfahrungen, Gesprächspartner etc – soweit möglich – mit uns teilen.

    Die Art von Herrn Wilhelm an die Veränderungen heranzugehen, finde ich großartig! Dass er den Mut hat, seinen Weg konsequent und bestimmt auch gegen Widerstände zu gehen, ist ein Zeichen der Hoffnung.

    Ideen, wie man eine positive Gestaltung der Herausforderungen ua durch die Klimakrise hinbekommen kann, hatten 2019 auch die Autorinnen und Autoren von “Neustaat”. Da wird nicht gejammert, worauf man verzichten müsse oder dass einem etwas weggenommen würde. Sondern die klare Botschaft, was die Gesellschaft für die nötigen Änderungen tun kann, vor allem aber welche Möglichkeiten es gibt. Anpacken statt lamentieren! Über die in “Neustaat” enthaltenen Ideen kann man trefflich streiten, um zu guten Lösungen zu kommen. So viel, was an Panikmache, Hetze und Falschinformationen täglich in den Medien verbreitet wird, ist überflüssig. Wir brauchen die Energie, die in die mediale Polarisierung gesteckt wird viel nötiger an anderer Stelle!

    Auch ein anderes Buch, das mir sehr ans Herz gewachsen ist, möchte ich noch erwähnen. “Jüdisches Leben im Nordschwarzwald “, herausgegeben von Thorsten Trautwein. Es hat mich durch die Anfänge der Corona Pandemie begleitet. Den Schluss des Buches bilden zwei Kapitel, in denen es um die Ferienaufenthalte jüdischer Gäste aus Israel ua in Freudenstadt geht. Ab 1952!
    Dort, wo die heutigen Landkreise Calw, Freudenstadt und Tübingen sich am nächsten sind, liegen die Dörfer, in denen es früher jüdisches Leben gab.
    Baisingen, Rexingen, Unterschwandorf, Nordstetten, Mühringen… Für die Arbeit an dem Buch werde ich Herrn Trautwein immer dankbar sein.

    “…die Leidenschaft für föderale Demokratie…” Leider werden es bei uns nicht mehr Menschen, die in der Demokratie die Zukunft sehen, sondern eher weniger. Mitmenschen, die starke Führungspersönlichkeiten vorziehen. Auf meiner Leseliste steht ab kommender Woche “Freiheitsschock” von Ilko-Sascha Kowalczuk. Ich bin schon sehr gespannt.

    Vieles ist aus den Fugen geraten. Um so wichtiger sind Bündnisse mit Gleichgesinnten, gerade auch im gesamten EUSALP Raum.

    Ich freue mich auf Ihre künftigen Berichte, hoffentlich mit positiven Vibes!

    • Ganz herzlichen Dank, @Marie H.! Ich war mir fast sicher, Sie würden mich auf den “Zauberberg” von Thomas Mann (1875 – 1922) ansprechen, den dieser 1912 nach einem Besuch seiner Frau Katja im Waldsanatorium Davos schrieb. In einer Festivalzeitschrift der Gemeinde las ich verzückt, wie die Medialität des Romans diskutiert wird – bis hin zur These, es sei eigentlich ein Musikroman! Und ich wurde nach dem erfolgreichen Dialogabend darauf angesprochen, dass einst Erich Kästner (1899 – 1974) eingeladen worden sei, etwas über den Zauberberg hinaus zu schreiben. Doch Kästners “Zauberlehrling” sei leider nur Fragment geblieben. Ich hätte doch schon mehrere Bücher geschrieben?

      Ich nahm es als freundliche Anerkennung und erwiderte, dass wohl niemand Thomas Mann jemals übertreffen könne und dass jeder Davos-Text über ihn hinaus bestenfalls den Dialog anstreben müsse. Jene prüfende Davoserin lächelte und knuffte mich ihm Gehen.

      Es freut mich, dass Ihnen der Blogpost so zugesagt hat, doch fühle ich mich an einem wesentlichen Punkt missverstanden – ich sei “voller Optimismus”. Das bin ich nicht und war ich auch in Davos nicht. Vielmehr erlebte ich intensive, demokratische Hoffnung, wie in meinem Gedicht gegen die fossilen “Feuer des Hasses” formuliert:

      “Bin kein Optimist mehr, ich hab nur noch Hoffnung,

      ein Solarpunk zwischen den Stühlen und mit lahmer Frisur

      erneuerbar träumend, von Sonne, Wind, Wasser, von friedvoller Ordnung,

      von post-fossiler Wirtschaft, Bildung, Dialog und Kultur.”

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/gedicht-die-feuer-des-hasses-als-video-text/

      So reihte sich für mich der “Green Deal” des Kantons Graubünden um den jungen Landamann Wilhelm in den “Mitte”-Grün-Erfolg eines strengen, kantonalen Energiegesetzes im benachbarten, konservativen Kanton Glarus um 2021 ein. Damals hatte der damals 19jährige Zivildienstleistende Kaj Weibel vor die Vollversammlung der Landsgemeinde und überzeugte eine große Mehrheit der teilnehmenden Glarnerinnen und Glarner von einem Stopp des Einbaus von Öl- und Gasheizungen. Weil es nicht “von oben” kam, nicht aus Bern, auch nicht aus Berlin und schon gar nicht aus Brüssel, überwanden die Menschen ihre fossile Reaktanz und bescherten den erneuerbaren Friedensenergien einen Schub.

      Jörg-Uwe Albig hat das traditionsreiche Demokratie- und Volksfest der stimmberechtigten Glarner Landsgemeinde mit eindrücklichen Fotos von Christian Bobst im GEO-Magazin 09/2024, S. 78 – 96 als “Das größte Parlament der Welt” beschrieben. Gerne möchte ich auch diesen Artikel allen Demokratinnen und Demokraten von Herzen empfehlen. Die Zivilreligion der Zukunft ist nicht mehr national, sondern regional.

