Das Hare Krishna-Mantra als Beispiel (bio-)kultureller Evolution von Religion
BLOG: Natur des Glaubens
1965 erreichte Bhaktivedanda Swami Prabhupada aus Indien die USA. Bei sich hatte er hinduistische Schriften und überlieferte Ritualtechniken der Krishna-Bakhti, der auch aus der Auseinandersetzung mit den monotheistischen Religionen entstandenen, hingebungsvollen Verehrung des Einen Gottes in der Personifikation Krishnas. Er begründete die International Society for Krishna Consciousness (deutsch: Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein), die unter den gerade intensiv nach Sinn und Erfahrungen suchenden jungen Menschen des Westens rasante Verbreitung erfuhr, Öffentlichkeit und Kirchen schockierte und in Deutschland als "Jugendsekte" und später "neureligiöse Gemeinschaft" bezeichnet wurde.
Die rasante Ausbreitung und den noch schnelleren Verfall der Krishna-Begeisterung, die in gemeinschaftlichen Sankirtans, dem rituellen Chanten des Hare Krishna-Mantras, ausgedrückt und verbreitet wurde, haben Rüdiger Vaas und ich in "Gott, Gene und Gehirn" als Fallbeispiel besprochen. Hier ein Rückblick auf die tranceartigen Masseekstasten, die das Chanten z.B. in San Francisco auslöste. Der betagtere Herr inmitten der Kinder und Chantenden ist Swami Prabhupada, der 1977 verstarb und heute in den Tempeln ebenfalls verehrt wird.
Woher die Wirkung?
In seiner frisch veröffentlichten Masterarbeit an der Universität Leipzig (zum Download hier) untersuchte der Religionswissenschaftler Daniel Böttger religionspsychologisch, ob von der Wortgestalt des Mantra selbst eine emotionale Wirkung ausging. Würde es einen Unterschied machen, ob jemand "Hare Krishna, Hare Rama" oder zum Beispiel "Horu Krushno, Horu Romu" chantet? Wie Sie in einem kurzen Selbstversuch feststellen können, erfolgt die Aussprache je heller oder dunkler Vokale tatsächlich über sehr unterschiedliche Gesichtsarbeit – und wirkt wiederum auf die emotionale Erfahrung zurück. In einem religionspsychologischen Experiment mit sehr unterschiedlichen Probanden konnte Daniel diesen Effekt nachweisen – und hat die Befunde auch in einem Videoclip aufgearbeitet und vorgestellt.
Die Forschungsarbeit liefert damit einen weiteren Beleg dafür, wie sich religiöse Systeme im Rahmen der (bio-)kulturellen Evolution und der Auswahl und Neukombination erfolgreicher (hier: beglückender) Elemente selbst organisieren. Sie verweist außerdem auf die evolutionsgeschichtlich enge Verbindung von Religiosität und Musikalität.
Dies stellt keine Reduktion dar – selbstverständlich erhalten Rituale weitere Wirkungsschichten etwa über gemeinschaftlich tradierte Erzählungen und Vorstellungen: im Falle Krishnas und seiner Gattin Rhada etwa den attraktiv-exotischen, bildlichen Darstellungen in Tempeln und Schriften, Krishnas Unterweisungsrede als Streitwagenlenker des Helden Arjuna auf dem Schlachtfeld in der Bhagavat Gita, Krishnas erotischen Spielen mit den Hirtenmädchen (als Symbol der kosmischen Seinsbegründung aus dem Wunsch nach transzendenter, erfüllender Begegnung) usw. Da Krishna zudem als eine (wenn auch zentrale) Inkarnation des Einen Gottes (hier: Vishnu) vorgestellt wurde, konnten christlich sozialisierte Chantende die anrufende Verehrung auf den ihnen bereits bekannten Gott beziehen, von dem, so der als Kind an einer christlichen Schule unterrichtete Swami, auch Jesu ausgegangen sei.
Wie tief und weit der Einfluss der Chantenden und zu Tausenden verteilten Bücher und Schriften reichte, belegt sinnigerweise auch der Begründer der modernen Soziobiologie, Edward O. Wilson, der sein gleichnamiges Hauptwerk 1975 mit einem (theologisch wie wissenschaftlich überzeugend gewählten) Krishna-Zitat aus der Bhagavad-Gita einleitete.