      Mir ging der Optimismus schmerzhaft verloren, dass wir die Welt nationalstaatlicher Zentral- und Flächenstaaten noch erhalten können. Ich erlebe, das große Teile der Welt zunehmend unbewohnbar werden und dass sich nur wenige demokratische Arche-Regionen durch den Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger zum post-fossilen Solarpunk entwickeln. Entsprechend hoffe ich für Davos und Graubünden, für Glarus, für meine Heimatstadt Filderstadt und viele mehr das Beste, ohne noch ein Optimist im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) sein zu können. Jesuiten hatten den Begriff “Optimismus” geprägt, um seine Annahme von der existierenden als “die beste aller möglichen Welten” zu hinterfragen. Und ich fürchte sehr, sie hatten damit Recht. Wie sollte eine Welt die Bestmögliche sein und werden, wenn wir selbst nicht einmal bestmöglich sein und werden wollen?

      Die Alpenraum-föderale Schweizer Demokratie gibt mir Hoffnung, dass wir gar nicht Übermenschen zu sein brauchen, sondern auch schon in ausreichender Zahl als dialogische Monistinnen und Monisten bestehen und miteinander gut leben können. Denn auch die Zerstörungen unserer Mitwelt und unserer Mitmenschen durch die fossilen Gewaltenergien werden zu einem Ende kommen. Spät, aber vielleicht nicht völlig zu spät. Diese Hoffnungen habe ich als Gast in Davos mitleben dürfen. Und wenn ein wenig davon über diesen Blogpost ausstrahlen konnte, dann bin ich schon mehr als glücklich – Danke! 😊📚🙌

      • Danke für die ausführliche Antwort. Ich tausche Optimismus in Hoffnung.

        An den Zauberberg habe ich wirklich nicht gedacht. Das Buch habe ich vor vielen Jahren gelesen und hatte damals mit den versteckten Botschaften zu kämpfen.

        Ihr Bericht ist sehr sachlich, da passte der mythische Zauberberg nicht ganz dazu. Andererseits war das Thema der Abendveranstaltung Antisemitismus. Da gibt es dann schon eine Verbindung, aufgrund von Richard Wagners Tannhäuser (Zauberberg/Venusberg).

        Da fällt mir ein interessantes Detail ein, was die Bayreuther Festspiele betrifft. Die Opernsängerin Grace Bumbry (PoC) war 1961 von Wieland Wagner für die Partie der Venus engagiert worden. Dies sahen manche als Skandal! Aber es war ein großer Erfolg. 👏

        Ich glaube, ich muss den Zauberberg unbedingt noch einmal lesen. 📖

        Was Sie über die Energiewende auf lokaler Ebene in der Schweiz schreiben, freut mich sehr. Ich kenne mich mit der Schweizer Medienlandschaft nicht aus und weiß nicht, wieviel Desinformation dort verteilt wird. Bei uns, auch hier im Südwesten, ist die Veränderung im Energiebereich hin zu Erneuerbaren auch auf lokaler Ebene immer häufiger sehr schwierig.

        Ich stimme Ihnen zu, dass es Gemeinden gibt, wo die Energiewende zu schaffen ist. Hoffentlich bekommen viele rechtzeitig die Kurve.

        • Oh ja, @Marie H. – sowohl Thomas Mann wie auch Richard Wagner und generell die Geschichte des Antisemitismus und deutschen Nationalsozialismus sind in Davos präsent.

          An mehreren Orten in der Schweiz wird inzwischen über die Geschichte des Antisemitismus, des Antiziganismus und Rassismus sowie über die regionale und globale Zukunft der Demokratie debattiert. Ich erwähnte beispielsweise die private Gedenkstätte in Riehen im Kanton Basel-Stadt – bisher die einzige Gedenkstätte zur komplexen Geschichte der Rettung wie auch Abweisung NS-Verfolgter durch die Schweiz. An vielen Stellen wird auch über Beauftragungen gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben diskutiert, da diese Themen zu komplex für nebenher sind.

          Auch meine Einladung wurde im Kontext einer wachsenden Bereitschaft gesehen, sich mit der auch in der Schweiz verbreiteten Judenfeindlichkeit wie auch mit der Geschichte der Gemeinde zu befassen. Das wurde sicher auch in Davos nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern goutiert, aber unter den Anwesenden war die Geschichte Thema!

          Perplexity.ai fasst es so zusammen:

          Davos, ein weltberühmter Kurort in der Schweiz, spielte während des Nationalsozialismus eine bemerkenswerte Rolle. Ab 1933 entwickelte sich Davos zu einer Hochburg der Nationalsozialisten in der Schweiz. Diese Entwicklung war teilweise auf das Höhenklima zurückzuführen, das zahlreiche Deutsche mit Lungentuberkulose anzog. Viele dieser Deutschen blieben in Davos und wurden nach 1933 Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP)[2][3].

          ****Einfluss der NSDAP in Davos****

          Davos war bekannt dafür, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung mehr NSDAP-Mitglieder als anderswo in der Schweiz gab. Die Nationalsozialisten versuchten, von Davos aus die deutsche Bevölkerung in der Schweiz auf die Linie des Regimes zu bringen. Dies führte zu Spannungen und Misstrauen in der Gemeinde[3][5]. In Davos wurden NS-Symbole wie die Hakenkreuzfahne an prominenten Orten gezeigt, und es gab eine starke Präsenz von Hitlerjugend und NSDAP-Mitgliedern[5].

          ****Widerstand und Aufarbeitung****

          Trotz der starken Präsenz der Nationalsozialisten gab es in Davos auch Widerstand. Einige Einheimische organisierten sich, um der deutschen Kolonie im Ernstfall entgegenzutreten, und es gab Bestrebungen, die nationalsozialistischen Umtriebe zu bekämpfen[5]. In den letzten Jahren hat Davos begonnen, seine braune Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine Studie, die von der Davoser Dokumentationsbibliothek in Auftrag gegeben wurde, untersucht die Geschichte dieser Zeit und die Verfehlungen der Vergangenheit[3].

          ****Der Fall Wilhelm Gustloff****

          Ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte von Davos während des Nationalsozialismus war das Attentat auf Wilhelm Gustloff, den Leiter der NSDAP-Landesgruppe Schweiz, durch den jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter im Jahr 1936. Dieses Attentat sorgte für große Aufregung in Europa und lenkte die Aufmerksamkeit auf die antisemitischen Vergehen des NS-Regimes[6].

          Insgesamt zeigt die Geschichte von Davos während des Nationalsozialismus, wie tief die nationalsozialistische Ideologie in einigen Teilen der Schweiz verwurzelt war und wie komplex die gesellschaftlichen Reaktionen darauf waren. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist ein wichtiger Schritt, um die Erinnerung an diese Zeit zu bewahren und Lehren für die Zukunft zu ziehen.

          Citations:
          [1] https://www.gemeindedavos.ch/_docn/5045575/Forschungsstand_StefanKeller.pdf
          [2] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/1945/davos-im-zweiten-weltkrieg-der-weltberuehmte-kurort-war-einst-ein-nazi-nest
          [3] https://www.nzz.ch/schweiz/naziverseucht-wie-keine-andere-ortschaft-davos-arbeitet-seine-braune-vergangenheit-auf-ld.1824055
          [4] https://www.srf.ch/sendungen/school/geschichte-geografie/davos-die-deutsche-zitadelle
          [5] https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/davos-und-die-nazis-689814
          [6] https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article225645035/Nationalsozialismus-Statt-Hitler-erschoss-er-den-Schweizer-NSDAP-Chef.html

          • Beeindruckend! 🤖 Die KI-Antwortmaschine Perplexity.ai hat mit einem selbst vorgeschlagenen Prompt auch die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Davos im Blick:

            Nach dem Kriegsende 1945 stand Davos vor der Herausforderung, sich von seiner Vergangenheit als Nazi-Hochburg zu distanzieren und einen Neuanfang zu wagen. Die Erholung und Aufarbeitung dieser Zeit gestaltete sich als komplexer und langwieriger Prozess:

            ## Unmittelbare Reaktionen

            Am 8. Mai 1945, dem Tag des Kriegsendes in Europa, zogen in Davos mehrere hundert Menschen vor das deutsche Konsulat und forderten die Entfernung des Hakenkreuz-Schildes[5]. Dies symbolisierte den Wunsch vieler Davoser, sich von den nationalsozialistischen Symbolen und Einflüssen zu befreien.

            ## “Säuberung” und Verdrängung

            Es gab Forderungen, Davos von Nationalsozialisten zu “säubern”[5]. Viele Deutsche, die der NSDAP angehört hatten, verließen den Ort oder wurden ausgewiesen. Gleichzeitig setzte bei einem Teil der Bevölkerung ein Prozess der Verdrängung ein. Man wollte die Verbrechen vergessen und sich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrieren[3].

            ## Wirtschaftliche Neuorientierung

            Davos musste sich als Tourismusdestination neu positionieren. Einige Einheimische lehnten zunächst die Aufnahme von KZ-Überlebenden ab, da sie befürchteten, dies könnte dem Image des aufstrebenden Ferienorts schaden[3]. Diese Haltung zeigt die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit.

            ## Langsame Aufarbeitung

            Die vertiefte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Davos blieb lange Zeit aus[3]. Erst in den letzten Jahrzehnten gab es verstärkte wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Bemühungen, die Geschichte aufzuarbeiten.

            ## Aktuelle Initiativen

            In jüngster Zeit hat Davos begonnen, sich intensiver mit seiner NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen:

            – Eine Studie des Historikers Stefan Keller wurde in Auftrag gegeben, um Forschungslücken zu schließen[3].
            – Der aktuelle Landammann Philipp Wilhelm unterstützt Projekte zur Aufarbeitung, wie ein Filmprojekt über die NS-Vergangenheit des Ortes[3].
            – Es gibt Bestrebungen, bisher vernachlässigte Aspekte wie lokale Widerstandsfiguren stärker zu erforschen[3].

            Die Erholung von der Nazi-Zeit war für Davos ein langwieriger Prozess, der bis heute andauert. Die aktuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeigt, dass die Gemeinde bemüht ist, einen würdigen und reflektierten Umgang mit ihrer Geschichte zu finden.

            Citations:
            [1] https://www.gemeindedavos.ch/_docn/5045575/Forschungsstand_StefanKeller.pdf
            [2] https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/davos-und-die-nazis-689814
            [3] https://www.nzz.ch/schweiz/naziverseucht-wie-keine-andere-ortschaft-davos-arbeitet-seine-braune-vergangenheit-auf-ld.1824055
            [4] https://www.srf.ch/sendungen/school/geschichte-geografie/davos-die-deutsche-zitadelle
            [5] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/1945/davos-im-zweiten-weltkrieg-der-weltberuehmte-kurort-war-einst-ein-nazi-nest
            [6] https://de.wikipedia.org/wiki/Schweiz_im_Zweiten_Weltkrieg
            [7] https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article225645035/Nationalsozialismus-Statt-Hitler-erschoss-er-den-Schweizer-NSDAP-Chef.html
            [8] https://libreo.ch/livres/hcd-1921-2021/4-der-hcd-als-serienmeister-und-der-nationalsozialismus-in-davos/4.5-nationalsozialistische-umtriebe-in-davos

          • Diese Dinge wusste ich nicht.

            Dass Flüchtlinge aus Deutschland abgewiesen wurden bzw interniert wurden, war mir bekannt. Der Tenor Joseph Schmidt ist einer davon.

            Die Opernsängerin Sigrid Onégin zog schon Anfang der 30er Jahre in die Schweiz. Von 1931-35 hatte sie ein Engagement an der Oper in Zürich. 1943
            starb sie in Magliaso im Tessin. Sie hatte ihre Karriere als Opernsängerin 1912 in Stuttgart begonnen. Auf dem Stuttgarter Waldfriedhof liegt sie begraben.

            In der Biographie über Karl Vollmoeller habe ich gelesen, dass auch er nach 1933 zeitweise sich in Basel aufgehalten hat.

            Danke für die weiterführenden Links.

          • Sehr gerne, @Marie H.