Hare Krishna heute
Nach einem starken Aufblühen brachen die Krishna-Sankirtans wie auch andere, aus Indien übernommene Bewegungen in den 70er und 80er Jahren aufgrund von Überforderung der Mitglieder, offenkundigen Widersprüchen zwischen Theorien und Praxis sowie Vorwürfen finanzieller und auch sexueller Ausbeutung Glaubender im Westen wieder ein. Doch kleinere ISKCON-Tempelgemeinschaften überlebten und orientierten sich in teilweise modernisierten und stärker dialogorientierten, die Bedeutung von Familien und Frauen tendenziell stärkenden Prozessen um. Über Musik, Filme und Musicals (vor allem Hair) wurde das Hare Krishna-Mantra zudem popularisiert und ist heute wahrscheinlich auch den meisten Europäern als ein zwischen inniger Religiosität und verklärter Gaudi schillerndes Element bekannt. Und so erleben Krishna-Gemeinschaften unter den neuen, wieder unbefangeneren Generationen derzeit ein gewisses Revival und bisweilen gar die spontane Beteiligung Umstehender, wie hier bei einem Sankirtan am Times Square in New York.
Die Evolution von Religiosität und Religionen geht weiter (Artikel zum Download hier) – und auch das letzte Mantra scheint noch lange nicht gechantet.
Sehr hübscher Beitrag, Michael
Gibt es eigentlich konkrete Hinweise dafür, dass das Mantra tatsächlich im Laufe der Zeit gewandelt hat? Schließlich sollte man vermuten, dass der Sprung in den Westen das Wesen der Religion maßgeblich verändert hätte.
Schließe mich Lars an….
sehr schöner Beitrag….für mich steckt hier auch sehr wieles drin, was mit wissenschaftlichen Methoden schwer erfassbar ist:Sehnsucht nach Zuneigung, Zuwendung, Gemeinsamkeit, Liebe…..die Suche nach Lebensglück und Lebenszufriedenheit…..zufriedenes “In-Sich-Ruhen-Wollen”, das Leben und Glück miteinander teilen, liebevolle Gemeinschaft erleben, anerkannt und geliebt werden…..etc.etc.
Was meinst Du?
@ Lars Fischer
Danke für die ermutigende Rückmeldung!
Das Mantra selbst findet sich bereits in den Upanischaden, ist also (mindestens) viele tausend Jahre alt. Allerdings blieb es lange in größere Rituallkomplexe eingebunden und wesentlich den Brahmanen vorbehalten.
Als jedoch Islam (nicht zuletzt in seinen sufischen Formen) und Christentum (nicht zuletzt mit Sozialwerken den traditionellen Hinduismus im 16. Jahrhundert missionarisch und auch intellektuell immer tiefgreifender heraus zu fordern begannen, reagierte Chaitanya Mahaprabhu mit einer Reformlehre: Vishnu-Krishna wurden zu zentralen Manifestation des Eingöttlichen (Heno- fast Monotheismus), die Bhagavad Gita zu einer Art zentralen, heiligen Schrift, das Mantra-Chanten, die Auslegung und später auch das gemeinsame Speisen zu einem die Kasten sprengenden Ritual. Und dieses Neuarrangement erwies sich (gegen den Widerstand vieler Brahmanen!) als sehr erfolgreich – zumal der im 20. Jahrhundert einsetzende Zustrom von Aufmerksamkeit und Geld aus dem Westen die Bhakti Yoga-Bewegungen auch in Indien vitalisierte.
Deine freundliche Rückmeldung hat mich jetzt übrigens auf den Gedanken gebracht, die Geschichte und Wirkung weiterer Elemente wie der Gebetskette in einem kommenden Beitrag aufzugreifen. Danke dafür! 🙂
@ Monika: Zustimmung!
Liebe Monika,
ich stimme Dir da völlig zu – Religionswissenschaft erforscht ein absolut komplexes, letztlich mit allen Aspekten menschlichen Seins verbundenes Phänomen. Gerade das macht es so spannend und lohnend, immer wieder sorgfältig einzelne Elemente empirisch zu erforschen und nach und nach in umfassendere Theorien einzubetten. Die Evolutionsforschung (die letztlich empirische und historische Perspektiven auf Basis eines naturwissenschaftlichen Modells zu überprüfbaren Hypothesen verbindet) scheint derzeit einige Durchbrüche zu ermöglichen. Leider sind jedoch bisher zu wenige Religionswissenschaftler fit darin, Daniels Arbeit ist auch deswegen ein Schmuckstück – und ich bin mir sicher, dass wir von ihm noch viel hören, sehen und lesen werden!
@Michael: Evolutionsforschung
Ein Lesetipp: Heiner Mühlmann: Jesus überlistet Darwin (Springer, Wien New York 2007). Laut Klappentext eine leicht lesbare und verständliche Einführung in die darwinsche Theorie der Kulturevolution. Für einen Nichtfachmann und interessierten Laien wie mich aber gar nicht soo leicht.
@ Harald: Danke!
Das sieht tatsächlich nach einem interessanten Buch aus! Danke für den Hinweis!