            Die Schweiz 🇨🇭 hat Hunderttausende gerettet – und aber auch 1942 Grenzen explizit für „rassisch Verfolgte“ – vor allem Juden – geschlossen. Das NS-Regime wurde aufgefordert, Pässe mit dem J zu markieren. Helden wie der Polizeibeamte Paul Ernst Grüninger (1891 – 1972) wurden bestraft und entlassen, über das Schicksal NS-verfolgter Sinti & Roma wissen auch historisch Spezialisierte noch immer fast gar nichts.

            https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-schweiz-schliesst-grenzen-fuer-verfolgte-des-100.html

            Und dennoch sehe ich keinen Anlass für Deutsche, da zu moralisieren. Die NS-Mörder und -Vertreiber waren aus Deutschland und Österreich. Und unser deutscher Bundestag hat gerade erst wortmächtig und überparteilich den IS-Genozid am Ezidentum anerkannt – und bis heute darin versagt, Anschiebungen rechtstreuer Ezidinnen und Eziden in den Irak zu stoppen. Wie also werden Spätere auf unseren Nationalpolitik schauen?

            Danke für Ihr Interesse! 🙏🇨🇭🇩🇪🇪🇺🇦🇹🙌

  4. @Michael 17.08. 12:13

    „Es geht bei diesem biblisch-monistischen Auslegungssatz vielmehr um das Recht und die Pflicht, auch die Schönheit der Natur als Mitwelt wahrzunehmen, sie zu genießen und zu schützen.“

    Genau, und hierzu passt weniger Konsum und Wirtschaftstätigkeit. Man braucht auch Zeit, die Schönheit zu genießen, und man braucht Geld, Arbeitskraft und Rohstoffe, um auf regeneratives Wirtschaften umzusteigen.

    Das klappt besser mit weniger von Vielem. Auch den weiteren Zuzug von noch mehr Einwanderern könnte man gerne reduzieren. Die brauchen auch Wohnraum, wenn hier weniger Neubaubedarf ist, dann hilft uns das. Dann lieber die 2. Generation besser integrieren, dass die bessere Schulabschlüsse hinbekommen. Das hilft mehr gegen Fachkräftemangel, als wieder noch mehr neue Leute aufzunehmen, die dann u.a. wegen mangelnden Deutschkenntnissen doch nur im Niedriglohnsektor arbeiten können.

    Gerade im Niedriglohnsektor brauchen wir keine neuen Zuwanderer, wir haben noch selber 2 Millionen eigene Arbeitslose, die das teilweise auch können.

    Es mag ja für die Wirtschaftszahlen gut aussehen, wenn hier soviel produziert und auch exportiert wird. Aber das hilft uns so viel gar nicht weiter. Wir brauchen weniger Konsum, mehr Investitionen in die Energiewende und vermutlich mittelfristig auch eine deutliche Aufrüstung.

    Eine Verlagerung von Wirtschaftstätigkeit z.B von der Autoindustrie in Technik für die Energiewende und auch Anschaffungen für die Bundeswehr wäre ziemlich hilfreich.

    Wollen wir mehr Natur genießen, so braucht das wiederum selbst eher wenig Geld. Campingurlaub im eigenen Land, am besten noch per Fahrrad, ist deutlich kostengünstiger als Flugreise plus Hotel. Man könnte das gesparte Geld einsetzen, um weniger zu arbeiten und dafür länger Urlaub zu machen.

    Ein Umzug in eine kleinere Wohnung spart auch gleich mehrfach. Die Energiekosten gehen direkt zurück, und indirekt muss weniger oder sogar kaum noch neu gebaut werden, und es werden Mittel frei, Altbauten energetisch zu sanieren.

    Es wäre eventuell sogar Platz frei für doch wieder mehr Einwanderer. Aber nur, wenn die Leute wirklich gucken, ob sie sich wohnungsmäßig verkleinern können. Einwanderung, die letztlich den Neubau von Wohnraum verursacht, sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Das hilft uns jetzt in dieser Situation wirklich nicht weiter.

    • Kurze Nachfrage: Von welchen Einwanderern ist hier die Rede?
      Einwanderer aus EU-Staaten? Falls Flüchtlinge damit gemeint sind, dann stimmt der Begriff Einwanderer m.E. nicht.

      Bei gesteuerter Zuwanderung geht es m.W. um Einwanderer, die nicht im Niedriglohnsektor arbeiten. Was, Herr Jeckenburger, sind Arbeiten im Niedriglohnsektor?

      Leute sollen sich Wohnraum-mäßig verkleinern. Verstehe ich das richtig, dass Einwanderer und Einheimische gegeneinander ausgespielt werden?

    • Lieben Dank für die Gedanken, @Tobias Jeckenburger

      Du schriebst: “Gerade im Niedriglohnsektor brauchen wir keine neuen Zuwanderer, wir haben noch selber 2 Millionen eigene Arbeitslose, die das teilweise auch können.”

      Und genau hier möchte ich mit dem Alpenraum-Föderalismus nachfragen: Wer ist “wir”?

      Es mag Regionen und Bereiche in Deutschland geben, in denen es noch immer keinen Bedarf an Kita-Erziehenden, Pflegekräften, Busfahrenden, Mitarbeitenden in der Gastronomie usw. gibt. Und wir dürfen auch begrüßen, dass dann die Löhne durchaus steigen und Menschen erkennen, dass es meist nicht an Investmentbankern mangelt, sondern öfters an der Bereitschaft zu Tätigkeiten im sogenannten “Niedriglohnsektor”.

      Doch mir scheint es zutiefst unklug, dass bei uns immer noch der Nationalstaat entscheidet, wer sich wo niederlassen darf. Lasst die Regionen und Gemeinden stärker mitentscheiden! So gibt es hier in Süddeutschland gerade viel Unverständnis, ja Wut über die Abschiebungen rechtstreuer und fleißiger Jesidinnen und Jesiden. Wir verstehen nicht, dass der deutsche Bundestag zwar den IS-Genozid am Ezidentum anerkennen konnte, dann aber zu feige ist, daraus Konsequenzen für den Schutz der verfolgten Minderheit zu ziehen!

      Umgekehrt freue ich mich, dass unsere tapferen Gemeinden Neulingen und Passau dem Austrofaschisten Martin Sellner die Tür gewiesen haben, obwohl wieder mal ein Gericht zu Potsdam seine Rechtsoffenheit gezeigt und ein Bundes-Einreiseverbot aufgehoben hatte! Ich habe es längst satt, dass eine bürgerferne und oft wenig kompetent wirkende Blase um die Berliner Flussebene darüber entscheidet, wen “wir” aufzunehmen oder abzuschieben haben.

      Sind Entscheidungen Schweizer Gemeinden immer gerecht? Ganz sicher nicht, das würde auch keine Schweizerin, kein Schweizer behaupten. Doch es sind eben Entscheidungen vor Ort, durch die Menschen, die es betrifft. Und das ist eine Schutzwehr gegen den Faschismus, der großen Nationalstaaten wie den USA, Frankreich oder auch der Bundesrepublik Deutschland leider noch immer fehlt…

      • Ich habe noch eine Frage. Wenn vom Niedriglohnsektor die Rede ist, verstehen wir darunter die Kitas, Pflege, Gastronomie etc?
        @Tobias Jeckenburger @Michael Blume
        Wenn ja, dann sehe ich Schwierigkeiten beim Einsatz der Langzeitarbeitslosen. Vor allem die Betreuung von Kindern im Kita Alter oder von älteren Pflegebedürftigen ist eine hohe psychische und teilweise physische Belastung. Da ich beides gemacht habe, hatte ich Einblick.

        • @Marie H.

          Aus meiner Sicht sollten menschennahe Tätigkeiten auch entsprechend vergütet werden – und bei Erziehung und Pflege ist das auch bereits teilweise gelungen. Dennoch finden sich insbesondere aufgrund der Demografie in bereits wohlhabenden Regionen Europas für diese so wichtigen Berufe nicht genug Arbeitskräfte – darauf hinzuweisen war mir wichtig.

  5. @Marie H. 17.08. 15:07

    „Leute sollen sich Wohnraum-mäßig verkleinern. Verstehe ich das richtig, dass Einwanderer und Einheimische gegeneinander ausgespielt werden?“

    Das ist nicht meine Absicht. Mir geht es darum, dass es sehr viel günstiger wäre, wenn wir keine Wohnungsnot und auch keinen Bauboom hätten. Ob jetzt Einheimische aus freien Stücken mit kleineren Wohnungen auskommen oder der Zuzug insgesamt nachlassen würde, beides würde die Situation auf dem Wohnungsmarkt verbessern.

    Wenn wir mittelfristig weniger Neubauten bräuchten, könnte die Energiewende deutlich schneller gehen, und Aufrüstung könnte auch einfacher werden.

    Wir haben wohl in manchen Bereichen Fachkräftemangel, aber nicht in Bereichen, die wenig Ausbildung und wenig Deutschkenntnisse brauchen.

  6. Was für eine tiefe und inhaltsreiche Diskussion hier, der ich, gerade auf Reise, nur in Eile und mit halbem Blick folgen kann! Ich brauche Zeit, das alles zu verarbeiten, habe aber schon wieder viel gelernt.

    Ich habe Thomas Manns “Zauberberg” vor langer Zeit gelesen, und es gehört zu den Werken, die mir mit am wichtigsten sind. Das hat beim Namen Davos bei mir gleich angeklungen.

    Und wenn man spürt, wie derzeit vieles aus den Fugen zu geraten scheint und, ja, Faschismus und die dunkelsten Episoden der Vergangenheit wieder Möglichkeit werden können, dann passt ganz gut, finde ich, sich den Grundkonflikt in Erinnerung zu rufen, der im “Zauberberg” inszeniert wird. So verkörpern die Protagonisten Settembrini und Naphta den Konflikt zwischen “Rationalität”, Humanismus und Fortschritt einerseits und “Irrationalität” und den “dunkleren”, mystischen Dingen.
    Das Ganze in Davos in Szene gesetzt. (Stark vereinfacht von mir wiedervgegeben.)

    Ich würde zu gerne wissen, welchen Roman Thomas Mann, würde er in unserer Zeit leben, heute schreiben würde. Wer würde an Settembrinis und Naphtas Stelle dort auftreten?

    • Vielen Dank, @Peter Gutsche – ich war tatsächlich bewegt zu erleben, wie intensiv Thomas Mann im heutigen Davos immer wieder präsent ist! Mein Lieblingswerk von ihm ist ja “Joseph und seine Brüder”, doch nun ruft auch der “Zauberberg” wieder! 🙂

      “Ich würde zu gerne wissen, welchen Roman Thomas Mann, würde er in unserer Zeit leben, heute schreiben würde. Wer würde an Settembrinis und Naphtas Stelle dort auftreten?”

      Das ist selbstverständlich Spekulation, aber was m.E. dringend notwendig wäre, wäre eine vertiefte Recherche zu den jüdisch-haredischen Gästen in Davos, die auch mir auf den Straßen begegneten. Welchen Strömungen gehören sie an, auf welche Vorbilder nach Rabbi Hirsch berufen sie sich? Wie erleben sie Davos, die Natur, aber auch die Menschen? Woher informieren sie sich vor, während und nach der Reise? Wie ließe sich ein Dialog etablieren, welche Chancen hätte ein Podcast auf Jiddisch / Judendeutsch?

      Aus meiner Sicht verdichtet sich in Davos eine Wiederannäherung des demografisch wachsenden, religiösen Judentums an einen besonders gewürdigten Natur- und Kulturraum von Aschkenas. Das ist eine historische Chance, aber auch eine komplexe Aufgabe, in der die Gemeinde Davos und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) Unterstützung durch den Kanton und die EUSALP-Makroregion erhalten sollte. Meine ich.

      • Laut Süddeutscher Zeitung vom 12.9.2023 ist das Verhältnis zwischen den jüdischen Touristen und der Bevölkerung in Davos nicht ganz einfach. Ich kann den Artikel nicht bewerten oder beurteilen. Ich hatte den Eindruck, dass hier den jüdischen Touristen durchaus etwas angelastet wird, was man auch nichtjüdischen Touristen anlasten könnte.
        Wie würdest Du @Michael Blume die Situation einschätzen?

        https://www.sueddeutsche.de/panorama/schwiez-tourismus-davos-juden-1.6219547

        • Ja, @Elisabeth K. – der SZ-Artikel beschreibt die Spannungen in Davos über die steigende Zahl jüdisch-“strenggläubiger” Gäste durchaus zutreffend. Auch im Schwarzwald suchen mehr und mehr Gäste etwa aus Israel klimatische Abwechslung, diese sind jedoch häufiger liberal-religiös, konservativ oder auch säkular und werden entsprechend weniger als Kollektiv wahrgenommen. Die betonten Kleidungsstile jüdisch-orthodoxer und insbesondere haredischer Gäste in Davos fallen auch stärker auf – das habe ich auch selbst in der Gemeinde und rund um den Davoser See wahrnehmen können.

          Allerdings sind die Gemeinde und die SIG längst gemeinsam am Thema dran. Es gab u.a. eine Task-Force, die sich mit der Thematik befasst hat:

          “Geleitet und beraten wurde sie Michael Ambühl und Nora Meier. Mitglieder waren von Beginn an Philipp Wilhelm, Landammann der Gemeinde Davos, und Reto Branschi, Direktor der DDO. Ab Februar 2024 waren auch der SIG beziehungsweise die jüdische Gemeinschaft mit dem damaligen SIG-Präsidenten Ralph Lewin, SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner und Jehuda Spielman, Gemeinderat Stadt Zürich und Mitglied der Israelitischen Religionsgesellschaft und Agudas Achim in Zürich, beteiligt.”

          https://swissjews.ch/de/news/massnahmeplan-taskforce

          Unter anderem wurde auch die Zusammenarbeit mit Likrat wieder aufgenommen – ich sprach mit Reto Branschi kurz vor seinem nächsten Gespräch mit schweizer-jüdischen Likratinos. Auch meine Einladung nach Davos samt intensiver Gespräche stand in diesem Kontext. So war den meisten noch kaum bekannt, “warum” sich die Gästegruppen zwischen dem Schwarzwald und der Schweiz so stark unterschieden. Mir war es als Religions- und Politikwissenschaftler wichtig, neben den säkularen Prozessen auch auf die religiöse Dynamik des Geschehens hinzuweisen und auch Chancen und Einflussmöglichkeiten zu thematisieren. Allerdings habe ich das wie geschrieben schweizerisch-dialogisch getan – also auf Fragen geantwortet statt frontal vorzutragen. Es war mir eine Ehre, hier als Beauftragter und Wissenschaftler aus Deutschland eingeladen zu sein und ich wollte jeden Anschein von Besserwisserei vermeiden. Der alpine und Davoser Tourismus kann sich hier m.E. sehr interkulturell und interreligiös weiterentwickeln, wenn es weiterhin gemeinsame Anstrengungen von Gemeinde und SIG sowie eine ernsthafte Unterstützung durch Kirchen und den Kanton Graubünden, den Schweizer Bund sowie die EUSALP-Makroregion dafür gibt. Davos ist hier zum Schnittpunkt einer großen, aschkenasischen Geschichte geworden, deren Ausgang von europäischer, religionsgeschichtlicher und insbesondere jüdisch-christlicher Bedeutung ist.

          • Vielen Dank für die ausführliche Einschätzung, @Michael Blume.

            Ich wüsste nicht, wann ich in meinem Leben wirklich Kontakt zu Menschen jüdischen Glaubens bewusst gehabt habe. Daran sieht man, wie unterschiedlich die einzelnen Regionen in Deutschland doch sind. Ich lese die Informationen über den alpinen Gebirgsraum mit großem Interesse, aber er ist eben auch völlig anders als die norddeutsche Tiefebene.
            Ich habe Perplexity kreuz und quer befragt, in meiner Umgebung, weder in Lüneburg noch in Stade gibt es jüdische Gemeinden. Nur Hamburg (1,9 Mio Einw. ) hat mehrere Synagogen und eine große jüdische Gemeinde mit etwa 2500-3000 Mitgliedern.

          • Vielen Dank, @Elisabeth K.!

            Ja, auch ich hätte es sehr lange nicht für möglich gehalten, wie stark die Geografie doch politische und damit auch zivilreligiöse und religiöse Kulturen prägt. Stolze Gebirgsföderationen und legendäre Flussreiche bildeten sich auch bereits früh in Afrika, vgl.

            https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/files/AewieAepfelbachBlumeeBooklet0224.pdf

            Mit Dank für das interreligiöse wie auch wissenschaftliche Interesse – herzliche Grüße!

  7. @Michael 17.08. 17:11

    „Und genau hier möchte ich mit dem Alpenraum-Föderalismus nachfragen: Wer ist “wir”?“

    Freilich meinte ich hier Deutschland. Weil der Bund das regelt. In der Tat, besser die Regionen und Kommunen dürfen mehr selber entscheiden.

    „Und wir dürfen auch begrüßen, dass dann die Löhne durchaus steigen“

    So löst sich ein Problem mit mangelnden Arbeitskräften auch von selber. Viele Firmen müssen aufgeben, die Preise steigen, und die Löhne dann auch. Die Leistung ist dann teurer, wird weniger nachgefragt, und am Ende passt es öfter wieder. Und die Arbeitskräfte verdienen sogar noch mehr.

    „Doch mir scheint es zutiefst unklug, dass bei uns immer noch der Nationalstaat entscheidet, wer sich wo niederlassen darf.“

    Gute Idee. Die Situationen ist in den Regionen wie auch in einzelnen Städten und Landkreisen recht unterschiedlich. Und der Bund ist nicht mal selber an der Quelle, und kann den Zuzug selber nur schwer kontrollieren. Hier kann die EU sehr viel mehr.

    Wenn man in ganz Europa die Regionen fragen würde, wer wie viele Einwanderer von außerhalb der EU haben will, dann könnte man dieses zusammenzählen und dann versuchen, genau so viele Menschen nach Europa einreisen zu lassen. Um sie dann sofort dahin zu verteilen, wo sie willkommen sind.

    Wenn deutlich mehr kommen, als nachgefragt werden, dann müsste man das Mittelmeer besser kontrollieren, und Flüchtlingsboote aufhalten und zu dem Strand zurückbringen, wo sie her gekommen sind. Wenn das nicht reicht, könnte man zusätzlich die Nordafrikanischen Länder dafür bezahlen, dafür zu sorgen, dass weniger Boote mit Flüchtlingen überhaupt erst die Fahrt wagen.

    Sollte das funktionieren, dann bekommt jeder soviele Flüchtlinge, wie er haben will.

    „Doch es sind eben Entscheidungen vor Ort, durch die Menschen, die es betrifft.“

    Vielleicht könnte man auch in den Nordafrikanischen Ländern Stellen einrichten, wo sich Flüchtlinge bewerben können. Von mir aus kann dann auch ein Vertreter der Landesregierung z.B. von BW sich die Leute gezielt aussuchen, die er haben will. Die können dann gleich per Flieger ins Land kommen, und müssten nicht noch Unsummen für Schleuser aufbringen und ihr Leben bei der Überfahrt aufs Spiel setzen.

    Was anderes ist die innereuropäische Freizügigkeit. Die bringt für uns selbst ziemlich viel Freiheit, das möchte ich nicht unbedingt missen. Das muss uns jetzt aber nicht davon abhalten, ganz gezielt die Wirtschaft in den Abwanderungsregionen noch mehr zu fördern. Und wir müssen auch nicht jeden Betrieb, der hier wegen Arbeitskräftemangel zu machen will, davon abhalten. Immerhin sind diese Arbeitsstellen dann auch weg.

    Der Sog von freien Arbeitsplätzen ist recht unwiderstehlich. Besser, man bringt die Arbeit auch mal dahin, wo die Leute wohnen.

    Umso mehr würde ich mich um die 2. Generation der Einwanderer kümmern. Hier im sozialem Brennpunkt in der Dortmunder Nordstadt ist die Situation in den Grundschulen ziemlich schwierig. Über die Hälfte der Kinder kommt praktisch ohne Deutschkenntnisse in die erste Klasse. Das stört den Unterricht nach Lehrplan ganz erheblich. Und es betrifft auch die Kinder, die Deutsch können. Die weitere Schulische Laufbahn leidet dann bei vielen ziemlich.

    Vielleicht sollte man die Schüler ohne Deutschkenntnisse erstmal ein oder vielleicht zwei Jahre nur in Deutsch unterrichten, bevor sie mit den anderen Schülern, die Deutsch können, zusammen in die 1. Klasse gehen. Das dürfte die Erfolgsaussichten auf vernünftige Schulabschlüsse bei allen Beteiligten deutlich erhöhen.

    Die Kinder von Migranten hätten dann zwar ein oder zwei mehr Schuljahre vor sich, aber dafür dann viel größere Chancen auf eine gute Ausbildung.

    • Danke, @Tobias

      Da die Dynamik von Davos, Kanton Graubünden, Schweiz auch hier erkennbar europaweite Aufmerksamkeit findet, möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf den EU-Verbund der EUSALP-Makroregion zu verweisen:

      https://alpine-region.eu/

      Ich hoffe sehr, dass auch diese Institution die Bedeutung des jüdisch-christlich-humanistischen Geschehens in Davos erkennt und die Beteiligten unterstützen wird. So fände ich es großartig, wenn die EUSALP neben dem jährlichen World Economic Forum (WEF) zum Jahresbeginn etwa im Frühjahr ein European Religions in Dialogue Forum (ERDF) in Davos ausrichten würde. So könnte der Ort mit seiner besonderen Geschichte und engagierten Bügerschaft gewürdigt und unterstützt, zugleich etwas für den auch interreligiösen Frieden und die Kultur des Miteinanders erreicht und geleistet werden. Und über interreligiös ansprechende Orte wird in Davos bereits seit Längerem diskutiert.

  8. @Michael 18.08. 11:08

    „Ich hoffe sehr, dass auch diese Institution die Bedeutung des jüdisch-christlich-humanistischen Geschehens in Davos erkennt und die Beteiligten unterstützen wird.“

    Entsprechende offene Dialoge wären in der Tat hilfreich. Das kann aber vielleicht auch noch weiter reichen. Es gibt auch noch den Islam sowie östliche Weltreligionen und hier und da auch noch heidnische Reste, die m.E. durchaus interessant sein können.

    Auch bin ich mir unsicher, ob ich mich als Humanist sehen kann. Ich bin definitiv unreligiös, aber baue natürlich auf dem christlich-jüdischem Europa auf, hier bin ich aufgewachsen. Ich bin aber eigentlich doch einfach nur ich selber.

    „..zugleich etwas für den auch interreligiösen Frieden und die Kultur des Miteinanders erreicht und geleistet werden.“

    Wenn die grundsätzliche Einsicht da ist, dass man seine Geisteswelten recht persönlich einschätzt, und anerkennt, dass die bei Anderen recht verschieden ausfallen kann, dann kann man in der Tat miteinander reden.

    Und das kann dann Horizonte eröffnen. Wobei man am Ende sogar erkennen könnte, dass die Wirklichkeit für nur eine Religion viel zu groß ist. Die Wirklichkeit passt in eine einzige Weltanschauung gar nicht rein.

    Auch nicht in die Wissenschaft alleine. Nur mit Wissenschaft allein kommt man nicht wirklich aus, so wichtig wie das ist. Die Wissenschaft sucht nach Allgemeingültigem, mit Erfolg. Aber es ist eben nicht alles allgemeingültig, z.B. das eigene Seelenleben macht da öfter einfach nicht mit. Wenn man das nicht anerkennt, kann der Dialog ziemlich schwierig werden.

  9. Sascha Lobo hat mal wieder einen hervoragenden Kommentar veröffentlicht.

    Die Parallelen zwischen Rechtsextremen und Islamisten liegen offen da, man hätte sie insbesondere von links erkennen müssen. Doch Teile der Linken reagierten nach jedem islamistischen Attentat mit Abwehrreflexen. Bis jetzt.

    Hier kommt eine der Absurditäten der europäischen und eben auch Teilen der deutschen Linken zum Tragen: die völlige Ignoranz gegenüber islamistischem Imperialismus, Kolonialismus und Terror. Gerade nach dem 7. Oktober war zu beobachten, dass von links der islamistische, antisemitische Eroberungsterror ignoriert, verharmlost, beschönigt oder gar gutgeheißen und »supportet« wurde. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Eine der widerlichsten, falschesten, menschenfeindlichsten Umdeutungen lautete : »Was dachtet ihr, wie Dekolonisierung aussieht?« Eine faschistische, vollkommen realitätsaverse Haltung, die auch in Europa beobachtet werden konnte. Die Hamas hat diese Pseudo-»Dekolonisierung« in Form des Massenmords samt Massenvergewaltigung an vor allem jüdischen Zivilist:innen weltweit bei Muslimen wie bei Linken vermarktet. Mit verstörendem Erfolg. Die Hamas folgt einer zutiefst rechtsextremen Ideologie. Sie beinhaltet
    – die Beschneidung von Frauenrechten samt
    – Fixierung auf Frauen als »Gebärmaschinen«,
    – Homo- und Transphobie sowie Hass auf alles Nicht-Binärgeschlechtliche,
    – die Bereitschaft, Menschenleben zu opfern,
    – den Mythos der eigenen Überlegenheit samt Abwertung der Andersartigkeit,
    – offenen Rassismus (ja, auch Islamisten sind knallrassistisch),
    – die Ablehnung der Vermischung außerhalb der eigenen ethnischen oder religiösen Gruppe,
    – die Vorstellung einer Art Endkampf, in dem es um alles gehe und deshalb auch alles erlaubt sei
    – und nicht zuletzt natürlich Judenhass.

    https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/mordanschlag-in-solingen-diesmal-koennte-sich-tatsaechlich-etwas-aendern-kolumne-a-7a954bd2-b496-4fe4-8900-f2755743c3d3

  10. @RPGNo1
    28.08.2024, 17:40 Uhr

    Solange Dir klar ist, dass über alles gesehen Antisemitismus kein konstitutives Element linker Weltanschauungen ist ^^ Das ist in meinen Augen nämlich eine Vorstellung die auch bei Sascha Lobo so ein bischen immer mit durchscheint…
    Wenn Du mal in die Geschichte guckst zeigt sich, dass der Kampf gegen Antisemitismus zumeist von links stattfand und etwa von antifaschistischen, kommunistischen oder sozialdemokratischen Organisationen oder Parteien getragen wurde, alldieweil sich die hochgelobte bürgerliche Mitte wenn sie sich nicht beteiligte so doch eher durch zugucken auszeichnete.
    Ich denke das werden uns die Landtagswahlen wieder mal eindrücklich vorführen was da so an Widerstand gegen Faschisten aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Die zeichnet sich ja gegenüber BSW und AfD nicht gerade mit entschiedenem Widerstand aus.
    Ganz klar tritt aber Antisemitismus in unterschiedlichen Formen und aus unterschiedlichen Gründen heraus auch in Teilen der politischen Linken auf. Das hat sogar Konstanz, man schaue nur mal bei Bakunin.
    DIe Vorstellung, Linke seien grundsätzlich frei von gesamtgesellschaftlichen!!! Denkweisen wie Rassismus, Antisemitismus oder selbst Sexismus finde ich so absurd wie die Vorstellung in Israel könnten keine Rechtsextremen leben. Wo sind wir denn hier? Sind doch alles Menschen, da kann man sich ausrechnen das das auch vorkommt.
    Problematisch sind immer wieder identitäre Vorstellungen. Wenn man als Linker zB Kapitalismus als Herrschaftssystem nicht als systemisch und apersonal begreift, wird man immer wieder bei gegenüber bestimmten Gruppen totalitären Vorstellungen landen.
    Solange die Linke nicht grundsätzlich dahin findet das es gerade identitäre Vorstellungen, die eben die extreme Rechts so auszeichnen, sind die am langen Ende zu Handelungen führen, welche einfach grundsätzlich mit Humanismus nichts mehr zu tun haben, solange wird das nichts mit der besseren Welt.
    Seitdem die Linke (die dazu zugegebnermaßen immer schon einen Hang hatte aber halt nicht als grundsätzliche Nummer so wie die Rechte oder gerne auch mal die sogenannte Mitte ^^) sich nicht von dem ganzen identitären Murks verabschiedet, solange wird es linken Antisemitismus geben.
    Die Vorstellung Israel sei grundsätzlich imperialistisch, durch und durch rassistisch und betreibe eine koloniale Expansionspolitik ist identitär. Genau wie der Antamerikanismus identitär ist.
    Die Stimmen jüdischer AktivistInnen sowohl in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart, die immer wieder darauf hinwiesen, wie zwingend es für linke soziale Bewegungen ist, in Debatten auch den möglichen eigenen Antisemitismus oder Rassismus zu hinterfragen bekommen leider viel zu wenig Lautsprecher.
    Genauso wie Berichte auch zB über die israelische Zivilgesellschaft, die ist oft genug linker und wiederständiger als das was sich so bei unseren Linken tummelt, gerade da sollte sich unsere Linke mal eine Scheibe abschneiden…
    Benjamin Netanjahu ist eigentlich weder das personifizierte Judentum noch die Personifizierung israels. Der ist einfach etwas das ich jetzt nicht näher beschreiben möchte. Und eben auch identitär…

    So, jetzt könnt ihr mich verprügeln 🙂

  11. Nun ist ein TV-Beitrag eines Schweizer Senders zur Situation in Davos erschienen, in dem ich auch mehrfach zu Wort komme. Ich kann diese Sendung nur sehr empfehlen und meine, dass sie zum Dialog zwischen dem ultraorthodoxen Judentum und der Schweiz Wertvolles beiträgt:

    https://www.rtr.ch/play/tv/cuntrasts/video/malchapientscha—tavau-e-ses-giasts-gidieu-ortodoxs?urn=urn:rtr:video:7f359d58-1b4d-421d-89c8-37ef9b9fcd41

    Da ich ja oft Medien zu kritisieren habe, möchte ich hier ausdrücklich würdigen und loben, wieviel Mühe sich das RTR-Team hier gemacht und wieviel Zeit es sich genommen hat! So geht auch kritischer Dialog, genau so.

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